Timm Kröger
Aus alter Truhe
Timm Kröger

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2

Der Kranke las und immer lieber weilte er in den Stollen und Gängen der mystischen Lehren.

Das Haus war frei hingestellt, die ziemlich nach Nordosten belegene Stube ging nach den Gärten und nach dessen Rosenbüschen hinaus, und Morgensonne war so viel im Zimmer, wie man nur wünschen mochte.

Sie kam durch die Glasveranda von den Blumentöpfen her, taufrisch und duftbeladen, und fing gleich an, die farbenschweren Sammtvorhänge nach Mutters Stube hin zu bleichen und die unter dem Kronleuchter baumelnde Papierrose zu bestrahlen. In den Papierrosen hatten sich meistens drei bis vier Fliegen vergraben, andere Paare schwirrten Kreise und Ellipsen um sie herum. Alle diese Geflügelten nährten ihr armes Fliegenleben von der Sonne, lobten sie, so gut sie konnten, und freuten sich eines sonnenhaften Fliegenfrohsinns.

»Wird die Sonne dir auch lästig, kleiner Wilhelm? Soll ich die Rolläden herunterlassen?« So fragten Mutter und Hannchen den Kranken, den immer in der Nordoststube im weichen Daunenbett Hingestreckten.

Er brauchte gar nicht ganz aufrecht zu sitzen, er konnte auch so, wenn er den Kopf nur ein wenig im Kissen aufstützte, in den Garten und ins Weite sehen. Für Mutter und Hannchen blieb er der kleine Wilhelm, obgleich er bei seinem mehr als ein Dutzend Jahre dauernden Krankenlager ein Mann geworden war. Oder man muß wohl sagen: er wäre einer geworden, wenn die Krankheit seine Entwicklung nicht gehemmt hatte. Nun hatte er auch im Aussehen und in seiner Denkweise etwas Kindliches behalten.

Die ersten Jahre seines Leidens hatte er im Lehnstuhl zugebracht, die mittleren halb im Lehnstuhl und halb im Bett – nun aber, nachdem die Lähmung immer weiter gegangen war, verließ er kaum noch sein Lager.

»Wird dir die Sonne auch lästig?« fragte die Mutter. »Soll ich die Rolläden herunterlassen?« fragte Hannchen.

Hannchen war eine Schwestertochter der Mutter, wie Kind im Hause und nicht anders als eine wirkliche Tochter im Hause groß geworden – fünf Jahre jünger als der kranke Wilhelm. Von der Zeit, wo dieser gesund gewesen war, hatte sie nur eine dunkle Erinnerung. Zu ihm war sie nichts mehr und nichts weniger als eine Schwester, und die liebste aller ihr obliegenden Pflichten war, ihn zu verhätscheln, wie es auch die Mutter tat.

Ihre Lippen waren am schönsten, wenn sie lachten und freundlich taten. Und waren sie jemals anders? Der Glanz ihrer Augen hatte einen braunen, treuherzigen Ton. Wen dieser Blick liebkoste, der mochte kalt und trocken bleiben, wenn er es vermochte.

Wenn Mutter und Hannchen fragten, ob ihrem Pflegling die Sonne auch lästig werde, dann bat der Kranke selten darum, das Licht auszusperren. Im Gegenteil: er hatte seine Freude an der Sonne, er mochte gerne sehen, wenn sie die Farben bleichte, die Streifen ihrer langsamen Stunden weiter zog, die harten Fensterausschnitte die Dielen entlang schob und über Tische und Sessel warf. Dabei wurde ihm selbst sonnenhaft zumute. Traf nun ihr Strahl gar das Vogelbauer, und fing der gelbe Federmann dann hinter seinen Stäben zu singen an, dann summte Wilhelm ihm alle Schlager und Roller innerlich nach.

Im hohen Sommer blieb die Sonne bis Mittag und empfahl sich dann bis zum Abend. Zum Gutenabendgruß erschien sie Wilhelm wieder. Sie sah dann durch das an der Wand nach Nordwesten angebrachte Fensterchen, röter als am Mittag und sanfter und milder als am Morgen, und in gesammelter freundlicher Würde ging sie immer runder und immer farbiger hinter den am Grenzzaun stehenden Gartenbüschen hinab.

