Timm Kröger
Aus alter Truhe
Timm Kröger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

»Wir nehmen die Schimmel«, erklärte Martin, »reiten kannst du ja ganz gut, das bringt uns rascher und heimlicher aus dem Dorfe als Fuhrwerk. Morgen früh halb vier halte ich bei der Sternkate am Drehkreuz hinter den Tannen. Die Pferde stellen wir in Hamaschen bei Gastwirt Ihmsen ein, von Altona aus schreiben wir alles ... Klaus ist noch nicht zurück, das ist mir in gewisser Hinsicht lieb, ich lege ihm einen Zettel hin. Mit deiner Mutter scheint mir, machst dus ebenso. Es ist ja nicht auf ewig. – Punkt halb vier halte ich mit den Schimmeln im Redder hinter den Tannen vor dem Drehkreuz.«

 

Ihr Entweichen hatte etwas von Flucht an sich ... man kann es geradezu so nennen. Sie ritten eine abgelegene Straße hinter dem Wiesenweg um die sogenannte Kirchhofskoppel herum. Auf diese Weise trafen sie keine andre Wohnstätte als Kühls Instenkate.

Es war ziemlich dunkel, der Tag graute kaum, und die Luft hing voller Rauch und Nebel. Bei der Kirchhofskoppel brach ein Tier aus dem Knick und sprang in großen Sätzen davon. Die Pferde scheuten, Martin aber zwang nicht allein seinen Gaul, sondern brachte auch des Mädchens Roß mit raschem Griff zum Stehen. Und in demselben Augenblick löste sich im Dorf der erste Hahnenschrei.

Die Flüchtlinge sprengten weiter ... sie dachten ... der eine an Klaus ... die andre an die Mutter ... und dachten an den Schreck, wenn die die Zettel fänden ... Dem Mädchen ziehts wie Frostschauer durch die Glieder.

Aber nun ist alles vorbei ... Sie sind schon bei der Brücke. Martin stieg ab und gab Elsbe die Zügel. »Behalt einen Augenblick!« sagte er. »Ich will sehen, ob wir nicht hinüberklettern können. Können wir, dann lassen wir die Schimmel nach Hause traben und gehen zu Fuß.«

Er drückte sich durch das Lattenwerk (die Bauleute waren noch nicht da) und tappte vorsichtig die Bohlen entlang. Das Geländer war weg, eigentlich waren nur noch Balken da, überall klaffende Lücken; einige mal mußte er weit ausschreiten, Löcher zu nehmen, bei dem vorletzten Pfeiler gähnte ihn die breite Leere an. Der Strom drängte sich schwarz und unheimlich, leise brodelnd und drohend, an dem steilen Faschinenufer hin.

»Das geht nicht« erklärte Martin, als er durch die Latten zurückgekrochen kam. »Das geht nicht, wir reiten über Todendorf.« Wortkarg ging es weiter, immer an der Höhe hin. Die breiten Nebel, die auf den feuchten Wiesen lagen, begannen sich von der Nacht zu trennen – der Weg, den die Reiter verfolgten, lag in höherer Ebene ... so übersahen sie die ziehenden, die wogenden Wellen.

Bei Bockhorst, einem Hof nicht weit vor Todendorf, ist ein schmaler Nebenarm der Au durch ein Steinsiel überwölbt. Den Reitern war bis dahin noch keine Spur wacher Menschen aufgefallen, die Leute von Bockhorst aber hatten die Augen aufgetan. Ein alter Knecht ging schläfrig in Holzstiefeln über den Hofplatz und sah staunend die Schimmel und ihre Reiter. Stumm blieb er so lange, wie nötig war, die Erscheinung seinem Verstandeskasten zu übermitteln und Anweisung daher zu empfangen. Dann rief er: »Hoi!« und winkte mit der Hand.

Die Reiter hielten an. Da ging er langsam bis zum Hektor und fragte: »Nu, wohin mit der Mamsell zu Pferde, wenns erlaubt ist zu fragen?«

»Nach Todendorf und Seefeld.«

»Da kommt ihr nicht durch.«

»Warum nicht?«

»Da ist die Artillerie zu Gange.«

»Der Weg ist ja nicht gesperrt!«

»Jawohl ist er gesperrt.«

»Hat unser Bauernvogt nicht gemeldet.«

»Da kann ich nichts über sagen, aber gesperrt ist er.«

»Das wäre der Teufel!«

»Da kann der Teufel auch nichts an ändern.«

»Wahr oder Spaß?«

»Spaß? Ist das Spaß?«

Vor ihnen auf der Heide blitzte ein Feuerstrahl auf. Ein Knall ... ein Geräusch ... Pfju–u–u! Das Einschlagen eines scharfen Geschosses.

