Timm Kröger
Aus alter Truhe
Timm Kröger

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Sturm und Stille

»Wat dat Water blänkert«, sagte ein alter, in der Zimmerecke rauchender Mann.

Die Stube hatte zwei Fenster. Das eine wurde von einem knarrenden, gegen den Westwind sich wehrenden Eichbaum verdunkelt, das andere hatte freieren Blick. Man sah wehende Pappeln am Weg; sie waren vor Jahren abgesägt worden, grünten nun aber wieder in langen, jungen Sprossen auf. Nur eine stand so, wie die Natur sie geschaffen hatte. Ihr Wipfel flatterte wie eine Fahne, der Stamm (er war nicht sehr stark und auch nicht schön) bog sich nach dem Wind.

Und an den Pappeln vorbei sah man über Nachbarhöfe hinweg ins Feld. Weit weg, hinter den von Knickhagen eingefriedigten Koppeln, gewahrte man ein rechts und links ins Weite fliehendes Autal, der Wiesenboden gelbgrün, wie er im Herbst bei nassem moorigem Grund ist. Ein in drohenden Windungen hingeschlängelter Fluß zog eine schwarze Binsenlinie hindurch und glänzte, wo sein Spiegel hergekehrt war, breit und geschwollen auf.

Der Wind preßte sein Angesicht an die Scheiben.

»Morrn«, fuhr der Alte fort,»sünd de Wischen blank. Un wenn de Wind na een Spiel mehr na Wrom to rüm geit, denn versupt ok de Fährdamm.«

Die Wolken flogen, verstäubte Strahlen einer nicht sichtbaren Sonne auf ihren Rändern. Ungeduldige Fensterflügel rüttelten an den Hängen, von allen Ecken des Hauses kamen langgedehnte Töne.

»So lang, as de Wind hult, nimmt he to«, sagte der Raucher. »Hinnerk, paß op, he kommt uns na int Dack.« Hinnerk Thams, der Bauer und Wirt des Hauses, saß am Tisch und schrieb Zahlen auf ein Stück Papier. Er fuhr fort zu rechnen und bemerkte bloß, ohne aufzusehen: »A, Kassen-Ohm, dat ward jo wull ni so slimm.«

Vor ihm in kurzärmliger Jacke und mit zerarbeiteten Händen, schmuck und jung stand ein demütiges, verweintes, die Augen mit der Schürze wischendes Mädchen.

»Süh, Marie«, sprach Hinnerk Thams zu ihr. »Na min Reken krigst du tweehunnert un sößti Mark und söbenti Penn. All wat rech is, ik hev 't hier opschrewen, kannst jo sülwen nasehn.«

Er rechnete ihr alles vor. Soviel Winterlohn, soviel Sommerlohn, macht soviel verdienten Lohn. Er wolle annehmen, sagte Hinnerk, daß er einen vor dem Gesetz stichhaltigen Grund zur Entlassung nicht gehabt habe, da bekomme sie weiter für ein Vierteljahr Lohn und Kostgeld, also noch zwei Monate Sommerlohn und einen Monat Winterlohn. Das Kostgeld habe er, nicht zu knapp, auf achtzig Pfennig den Tag bemessen, das mache im ganzen zweihundert und sechzig Mark siebzig Pfennig.

»Rek 't to Huus na, Marie!«

»Dat is god so, uns' Weert«, kam eine ganz leise Antwort.

»Wull't bar hebbn, or schall'k na de Sparkaß dregn, Marie?«

»Na de Kaß.«

»Sparsam un örndli, dat büst, dat mutt man seggn«, bekräftigte Hinnerk Thams.

Allgemach wurde es Abend.

»So, Marie«, fing Hinnerk Thams wieder an »nu gah man! De Lad föhr ik morrn na.«

»Ja«, fiel Kassen Ohm ein. – Kassen Ohm lebte nur noch für seine Pfeife und für das Wetter. Er hieß auch allgemein der Wettervogt. – »Wenn se«, sagte er, »na œwern Damm will, denn ward Tid!

