Timm Kröger
Aus alter Truhe
Timm Kröger

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Ein Abschied

Unser Hof war durch Aufsaugung kleinerer Besitzungen so groß geworden, wie er im Dorfserdbuch beschrieben stand. Namen einzelner Koppeln und Wiesen – Heinshof, Heinswiese, Schröderkoppel und Beckmannsvotshorst – gaben noch Kunde von Bauernstellen, über deren Herdstelle jetzt unser Pflug ging.

Beckmannsvotshorst. Was besagt die Zwischensilbe ›vots‹? Ist sie ein verkümmertes ›Voß‹? Das will ich dahingestellt sein lassen, denn kein Mensch weiß es. Aber ›Horst‹, die Bedeutung ist bekannt. Es ist höher belegenes, trockenes, von Sumpfland umgebenes oder gegen Sumpfland vorgeschobenes Sandland.

Das bestätigte die Lage von Beckmannsvotshorst. Es war nach den Wiesen und nach den Mooren hin das äußerste Hochland, sein Knick lief mit einem gewissen Trotz an der großen Leere, wo aufgeregte Winde stürmen, hin, hier eckig gebrochen, dort weich gekrümmt, wie der Rand des bald andrängenden, bald wegfliegenden Weichlandes gebot.

Ein wunderliches Gefühl, eine wunderliche Stimmung zog mich nach Beckmannsvotshorst, zumal zur Zeit der trüben Herbstschauer. Als Kind stand ich auf dem Knickwall, im brausenden Wind, einsam und verlassen – so verlassen, daß sich dafür schwer Worte finden ließen, dabei aber über meine Verlassenheit und Einsamkeit frohlockend. Und stand und horchte über die Moore hin, ob sich nicht der über ihnen ruhende Schrecken in Donner entlade. Denn mir war, als ob das kommen müsse, mit dumpfem Rollen kommen müsse.

In der Fortsetzung des am Knickwall entlang führenden Weges fiel ein Wagengeleise langsam in die Tiefe hinab nach dem Hochmoor zu, dessen hoher, schwarzer Rand fernhin auftrotzte. Als ich noch klein war, wollte ich wissen, wohin der Weg führe. Man nannte mir ein paar Namen, denen die Wiesen gehörten, zuletzt den Schulmeister, der mit einem Stück Schulland unmittelbar an der Au liege. Man sehe zwar nicht das Wasser, wohl aber die dunkle Linie der großen Uferbinsen, und gleich hinter der Au komme das Moor. Einmal, ich war schon halberwachsen, sah ich dicht vor dem wilden Moor einen Punkt, oder vielmehr einen Strich, der sich bewegte, den ich für einen Menschen halten mußte, und erschrak förmlich in der Seele des fernen Mannes; so vereinsamt und verlassen dünkte er mich. Kuhknecht Johann stand neben mir, er deckte die Hand über die Augen und sah scharf hin. »Wokeen is dat?« fragte ich. »Dat«, antwortete er, »kann keen anners wen, as de ol Schulmeister.« Den alten Schulmeister kannte ich, und ich erschrak wieder in seiner vereinsamten Seele.

So fühlte ich auf Beckmannsvotshorst Furcht und Grausen, aber Furcht und Grausen auf dem Untergrund einer feierlichen Stimmung; es war ein von der Phantasie großgezogener Schrecken.

Am schönsten war er, wenn es gegen Abend ging und der Mond Farbe bekam. Dann nahm ich den Schulmeister sogar in meine Träume hinüber. Der alte Mann auf dem Mond, scharf am Rand der Scheibe – gottverlassen und allein auf versteintem liebeleerem Mond, hinüberstarrend in die geheimnisvolle Nacht der unbekannten Seite.

Es war noch ein Ding auf Bockmannsvotshorst, das meine Einbildungskraft bewegte.

Der Knick hatte nicht weit von seinem Ende eine Einbuchtung, die Fahrt nach der Verlehntsweide ging da hinein, ein Hecktor schloß sie landesüblich ab. Man sah eine von Hütejungen aus Steinfindlingen und Rasen hergestellte Bank, prächtige vom Wall herüberhängende Goldweiden und daneben einen grünbewachsenen Erdhügel, einen sogenannten ›Dutt‹.

Der Dutt war eine historische Denkwürdigkeit. Mein Großvater hatte unter den Weiden zur Zeit der Kosakennot ein Versteck ausgeschachtet und seine Pferde darin verborgen. Das Dach, mit Grassoden belegt, hatte dem Bau ein unverfängliches Aussehen gegeben. Er war in Verfall gekommen, die Träger nicht mehr da, nur der Dutt war übrig geblieben.