»Verdommig!« fluchte Uhrhammer Unteroffizier der Artillerie. »Teufel nochmal – das kenne ich, die schießen scharf.«

B–pfju–u!

»Verdommig!« wiederholte Martin Uhrhammer. »Da können wir nicht durch.« Es krachten ganze Salven.

»Sollst Dank haben«, sagte Martin zu dem Knecht.

Sie ritten zurück, und als sie den Hof hinter sich hatten, fing Martin an: »Durchs Dorf, und dann den Langweg längs, das geht nicht. Elsbe... hast Mut?«

»Solang du bei mir bist, Martin, einen ganzen Berg.«

»Dann reiten wir durch den Hechtsee.«

»Hechtsee?«

»Hast Bange, Elsbe?«

»Nicht für zwei Schillinge.«

»Denn man los!«

Da trabten sie in der Richtung nach dem Hechtsee – ein donnerndes Manövergefecht im Rücken.

 

Der alte Fährdamm wäre fester gewesen als der Richtweg am Austrom längs über die Wiesen. Der ging über Moorboden und dünne Grasnarben, jetzt war er durch Regen aufgeweicht. Die Durchbrenner wählten aber doch, um rascher fortzukommen und weil er einsamer war, diese Straße.

»Büst bang, Elsbe?«

»Garni, Matten!«

Sie trabten rasch – rechts flogen und links flogen und über die Kopfe der Reiter flogen Schmutz und Rasenstücke.

»Kannst dich halten, Elsbe? Wenn du fühlst, daß du schief kommst, dann faß Lott in die Mähnhaar!«

»Ich kann mich halten, Matten.«

Jeden Augenblick fragte Martin: »Büst bang, Elsbe?« Und immer antwortete Elsbe: »Garni!«

Zu ernten war auf den Wiesen nichts, Kühe und Jungvieh noch nicht da, Hecken und Tore überall offen, und alles flach und grau und leer.

Der Wind war aufgekommen, der Nebel zerrissen, verjagt. Aber alles war flach und feucht und grau und einsam.

»Sieh, Elsbe«, bemerkte Martin und zeigte auf ein Segel, »da ist die Eider.« Der Wimpel regte verdrossene Flügel und Falten, ein Segel rollte auseinander – aber es war grau wie die Welt ringsumher.

»Elsbe, siehst du – ein bißchen rechts – da steht die Eiche, und die Binsen sind auch dabei.«

»Ich seh, Martin.«

»Und weißt du, was das ist?«

»Das ist der Hechtsee.«

»Elsbe, hast Bange?«

»Gar nicht, lieber Martin.«

Der Austrom schlängelte sich bald nah, bald fern. Und wenn er nah war, dann sah man den dunklen trägen Strom. Er hat wenig Gefälle, hat immer was Lässiges und Faules und immer was Düsteres. Er fließt und quillt über Morast und Moor. Es ist eine träge und doch eine große Gewalt, eine in ihrer schleimigen Langsamkeit unheimliche, nach dem Hechtsee hinstrebende Gewalt... Nun fiel auch der Wind in des Stromes Binsenrahmen ein. ›Ein tolles Stück‹, rauschte er, ›bei dem Wetter durch den Hechtsee zu reiten.‹

Martin und Elsbe ritten weiter und hielten bald auf Hans Horns Bultwiese bei dem kleinen Eichbaum. Die Kanonenschläge fielen seltener, sie unterstrichen aber ein Infanteriegeknatter, das wie Klappbüchsenschüsse einer Knabenschlacht herüberdrang.

Falkenstein sah man kaum, und von dem Scheuerpfahl am andren Ufer gar nichts. Martin Uhrhammer war abgestiegen und hatte einen Eschenschaft aus Hans Horns Bultenwiesenhecktor gezogen. »Den nehme ich mit, da haben wir was zum Vorfühlen.«

Martin Uhrhammer stand und hielt die Stange in der Hand. Es war der erste ruhige Augenblick.