Das junge Mädchen wollte gehen, tat einen Schritt nach der Tür, dann übermannte es sie. Sie schlug die Schürze vor die Augen und weinte herzzerbrechend.

»Ja, Marie, wat schall dat? Dat hölpt jo doch ni, dat mußt doch insehn!« rief Hinnerk Thams.

Aber, was so lange zurückgehalten worden war, die Klage, die ihre Lippen bisher lautlos der Schürze gesagt hatten, brach jetzt hervor: »Ik hev em so leev!«

»Marie, komm doch ni weller mit son Geschichten. Du sühst doch in, dat bor nix ut warrn kann! Ik hev di dat utleggt.«

»Ja, dat hebbt Ii dan«, schluchzte Marie.

Nicht weit vom Bauern stand, die Arme in die Seite gestemmt, seine Frau. Sie hatte die milde Art ihres Mannes schon lange gemißbilligt. Die ganze Zeit, nachdem das Liebesverhältnis zwischen Marie und Fritz, dem Sohn des Hauses, ihrem leiblichen Sohn, durch die Auffindung der Briefe und des Spruchbuches und der Geschenke an den Tag gekommen war, hatte sie herumgescholten. Was die Deern sich wohl einbilden tue! Nun müsse sie aus dem Hause.

Auch Hinnerk Thams war der Meinung gewesen, da heiße es: entweder ja sagen oder ablohnen. Er hatte sich für Ablohnung entschieden, für Ablohnung in aller Ruhe und Ordentlichkeit, denn Marie Vossen war ein gutes Mädchen. Seine Frau hatte auch nichts gegen Marie, als daß sie nichts habe und von kleiner Herkunft sei. Sie war aber empört, daß man versuche, ihr die Rechnung zu verderben, denn sie hatte sich die reiche Anna vom Hessenhof für ihren Fritz ausersehen.

Ein bißchen hatte sie schon gescholten, aber das reichte nicht. Sie fing noch einmal an, ihre Empörung dahin abzuladen, wohin sie gehörte – auf Mariens unschuldig schuldvolles Haupt. Als sie loslegte, nahm Hinnerk Thams Gesicht den Ausdruck wohlwollender, leidenschaftsloser, sich um nichts kümmern wollender Geduld an. Er öffnete eine Schatulle, legte seinen Zettel hinein, notierte etwas in einem langen, steifen Buch, schob das Buch in das Fach, wo er es hergeholt hatte, und machte die Schatulle wieder zu.

Seine Frau hatte sich inzwischen ziemlich verausgabt, es fielen nur noch einige Nachschiebsel; und das war schade, denn sie hatte, was kam, vorher viel besser gesagt.

Hinnerk sagte sanft: »Lat sin, Mudder!« Da schwieg sie, sie wußte auch nichts mehr.

»So, Marie«, Hinnerk wandte sich an das Mädchen, »nu mak man, sünst ward würkli to lat.«

 

»Treu, fleißig, ehrlich, Entlassung aus besondere Verhältnisse«, hatte Hinnerk Thams ins Dienstbuch geschrieben.

Das steckte Marie in die Tasche ihres Wollrocks. Fritz hatte ihr einen Hut (ordentlich mit einer Feder daran) geschenkt. Den wollte sie aufsetzen, aber der Wind riß ihn schon auf der Hofstelle in den Nacken. Da ging sie zurück und band ein Tuch um die Flechten, den Hut bekam Rieke Schlüter, die mit ihr bei Hinnerk Thams diente, in Verwahrung.

Rieke Schlüter hatte dicht vor dem Fährdamm in kleiner Kate einen Bruder wohnen und riet Marie, nur dreist hineinzugehen, den Bruder zu bitten, sie über die Brücke und über den Fährdamm zu bringen. Die gute Rieke versprach auch noch, Fritz, der zur Stadt geritten war, entgegen zu gehen und ihm zu sagen, was sich zugetragen habe.

 

Der Sturm nahm zu, und immer breiter und drohender glänzte das Wasser vom Wiesental herauf. In der Dämmerung fuhr ein Bauer daher kommend langsam vorüber Hinnerk Thams griff nach der Mütze und ging hinaus. Es war Nachbar Holm, man erkannte ihn an dem langen wehenden Bart, Kopf und Mütze reckte er schief gegen den Wind.