›Geh du nur!‹ dachte dann der, der im Bett lag und sich an ihren Strahlen labte. ›Geh! Als ob ich nicht wüßte, daß es nicht das Letzte ist, was ich heute von dir sehe. Und in all deiner Pracht bist du niemals schöner, als in dem Flammengruß aus Wolkenqualm und Nebeldunst, wenn das Abendrot aufflammt.‹

Und wenn dann wirklich die Abendröte kam, dann deuchte dem Kranken immer, hinter dem Abendrot und im Abendrot stehe ein Frauenbild mit hoch erhobener Rechten. Und in der hoch erhobenen Rechten leicht im Rund der zarten Fingerspitzen trage es eine Schale. Und die Silberschale berge das köstlichste Gut, das der Herr des Himmels und der Erde den Menschen auszugießen beschlossen hat.

›Geh nur, liebe Sonne!‹

Freilich – nicht immer warf der Sonnengott Rosen und Grüße ins All, aber das schadete kaum. Und hätte der Kranke es auch nur ein halbes Dutzend mal im Jahr gesehen, ja nur ein einziges mal: es blieb ihm für immer zu eigen ... ein Friedensengel ... riesengroß ... Lächeln im Antlitz ... und das wogende und schäumende Wunderbare in der silbernen Schale.

 

Wenn er lag und sann, dachte der Kranke viel an seine Mutter und an Hannchen. Er dachte aber auch an seinen einige Jahre älteren Bruder Harald, wenn auch nicht täglich und nicht so oft. Harald war Seeoffizier und war zur asiatischen Flotte kommandiert und jetzt auf der Heimreise. Lange wird es nicht mehr dauern, dann wird er zurück sein und Mutter und Bruder, vor allen Dingen aber das ihm als Braut versprochene Hannchen ans Herz drücken.

Der Kranke konnte sich das Liebeskonzert der Angehörigen das ihn umwogte, kaum vollendeter denken, als es war. Wie wird sich der dritte Geigenstreich hineinfügen?

Wilhelm las in den mystischen Büchern. Hannchen neckte ihn mit dem ›dummen Kram‹; er hörte es gern, es stand ihr alles, was sie tat, so gut und reizend. Wenn das liebe Mädchen kam und mit ihm zu reden anfing, dann legte er (und wären die Stellen, worüber er brütete, auch noch viel interessanter gewesen, als sie waren, er hätte es doch getan) dann legte er das Buch hin und schwatzte mit Hannchen. Wie lange wirds noch währen, und sie ist Haralds Frau!

Aber daran dachte sie gerade dann am wenigsten, wenn sie mit Wilhelm sprach. Wilhelm war ihr Bruder, ihr kleiner kranker Geselle. Und daß sie seine Tage besonnte, war ihr Stolz. Und deshalb flatterte sie mit ihrem weichen, mit ihrem braunen Glanzhaar vor seinem Bett herum ... das dünkte den Kranken zehn mal lichter als Sonnenschein. Über weiche, rote Lippen summte sie ihre Lieder hin ... dafür gab Wilhelm tausend mal die Roller seines gelben Stubenkameraden.

Der Vogel sah das nicht ein, er schmetterte seine Schlager in die Mädchenlieder hinein.

»Häng ein Tuch übers Bauer«, bat Wilhelm eines Tags. »Heut will ich nur dich hören. Häng ein Tuch über, Hans soll still sein!«

Hannchen tat nach Geheiß, der Vogel war beleidigt und schwieg, Hannchen aber hatte sich summend im Hintergrund der Stube beim Sekretär zum Sticken niedergelassen, das Licht fiel dort besser auf ihre Arbeit.

»Hannchen, wo bist du?« rief der Kranke.

»Hier, mein Lieber.«

»Bitte nicht da, da sollst du nicht sitzen, du sollst an meinem Bett sitzen, ich muß dich sehen, wenn du singst, ich muß dich immer, immer sehen. – Und zieh mir die Kissen bißchen hoch, was, Hannchen?«

»Sieh mal den Kleinen, den Verzug!« lachte das Mädchen. Und stand auf. »Sei man ruhig, guter Junge. Ich will dich zurecht legen und dann will ich sitzen, wo ich soll.«

Sie legte den rechten Arm um des Kranken Kissen und Rücken und richtete ihn sanft auf ... Er war leicht wie ein Kind ... er war mager ... zum Skelett abgemagert, sie fühlte kaum eine Schwere in ihrem Arm.