Zum ersten mal sah Martin nach Altenhof und nach seinem Dorf zurück. Im Osten kam ein Lichtschein auf und bestrahlte das von der Höhe weich herabfallende, hinter dem Dorf belegene Waldgehege. »Elsbe, dreh dich mal um!«

»Warum, Matten?« Sie tat aber, wie Martin gesagt hatte.

»Wie ist der Wald so schön, Elsbe!«

»Ja, Matten, das sag man mal.«

»Und die Häuser all. Der große Knäuel ist Altenhof, links etwas höher ein Tüpfel ... das ist euer Haus ... Nun weiß es die Mutter, und auch Klaus weiß es, wenn er nach Hause gekommen ist.«

»Ja, Martin.«

»Sieh noch mal hin, es ist vielleicht das letzte mal!«

»Ja, Martin.«

»Wolln wir auch lieber hier bleiben, Elsbe?«

»Man ja nicht, Matten!«

»Denn man zu.«

Martin stieg aufs Pferd, das Eschenholz behielt er in der Hand. Und dann ritten sie hinein.

Und als die Rosse die ersten Wasserspäne aufwarfen, fragte Martin noch mal: »Büst bang, Elsbe?«

»Nä, garni!«

»Elsbe, das Wasser ist höher, als ich gedacht habe.«

»Das macht nichts.«

»Denn man rein!« Er auf dem flüchtigen Handpferd, Elsbe auf dem frommen Leitpferd.

Sie ritten hinein und der Wind jagte hinter ihnen her. Da sonnten sich keine Weißfische und keine Gründlinge im seichten Binsenwasser, und kein Hecht schoß mit langer, hurtiger Welle ins Weite. Aber weiterhin (es klang weit her), da hörte man wilden Vogelschrei, und in den Binsen sah man die Köpfe eines sich auf dem Wasser wiegenden Entenvolks.

Sie ritten hinein und der Wind jagte hinter ihnen her. Und Schilf und Binsen gaben ihren Rat und ihre Meinung dazu. Alle bückten sich, kamen wieder hoch, um sich noch tiefer zu neigen. Ein Schilfbeet gab es dem andern kund, und in kurzer Zeit rauschte um den ganzen Hechtsee her die Mär, ein junger Bauer und sein Mädchen reiten hinein, um auf den Wurzeln der Sandadern durch den See zu kommen.

»Den Grund kann man nicht sehen. Da muß ich fleißig mit dem Reck vorfühlen«, bemerkte Martin. – »Elsbe, guck nach dem Grasfleck aus, da müssen wir hin! – Elsbe, im Grassteck warst du so lieb gegen mich.«

Elsbe wurde rot. »Es war nicht im Gras«, sagte sie, »es war etwas dahinter.«

Langsam ging es weiter. Ein paar mal kamen sie durch tiefe Stellen und kriegten nasse Füße. Martin hatte immer gerufen: »Elsbe, zieh die Füße hoch und hol die Röcke nach!« Es war aber zu plötzlich gekommen, nun hatte sie die Füße naß. Seine Stiefel waren dicker. »Schröder-Ohm soll trockene Strümpfe geben«, tröstete er.

»Nun haben wirs, da ist unser Grasfeld, nun reiten wir ganz leise und ganz vorsichtig ... ganz sachte ... so ganz pe-a-pe ... hinein.«

Und als sie mitten drin steckten, drängte er sein Pferd an Elsbe hinan. »Hab mich lieb!« befahl er.

»Es ist gar nicht das richtige Gras«, protestierte Elsbe.

»Das ist einerlei.« Da bekam er. »Mehr!« befahl Martin Uhrhammer. Da bekam er wieder. Er bekam noch ein paar mal. »Nun ists genug!« entschied Elsbe.

Sie ritten weiter. »Martin«, rief Elsbe plötzlich, »es war wirklich nicht das richtige. Sieh links ... ein bißchen zurück... da liegts!«

»Ich glaub, du hast recht«, erwiderte Martin.

Die Schimmel wollten weitergehen, wurden aber ängstlich und schnoben.

»Guck, Martin, am Ufer sind Leute!«

Martin sah hin, Hand über die Augen. »Hast wieder recht. Und ich müßte mich sehr irren, wenn das nicht Kassen und sein Sohn Peter wären.«

»Sie zeigen nach links, wir sollen links reiten.«

»Gut – also links.«

Martin trieb Fanny an und fühlte mit der Eschenstange vor. Aber Fanny war unsicher, und die Stange ging ins Unergründliche. »Dann hilft das nicht.« Er stieg ab und stand bis zur Hüfte im Wasser.