Die Männer unterredeten sich unter den Eichen, worin der Wind wühlte. Thams hatte die Hand auf die Wagenleiter gelegt, die Köpfe waren einander zugewendet, und beide hatten die Hand am Ohr. Der Lärm des Wetters mochte die Verständigung erschweren.

Das Gespräch dauerte nicht lange. Als Hinnerk in die Stube zurückkehrte, äußerte er zu seiner Frau, Holm halte einen Dammbruch nicht für ausgeschlossen, der Wind habe einen Teil des Brückengeländers eingedrückt. Von Marie habe er nichts gesehen. »Wir hätten sie bei dem Wetter nicht gehen lassen sollen«, setzte er hinzu, aber seine Frau entgegnete: »A, wat, Marie is doch keen Kind mehr.«

 

Die Stunden liefen, das Wetter blieb ungünstig, in Hinnerk Thams Stube brannte eine Lampe, die Fensterluken wurden zugemacht. Und der Wind rüttelte an den Bolzen.

Die Hausfrau strickte, sie legte ihren Strickstrumpf hin und horchte. »Scht, Hinnerk«, sagte sie, »still, kommt dor ni wat vun de Hörn?« ... Beide horchten ... »Herr Je, wat is dat? Herr Je, dor kommt Grotmudder.«

So war es. Die Tür tat sich auf, eine verwitterte, krumme, den Stock weit voraufsetzende Alte humpelte über die Schwelle.

»Nanu, Mudder?« fragte Hinnerk, »wat is?«

Es war die Mutter des Bauern, neunzig Jahr alt. Seit Jahren ging sie nicht mehr aus der hinter der sogenannten Hörn im Kreuzbau für sie hergerichteten Stube, um diese Zeit war sie schon im Bett, ihr Kommen setzte Hinnerk und Wieb in Erstaunen. Sie schoben einen Stuhl hin und setzten sie hinein: »Du büst dat Gahn ni wennt, Mudder. Komm, sett di. So .. so .... so ... Hinnerk, schuv den Stohl betjen neger. So .... so ... so ... nu sett di man dal, Mudder.«

»Mudder, dor is doch nix Slimms? Rieke hett doch bröcht? Or is se ni kam?«

Die Alte antwortete nicht gleich. Sie ließ ihre Augen in der Stube umhergehen. Auf der Schwiegertochter blieben sie haften.

»Ja, Rieke hett mi bröcht. – Wo is Marie?«

»Marie is weg«, antwortete Hinnerk.

»So!«

Eine Pause.

»Wegen Fritz?«

»Ja, wegen Fritz.«

»Dat is also wahr. Rieke vertell mi. Ik konn 't ni glöwen. Dorüm komm ik sülwen.«

Den Stock hatte sie in der Hand behalten, sie setzte ihn auf, so fest und stark, wie sie konnte. Der Stock, das hörte man, war zornig, die Trägerin war es auch.

»Un wo is Fritz?«

»Fritz is to Stadt.«

»He weet also ni?«

»Bet herto ni.«

»Süh, süh«, sagte die Alte, »Marie is also ok weg. Hett mi gar keen Ädjüs seggt. Ik hev slapen. Dor hett se mi ni störn mocht, sä Rieke. Un dat harr ok jo all so hulter kapulter gähn, sä se.«

Hinnerk und Wieb schwiegen.

»Marie«, fing die Alte wiederum an, »is hier rech Tldlang wesen. Kem se ni glik na de Konfermatschon?«

»Ja, Mudder.«

»Um wo vel Jahr?«

»Söß, Mudder.«

»Söß Jahr. Un hett hier ok wull allerlei dörmakt. Fehl ik dor in? Ol Lüd ward swack in Gedanken. Ik meen, as Wieb dat Nervenfewer harr un so willern weer, un keen Minsch bi ehr bliewen wull: do hett Marie se plegt – Dag un Nacht.«

