Timm Kröger
Aus alter Truhe
Timm Kröger

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Das Gartenmesser

Er war ein alter Herr. Aus Mißtrauen gegen die eigne Kraft hatte er sich jung von der Welt zurückgezogen. Seit vierzig Jahren lebte er von seiner Rente. Einen Teil des Tages verbrachte er damit, seine Bücher wieder und immer wieder zu lesen, einen anderen Teil, die Bäume und Sträucher bei seinem Hause zu bewundern. Und im Sommer stieg er Tag für Tag nach seinem am Fluß gelegenen Gärtchen hinab. Grau war sein Haar ... Er war ein alter, ein feiner Mann, und beharrlich waren seine Gewohnheiten.

Vierzig Jahre wohnte und lebte er so, lebte in seinem Haus am Wald und arbeitete in seinem Garten. In den Garten kam keine fremde Hacke, kein fremder Spaten. Vierzig Jahre hindurch hatte er jede Nacht in seinem Bett geschlafen und vierzig Jahre nur bei sich zu Mittag gegessen.

Was ihm zugehörte, ein Ding, worin er seine Seele gelegt hatte, das war ein Stück seines Ichs. Das wurde mit peinlicher Sorgfalt behütet und bewahrt, in erster Linie – sein Messer. Ein großes Gartenmesser mit einer Klinge wie der Mond im ersten Viertel. Vierzig Jahre war es dem alten Horn (Horn hieß der Mann) nicht aus der Tasche gekommen.

Eines Tages wollte er einen falschen Sproß entfernen. Er griff in die rechte Tasche: sein Messer war nicht da ... Er fühlte und griff nach allen Taschen – das Gartenmesser fehlte.

Er merkte, daß er blaß wurde ... Das Messer war verloren! Doch hoffte er noch, es wieder zu finden. Aber er konnte sich gar nicht besinnen, wo es anders hätte sein können als in der Tasche, die es nicht barg.

Verstört kam er nach Hause und fing an zu suchen. Er suchte den ganzen Kleiderschrank und alle Taschen durch. Er kehrte alles im Hause auf den Kopf ... alle Schränke, alle Kommoden. Der Inhalt wurde um und um gewendet ... das Messer fand sich nicht.

Er war in Schweiß gebadet. Er setzte sich in seinen Sessel, er fühlte sich nicht wohl. Aber da war nicht Zeit zu rasten. Wieder nahm er Hut und Stock und ging nach dem Garten. Er kroch unter die Syringen, unter die Dornen, er kroch in alle Gebüsche, er suchte jedes Beet ab. Und kein Messer! Da griff er an seine Stirn: nun war sein Verstand in Gefahr.

Sein Verstand und seine Gesundheit waren in Gefahr, das fühlte er. Er hatte schlaflose Nächte, er verlor den Appetit, er magerte ab, dachte immer an das Messer. Mit dem Messer war ein Stück, von ihm verloren, wenigstens verlegt ... er wußte nicht, wohin.

Es fiel ihm schwer, das, was wirklich war, und was er sich einbildete, zu unterscheiden. Zuweilen redete er sich ein, das Messer sei er selbst oder seine Seele oder doch ein Teil seiner Seele. Es kam ihm vor, als sei etwas, was sein Körper oder seine Seele nicht entbehren könne, eine Ecke vom Herzen, von der Seele, namentlich das, worin das Gottvertrauen sitze, als sei das hinweggefegt, zerstoben ... weg, daß man seine Spur nicht finde. Er fühlte sich in einer fürchterlichen Lage, als ob er schwebe. Wenn er fest auftrat, wich die Erde. Aber so viel Besinnung hatte er noch, einzusehen, daß er krank sei und den Arzt brauche.

Der Doktor kam. Das war ein richtiger Doktor. Der wußte den Kranken zu behandeln, ihn zu überzeugen, daß er auf fester Erde stehe und nicht schwebe, daß sein Verstand und sein Herz und seine Seele mit dem in Verlust geratenen Messer nichts zu tun hätten, daß er Hans Horn sei und sein Herz ein muskulöses Organ und kein Messer, seine Seele ein Ding mit dem Gehirn als Apparat, ein Gartenmesser aber ein von Menschenhand gemachtes Werkzeug aus Eisen und Stahl mit einer Hornschale. Der Kranke fing an einzusehen, daß seine Anhänglichkeit an ihm gehörige Dinge zu weit gehe. Als nun der Doktor gar beim zweiten Besuch ein neues Gartenmesser, dem alten ähnlich, aus der Stadt mitbrachte, da hatte er gewonnenes Spiel.