»Martin, was machst du?«

»Geht nicht anders. – Kassen-Ohm muß uns was Trockenes geben. Ich geh mit der Stange voran. Mir nach, Elsbe, immer mir und meinem Schimmel nach! Ich führ mein Pferd am Zügel. Wo ich hinfühle, ist Grund. Und zieh die Füße und Röcke hoch! – Wir reiten auf einem ganz schmalen Strich. Links geht es schräg ab, rechts steiler. – Sieh mal, wie das Wasser brodelt ... da nicht hinein! – Aber, wenn das Ärgste geschieht, wenn Lotte ins Schwimmen kommt, dann fest in die Mähne greifen, noch besser um den Hals klammern, sonst treibst du ab!«

Und wieder hielt Martin still. »Elsbe, ich mag es so gerne hören; es ist vielleicht das letzte mal. Hast mich lieb?«

»Für tausend Taler, Jung.«

»Und bist bang?«

»Nicht fürn Dreiling.«

Kassen-Ohm und Peter zeigten noch immer. Sie wiesen jetzt nach dem andern Ufer hin, riefen auch was. Martin sah hin, wo sie hergekommen waren, Elsbe auch. Da sahen sie – weit weg, am heimischen Ufer, da stand jemand. Der winkte und schrie etwas herüber. Der Wind brachte aber nur Verhallendes.

Es war der Klüterer. Er stand auf Hans Horns Bultwiese bei der Eiche. Und die Binsen schüttelten darüber, daß Klaus Uhrhammer seinem Bruder nachrannte, die Köpfe, noch mehr darüber, was der Klüterer, der Bastler, über den See hinausschrie.

Er rief: »Martin!« rief er, »Elsbe!« rief er, »komm zurück! Ihr sollt Altenhof haben. Ihr sollt alles, alles haben! Ich suchte das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, ihr seid für Altenhof die Quelle der Kraft. – Ihr sollt alles haben, laßt mich nur nicht allein! Was soll ich mit dem Hof, wenn ihr nicht da seid? Was frag ich nach dem Hof? Ich will nicht ackern, ick will nur klütern und grübeln und erfinden. Der Arbeiter ist seines Lohnes wert. Und du allein, Martin, du allein arbeitest, du allein hast den Hof verdient. – Was tu ich mit dem Gesetz, was mit dem Anerbenrecht? Das bringt mir keine Liebe, das kocht mir keine Suppe, das Gesetz schafft mir kein Behagen, baut mir keine Klüterkammer. Was geht mich die Ordnung mit dem Anerberecht an?«

So rief Klaus, einiges laut über das Wasser, anderes still in sich hinein.

Und das nicht allein. Klaus Uhrhammer rief weiter: »Ich liebe dich, Bruder! Ich liebe auch dich, die du die Frau meines Bruders sein wirst! Hier steh ich, ein armer Klüterer, der sich nicht zu helfen weiß. Martin, Elsbe, kommt zurück!«

»Sollte das nicht Klaus sein?« fragte Elsbe. »Hör mal: ist nicht, als ob er nach uns riefe?«

Martin und Elbe horchten.

Und wie beide horchten und nicht auf die Pferde acht gaben, geriet Elsbes Schimmel in den tiefen, treibenden Priel. Martin hörte einen Schrei ... sah hin ... sah nur Kopf und Hals des schwimmenden Pferdes, von der Reiterin sah er nichts. Da ließ auch er die Zügel und tauchte in den Strom, seine Braut zu suchen.

Kassen-Ohm stand am Ufer und wußte nicht, was machen. Er konnte nur seufzen und klagen: »Herr Jeeß, Herr Jeeß, sie sind in die große Kuhle gekommen, sie vertrinken vor unseren sichtlichen Augen!« Der Junge aber sprang ins Wasser und watete auf die Unglücksstelle zu. »Vater«, rief er diesem zurück, »das hat nichts zu sagen, Martin war der beste Schwimmer bei unserer Kompagnie, er wird sie schon kriegen. Sieh mal, er hat sie schon. Da kommt er mit ihr angeschleppt.« – »Hierher«, schrie er ins Wasser hinein.... »Ich helf tragen!« Und zu dem Alten: »Vater! Geh nach Haus, es müssen Betten warm gemacht werden.«


 << zurück weiter >>