»Dat is wahr«, erklärte Hinnerk, »Dag un Nacht.«

»De Doktor sä, se weer ahn ehr gar ni dörkam.«

»Ja, dat sä he.«

Die Greisin zog die Spitze ihres Stocks auf den Dielen ein wenig hin und her ... und hörte auf das Wetter. »Wo dat weiht«, sagte sie, »un Marie alleen œwern Damm!«

Und zu ihrem Sohn: »Un du, Hinnerk! As du di mit Biel in de Knee slogst. Dat Blod keem, as wenn man Tappen ut 'n Tonn stött. Wi weern all verbast. Awer Marie (se harr 'n reine witte Schört vör) reet din Strümp von de Föt, krempel de Büx in de Höch, Schört afreten, ümwickelt, de Bänner fast tobunn. Do keem't ton Stillstand. Weer dat so, bün ik rech, Hinnerk?«

»Du büst rech, Mudder.«

Einen Augenblick schwieg die alte Frau. Aber ihre Augen wanderten.

»De Lad dor, Wieb, hör de to din Utstür?«

Wiebke Thams schwieg.

»Mudder«, nahm Hinnerk das Wort, »du weets jo rech god, dat Wieb keen Utstür hatt hett.«

»Süh, min Söhn dat's ok wahr, dor hest du rech. Wieb harr nix, ehr Vadders Stell harrn de Gläubiger verköfft. Ja, ja, dat ik dat vergeet. Een gans ol lütt Kommod mit paar Plünn in, un tweehundert Mark in de Kaß. Dat weer allns. – Weer't ni so, Wieb? Vadder un mi weer dat ni mit, Hinnerk schull Geld befriegen. Awer Hinnerk weer gans vernarrt in di. Do müß he jo sin Willn hebbn.«

Wieb Thams brach in Tränen aus. »Wat schall dat Mudder?« schluchzte sie.

»Hev 'k di wat dan, min Dochder?« fragte die Alte »Dat deit mi leed. Don wull ik di nix.«

Die Alte verlangte nach ihrer Stube und wollte zu Bett, Hinnerk und Wiebke waren ihr behilflich.

Bei der Tür stützte sie ihren Stock noch einmal auf.

»Wieb«, fragte sie, »wo vel Jahr büst du bi Krischan Grabb in Westermœhlen west?«

»Veer Jahr, Mudder.«

»Veer Jahr, düchdi Tid; bi Krischan Grabb heeln ni vel ut. Dor weern fiefhunnert Föder to laden.«

»Dat weer'n hart Stell«, erklärte Wieb, immer noch ein bißchen weinerlich.

»Weet ik, Wieb. Un hest di düchdi makt. Krischan hett mennimal to mi seggt: Ik harr malins en Grotdeern, de heeß Wieb Möllern. Een Wieb Möllern un ni weller, dat givt man een Wieb Möllern.«

 

Als Großmutter zu Bett gebracht worden war, suchten Hinnerk und Wieb auch ihr Lager auf. ›Das ist recht‹, rauschte der im Eich- und Pappelbaum wühlende, der luken- und bolzenklappernde Sturm. ›Geht zu Bett, ich bleibe wach, ich sing und wiege euch in Schlaf.‹ – ›Ich spiele den Baß‹, setzte ein schwacher Donner hinzu, da grollte ein schwüles Wetter in der Ferne auf.

Der Sturm schwatzte davon, was die Großmutter gesagt, die halbe Nacht. Bei Krischan Grabb .... da wurden zweihundert Fuder Heu, dreihundert Fuder Korn geerntet, Wieb Möller hat alles eigenhändig auf dem Wagen verstaut. Klaus Folken ›stakte‹ auf, eine Roggenhocke (vier Garben) auf einmal. Er war ein hübscher Kerl, schon längst hatte er ein Auge auf Wieb geworfen. Wieb aber hielt ihn hin, Wieb hatte höheren Sinn. Sie ging mit dem Erben von Thamshof in Bökenrade. Die Eltern hatten nicht gewollt, die Eltern, hatte Wieb gedacht, muß man mürbe machen, die Eltern waren mürbe geworden.