Wie lachte der alte Horn, als er das neue in seine Tasche steckte! Es war ihm eine ungeheure Beruhigung, wenn er ging oder stand und das Ding am Oberschenkel fühlte.

Er verzichtete innerlich auf das alte Messer, er fand sich in den Verlust. Das heißt: so rasch und so leicht ging das nicht, ein Jahr etwa mußte vergehen. Da war er aber auch vollständig fertig, da war die Sache abgetan. Und stolz fühlte er sich, der alte Horn. Wie ein Held kam er sich vor, wie ein Überwinder, wie ein Sieger.

Es war wieder Frühling geworden. Hans Horn hatte seine Gemüsebeete umgegraben, die frische Erde dampfte und duftete. Nun zog er die eiserne Harke. Und sie ging leicht durch die gelockerte Erde. Auf einmal ...

Es wollte Abend werden, und der alte Mann sah nicht mehr genau. Aber er merkte es in der Hand, daß die Harke schwerer ging, daß sie Widerstand fand. Und so viel sah er auch: die Erde wühlte vor einem länglichen Etwas auf.

Er mußte innehalten, er mußte nach seinem Herzen tasten, eine Ahnung stieg in ihm auf. Mit zitternder Hand zog er die Harke an sich. Das Etwas hatte sich zwischen die Zinken gesetzt ... Er hob sie in die Höhe, seine Augen bohrten. Nun mußte sichs zeigen.

Dem alten Herrn fiel das Blut. Er fühlte, daß er im Gesicht ganz weiß wurde. Aber kalt und ruhig war er. So ruhig! Er konnte alles genau untersuchen, als wäre es die allergewöhnlichste Sache, ein verlorenes Gartenmesser, ein Stück eigenen Wesens wiederzufinden. Denn nun wußte er daß es doch ein Stück von ihm gewesen war.

Es war wirklich sein Messer; er wunderte sich gar nicht mehr, er war nur noch Andacht. Es war sein altes (ach, wie alt!) sein altes, sein liebes Messer, die Klinge wie der Mond im ersten Viertel.

Gesammelt und andachtsvoll stand der alte Horn. Noch steckte das Messer in der Harke. Die Mütze nahm er ab und faltete über dem Harkenstiel fromm die Hände. So fromm, so gottesfürchtig war er noch niemals gewesen.

Gleich hinter der Hecke läuteten Kirchenglocken. Da waren zwar keine Kirchenglocken, aber er hörte es ganz deutlich: gleich nebenan läuteten Kirchenglocken. Und bei ihm, das merkte er auch, da stand der unsichtbare, der große, der allmächtige Gott. Und lobte ihn wegen seiner Verständigkeit, wegen seines ergebungsvollen Verzichts. Und sprach die Sprache seiner Jugend, die Sprache der Kameradschaft, die Sprache der Behaglichkeit. Der liebe Gott sprach plattdeutsch und sagte: »Hans, du wunnerst di wull. Awer ik hev so bi mi dacht: lat den oln Horn dat Meß weller kriegn, he wahrt jo sünst all sin Saken so god.« Im Apfelbaum: die Nachtigall sang, die Nachtigall schlug ... zum Schmelzen, zum Gerührtwerden schlug und schluchzte sie. Und die Blumen, die Syringen ... der Duft, o der Duft!

Was in den nächsten Minuten geschehen ist: der alte Mann weiß es nicht mehr. Als er sich wiederfand, stand er noch immer im Erbsenbeet, die Mütze lag am Boden, die Harke in seiner Hand. Und das Messer, das wiedergefundene, ruhte in seiner Tasche, neben dem neuen.

Er vergewisserte sich noch einmal, es steckte wirklich in seiner Tasche. Und Freude trieb das Blut durch die Adern. Er stand ... er weinte... er weinte vor Rührung.


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