»So, mein Junge, nun lege beide Arme um meinen Nacken und halte dich einen Augenblick fest. Meine Hände werden derweilen die Kissen aufschütten.«

Er hing an ihrem Halse, ihr Atem ging über ihn her ... er trank die Süße des Augenblicks mit stillem Behagen ... Wie war es möglich! Wie konnte jemand so schön sein und so gesund! Die reichen, braunen Flechten wollten sich durch die Nadeln nicht bändigen lassen, und wenn auch noch so viele in dem prächtigen Haarkranz vernestelt waren. Und war es auch nur eine Locke, es ging was Lindes, was Duftbeschwertes bei ihren Bewegungen über sein Gesicht. – ›Hannchen‹, wollte er sagen, ›gib mir davon ...‹ aber er brachte es vor Seligkeit nicht heraus.

Und nun war alles so zurecht gezogen und gezupft und getan, wie der Kranke und seine Pflegerin es haben wollten. Sie hielt ihn in beiden Armen und ließ ihn sanft in seine Lage zurücksinken. Mit reinem weichem Kindergesicht sah er zu ihr auf. Da vergaß sie es ganz und gar, daß sie einen erwachsenen Mann in ihren Armen hielt – für sie war es nichts mehr und nichts weniger als ein armes, krankes, nach Liebe verlangendes und der zärtlichen Liebe würdiges Kind. »Armer kleiner Wilhelm«, sagte sie und küßte ihn erst auf die rechte Wange, dann auf die linke und dann auf den bleichen Mund. »Bist mein lieber Wilhelm«, wiederholte sie und küßte ihn wieder.

Und dann schlug und faltete sie auch sein Deckbett zurecht, erfreute sich ein paar Sekunden lächelnd an dem von ihr gebetteten Kinderglück und flüsterte: »Da schläft mein Kleiner ein Stündchen, Mama schläft auch, und ich geh flink mal zu Grete Müllern hinüber, komme aber gleich wieder und mache Kaffee, den soll Mama dir bringen.«

Und als sie das gesagt hatte, ging sie auf leisen Sohlen aus der Stube und machte die Tür ohne Laut hinter sich zu.

Nach einer Weile kam die Mutter mit dem Kaffee. Schon im Wohnzimmer hörte sie ihren Sohn vernehmlich lachen. Sie ging hinein, Wilhelm lachte wieder. Sie sah, er tat es halb im Schlaf, und stand gerührt an seinem Lager.

Aber der Blick der Mutter machte ihn ganz wach, er hob die Lider, und seine Augen waren voll von Glück und Glanz.

»Junge«, sagte sie, »dir muß was Gutes geträumt haben.«

»Das ist auch so«, erwiderte er, und zum ersten mal erzählte er seiner Mutter von dem hohen Frauenbild, soweit sich dergleichen in Worte fassen läßt ... Die Rechte hoch erhoben und eine Silberschale leicht im Fingerrund getragen, und darin das Köstliche, das Wunderbare.

»Und was ist denn das Köstliche, das Wunderbare, das Beste von allen Verheißungen des Himmels?«

»Ja, wenn Mutting das nicht weiß, ich weiß es auch nicht. Ich dachte, Mütter wüßten alles.«

So redend, hatte er der Mutter alte Geschichten gesagt, aber nicht alles, was er geschaut hatte. Denn er hatte nicht nur das Frauenbild gesehen, das ihm das Köstliche brachte, er hatte auch gesehen: Hannchen war es in Person. Und dann noch mehr. Erst hatte sie auch jetzt die Silberschale, worin das von dem Herrn Ausgegossene am Rande aufschäumte und wogte, mit der Rechten im Rund der Fingerspitzen getragen, dann aber war das verschwunden, dann hatte sie voller Mutterlust etwas in ihren Armen gewiegt, so wie eine junge Frau ihr Erstgeborenes herzt.


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