›Das ist ein Leben‹, jauchzte der Sturm. ›Über das Feld fegen und sich mit Eichen und Pappeln und Häusern herumschelten. Die eine, die aufrecht steht, krieg ich noch. Im Stamm stöhnen schon alle Fasern. Aber nun will ich erst mal dem Giebel guten Abend sagen. Mit dem hab ich auch einen Ton zu reden.«

Ein kleiner, dumpf verhallender Stoß. Erst jagte ein leises Beben durch den Bau, dann schlug es weh und stark auf den Boden auf.

»Das war just nicht viel«, sprach der Wind, »aber ein Anfang wars doch, und das ist auch was. Und wenigstens ein Brett liegt an der Erde.«

»Wenn er nur nicht ins Dach fährt!« überlegte Hinnerk Thams.

»Ob sie wohl gut übern Damm gekommen ist?« dachten er und Wieb.

Der Wind fing an zu prahlen. In den Pappelreihen stimmte er ein Blätterkonzert an, wie Kastagnettengeklapper.

›Aller Anfang ist schwer‹, sauste er. ›Nun sollt ihr aber mal sehen, wie ich mich entwickle. Ich bin ein freier Sohn der Natur und wills zeigen.‹

Und er entwickelte sich und zeigte es.

Wieb Thams träumte, sie solle an einem Tag fünfzig Fuder Heu laden. Klaus Folken stakte, konnte aber nicht gegen den Wind an. »Lat na, Klas«, sagte Wieb, da hing sie plötzlich am jagenden Flügel von Ferdinand Harbs Windmühle. »Help, Help!« rief sie. Klaus Folken stand an der Flanke des Baus, er hätte helfen können, tat es aber nicht, er steckte seine Hände in die Tasche und lachte. Ihr Sohn Fritz und Marie Bossen gingen vorbei. »Help!« rief die am Mühlenflügel herumgeworfene Wieb. Aber Fritz und Marie sahen sie nicht und bogen Arm in Arm in den Lindenweg ein, wo es nach des Pastors Haus hingeht.

Hinnerk Thams träumte auch. Er stand im Sturm am grünen Wiesenstrand. Vor ihm war blankes Wasser, er wußte, es war ein großes, ein wildes Meer. Und der Schaum rollte zu seinen Füßen. Aus den Wasserbergen tauchte ab und zu der Kopf einer Robbe auf und tauchte wieder unter. Es war aber keine Robbe: es war Marie Vossens angsterfülltes Gesicht.

Hinnerk Thams wurde wach, die vom Mühlenflügel losgebundene Wieb war es auch.

»Wieb«, rief er.

»Hinnerk«, antwortete sie.

»Ik slap so unruhi«, sagte er.

»Ik ok.«

»Ik denk ümmer an Marie.«

»Ik ok.«

»Un Fritz is ok na ni to Hus kam.«

»Nä, dat is he ni.«

 

Einmal hat jemand den Schöpfer der Welt um eine neue Sündflut gebeten.

»Warum?« fragt der Herr vom All.

»Die meisten Menschen zu vertilgen, die andern zu bessern.«

»Es ist nicht nötig«, hat Gott, der Herr, geantwortet. »Ein Sturm tuts auch. Es gibt immer noch Menschen, die seine Flügel nehmen und hinauffliegen zu mir.«

 

Hinnerk lag im Halbschlaf, und Wieb tat es auch. Aber ihre Gedanken gingen auf Sturmesflügeln. Wer in Wolkenhöhe bei freier Luft über dem Meeresspiegel daherfährt, sieht, so sagt man, tief in die Wasserwelt hinab. Wen des Sturmes Flügel tragen, dem öffnet sich eine andere Tiefe: die eigene Seele.

Als Hinnerk und Wieb daherfuhren ... da kam ihnen vieles, wofür sie ein paar Stunden vorher die Seele gegeben hätten, das kam ihnen so wunderlich, so nichtig vor.

 

Es rüttelte an allen Ecken und Enden im Haus und schüttelte die Luken und Türen und Fenster. Und Mitternacht mochte herangekommen sein, da gab es einen gewaltigen Krach, und das Haus erbebte. Die junge, aufrechte Klapperpappel war abgebrochen und mit großer Gewalt auf den Boden aufgeschlagen. Die Betten zitterten unter den Schläfern, und im Teeschrank klirrten die Gläser.

Hinnerk Thams stand auf.

»Wat wullt du?« fragte seine Frau.

»Ik will sehn, ob se god to Hus kam is.«

»Dat is rech«, antwortete Wieb, und stand auch auf.

»Wat wullt du?«

»De Wind is int Dack. Een weiht jo de Haar opn Kopp. Ik will de Knechten ropen un Kassen-Ohm.«

»Dat do.«

Die Gewalt des Sturmes war gebrochen, das Wetter flaute ab.

 

Hinnerk ging bei dunkler Nacht über den Damm. Da nagten zwar noch immer die Wellen an der Böschung, aber der Weg blieb fest.

Hinnerk ging weiter, er wollte wissen, ob Marie unversehrt bei der Tante in Heest angekommen sei. Sein Traum sollte nicht Recht behalten.

Es war, wie Nachbar Holm berichtet hatte: das halbe Brückengeländer fehlte, aber der Damm hielt Stand.

Der Bauer ging schräge gegen den Wind, das machte nichts aus, er war ein rüstiger Mann. Der Himmel war klar geworden, der Mond stieg über dem Wald von Barbeck herauf. Es war ziemlich hell, Hinnerk sah sogar die frischen Spuren eines vom Dorf gekommenen Reiters.

Er hatte die halbe Dammstrecke zurückgelegt, und noch immer donnerten die Wellen. Aber sie schalten und grollten nur noch und drohten nicht mehr. Ganz weit im Westen über das Hellinger Moor hinweg ging ein Gott in stummem Wetterleuchten, blitzende Gedanken um sein versonnenes Haupt, friedevoll hinter der Erde Rund hinab.

Halb hatte Hinnerk den Weg hinter sich, da kam ihm etwas entgegen. Er hörte den schweren Schritt früher, als er die Umrisse des Nahenden sah. Im Mondlicht wird alles weich und die Formen fließend, und alles wird groß und zu Ungeheuern gereckt. Es schien ein Übermaß von Wesen, was da kam, aber in der Nähe schrumpfte es auf faßbare Linien zusammen. Und schließlich war es ein Reiter.

Als sie aufeinanderstießen, sah er den Reiter an, und der Reiter sah ihn an. Und beide stutzten.

»Fritz, du?« – »Vadder, du?« So riefen sie.

Hinnerk Thams Sohn hielt sein Pferd an. »Brr!« sagte er. »Brr!!«

Er saß ab, nun standen sie sich gegenüber und sahen sich in die Augen.

Der Sohn sah ernst, er erwartete etwas, war aber gefaßt.

»Büst na Heest west?« fragte der Alte.

»Ja!«

»Hest sehn wollt, ob se god awerkam is?«

»Ja!«

»Is se god ankam?«

»Ja!«

»Wokeen harr di seggt?«

»Rieke.«

Einen Augenblick schwieg Hinnerk Thams.

»Ja, Fritz, ik wull ok hen un sehn.«

»Du, Vadder?«

»Ja, ik.«

Fritz konnte es nicht glauben, nicht verstehen, nicht fassen. Er legte dem Alten beide Hände auf die Schulter: »Vadder, segg dat na mal!«

»Ja, Fritz, mi hett leed dan. Ik glöv, Mudder ok. Wi weern in Angst. Nu kann 'k jo to Hus.«

»Dat kannst du.«

Fritz untersuchte Sattel und Riemenzeug. »Komm, Vadder, stieg op. Ik kann gahn, ik bün jung.«

»Ja, min Soehn, denn man to.«

Hinnerk Thams war aufs Pferd gestiegen. Fritz stand am Zügel.

Der Gott mit der aus Blitzen gewobenen Gedankenkrone war ganz hinab. Zum letzten mal leuchtete ein Wolkenrand auf, zum letzten mal warf der Unsterbliche sein Sinnen in das große All.... Die Wellen rauschten sanfter an der Böschung hin ... der Wind sprach von Liebe.

»Fritz«, sagte der Alte, »min Sœhn!«

»Min Vadder?«

»Hest ehr heel leev, Fritz?«

»Ja, Vadder.« Und nach einer Weile: »Ik kann ahn ehr ni leben.«

Fritz bedeckte seine Augen mit der Hand und vergrub das Gesicht in die Flanke des Braunen. Ein Krampf, ein Beben, vielleicht Schluchzen, das ging durch seinen Körper.

»Still, Fritz, du schast ehr hebbn.«

 

Am folgenden Morgen fuhr Hinnerk Thams mit Mariens Lade selbst nach Heest. Nach zwei Stunden kam er zurück, Marie neben sich im Stuhl. Sie hatte ihre Sonntagskleider angezogen,in ihrem Gesicht ein ruhiges, still getragenes Glück.

Der Knecht Johann, der die Ställe versah, hatte sie zuerst gesehen.

»Rieke«, sagte er zu dem Mädchen, »Marie kommt weller to uns in Deenst.«

»In Deenst? Weer dor 'n Lad opn Wagen?«

»Nä,'n Lad weer dor ni op.«

»Denn kommt se ok ni in Deenst. Denn kommt se wull as wat anners.«

 

Hinnerk Thams führte Marie an der Hand in die Stube, »Dor, Mudder, dor is uns Dochder.«

Wieb saß hinter dem Ofen und weinte. »Komm her, min Dochder!« sagte sie zu Marie.

»So«, schmunzelte Hinnerk Thams und rieb sich in stiller Freude die Hände. »Nu ropt Fritz un Kassen-Ohm. Grotmudder hol ik sülwen. Un sünst na wat«, setzte er hinzu. Er strahlte förmlich, der ruhige Bauer Hinnerk Thams.

Als er wieder hereinkam, waren alle zur Stelle. Er brachte eine gläserne Batterie dazu. Eine Flasche hatte er in die linke Achselhöhle geklemmt, eine zweite hielt er in der Hand. Mit der Rechten half er der weit mit ihrem Stock ausholenden, über das ganze Runzelgesicht lachenden Großmutter über die Schwelle. Dabei glitt die eingeklemmte herab, ging in Scherben, der schöne Wein badete die Dielen.

»Hinnerk!« Wieb rief es, und der Ton des Vorwurfs einer sparsamen Hausfrau lag darin.

»Makt nix«, antwortete Hinnerk. »Nu is 't Glück dor, Scherben bedüd Glück. Wien hev 'k nog in Keller, Glück kann ni to vel warrn. Ni wahr, Grotmudder?«

»Wat is Glück?« fragte Großmutter und setzte sich, das weiter zu erklären, umständlich in ihrem Lehnstuhl zurecht.

Neunzig Jahr hatte sie das Glück gesucht. Sie hatte es nicht gefunden, aber soviel hatte sie doch herausgekriegt, daß das Glück sich nach dem Maße der Wünsche richte. Sie drückte es in ihrer Sprache aus:

»Kinner, ni to rund un ni to eben, ni to veerkanti un ni to blank. Lütten Buln in, betjen scheef un uneben, lütten Placken. So is 't uns bescheeden. So is dat Glück.«

»Hinnerk«, sagte sie zu ihrem Sohn, »du hest son Art Glück funn, mi dünkt, düss' Nacht in Storm un Wind. Un du ok, Wieb.«

Die jungen Liebesleute saßen am Glockengehäuse, Hand in Hand.

»Ju jung Lüd to predigen, wat Glück is, hett keen Zweck. De Sünn schient to hell un to doll. Eerst mutt mal störm un hageln. Wat meenst du, Kassen?«

Der Wettervogt, immer zerstreut, saß in der Ecke und rauchte und sah ins Wetter.

Er liebte und verstand Gespräche wie die von Glück nicht. Als von Stürmen und Hageln die Rede war, glaubte er, man spreche vom Wetter.

»Ja«, antwortete er. »Vundag' hett dat nix to seggn, awer morrn kann 't weller losgahn. Dor sünd so vel ol Haken in de Luft.«


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