Aber dieser Dutt war in meinen Augen ein Napoleonsdenkmal. Die Schauer der Bewunderung, die ich diesem Namen zollte, stiegen bei dem Dutt in mir auf; denn ohne Napoleon keine Kosaken, ohne Kosaken keinen Wall und ohne Wall keinen Dutt. Ich war also durchaus berechtigt, meinen Dutt zu dem zu machen, was er für mich war.

In der Schule wurde eigentlich Geschichte nicht gelehrt, sondern nur Geschichten aus der Geschichte vorgetragen und selbst diese gegen Vorschrift. Ich hatte aber zu Hause Hülfsmittel. Ein wenig in der Schule, etwas mehr aus dem Munde alter Leute, das meiste aus dem Buch, das auf dem Bücherbrett meines Bruders stand, ein dickes Buch, in dem nur von ihm die Rede, wo er auf jeder dritten Seite abgebildet war. Napoleon hinten und vorne, er hatte alles beherrscht, hatte alles zuschanden gemacht, er war der große Beweger der Zeit gewesen – Napoleon, mein Gott. So hielt ich meinen Napoleonshügel in Ehren, sollte aber schmerzlich um diese Liebe betrogen werden.

Meinen Bruder Hans, der nach Vaters Tod unseren Hof verwaltete, fand ich eines Morgens im Gespräch mit dem Großknecht Kassen.

»Ja«, sagte er, »dann lassen wir es dabei. Spann an und fahr den alten Dutt weg. Es ist gute Erde, und auf den Wiesen wirkt sie wie Dünger.«

Kassen hatte sich die Zähne mit einem Holzsplitter gestochert, nun warf er ihn weg und griff nach dem Hosenbund, die Beinkleider hochzuziehen. »Auf den Wiesen ists reiner Kompost. Und was solls da oben noch länger liegen?« antwortete er.

Es wurde noch besprochen, Jakob solle aufladen, ich zwischenfahren und auf der Langwiese solle abgeladen werden. Da wurde mir bei dem Vorhaben unheimlich.

Von welchem Dutt die Rede sei, erkundigte ich mich.

»Von dem auf Beckmannsvotshorst.«

»Vom Kosakendutt?«

»Natürlich.«

»Wo Großvater den Stall von gebaut hat?«

»Das ist ja mein Napoleonshügel!«

Kassen lachte. »Was hat Napoleon damit zu tun?«

Ich suchte klarzumachen, daß es sich um ein Denkzeichen an die Zeit Napoleons handele, vielleicht das letzte, das in unserer Dorfschaft vorhanden sei, fand aber kein Gehör. Ich suchte begreiflich zu machen, was ich nur dunkel fühlte, daß der Erdhaufen am Knickwall der Beckmannsvotshorst vor dem Hecktor der Verlehntsweide den Wert eines Gedächtnismales für einen über alle Menschen hinausgewachsenen Mann habe. Aber wie konnte das wohl gelingen?!

»Junge, Junge«, wurde mir erwidert, »du tühnst, das kann da doch nicht ewig bleiben.«

»Es hindert die Einfahrt, liegt überhaupt im Wege«, bekräftigte Kassen und ging hin, die Pferde aus dem Stalle zu ziehen. Es half nichts, ich mußte bei dem Vandalenwerk mittun.

Und als es geschehen war, sagte ich zu mir: Was denn?! Ein Erdhaufen ist ein Erdhaufen, es gibt bessere Zeugen für Napoleon als ein Erddutt, nicht tote Dinge, sondern denkende Menschen, Menschen mit Bewußtsein und Kenntnis ihres großen Zeitgenossen, Augen, die schon das Tageslicht erblickten, als er lebte, die die Sonne seiner Ruhmestage aufgehen gesehen haben.

Muß nicht ein ganz kleiner Abglanz meines Gottes in solchen alten Augen leben? Und habe ich sie nicht in allernächster Nähe? Haben nicht schon Mutters Augen die Sonne von Austerlitz gesehen?

Ich wollte keine Minute verlieren, diese Napoleonsaugen zu suchen. Ich wollte Mutter fragen. Der alte Schulmeister kann, dachte ich, wohl noch mehr erzählen, aber dem mochte ich nicht damit kommen. Ich wollte Mutter fragen.

Wir waren mit der Zerstörung des alten Baus rasch fertig geworden. Als ich mein Gespann ausgeschirrt hatte, machte ich mich auf, Mutter zu suchen.

Ich suchte lange und fand sie nicht, traf sie aber schließlich in einer Kammer über einem Haufen Linnen. Es war große Wäsche gewesen, es mußte alles wieder eingepackt und eingezählt werden. Nun kam ich mit meinem Napoleonsanliegen, aber da hörte sie gar nicht hin – es fehlte ein Handtuch. Vierzig waren in die Wäsche gekommen, nun warens neununddreißig. Sie besann sich aber, daß eines in den Sand gefallen sei, nachgespült worden war und wohl noch an der Leine hänge. Sie ging hinaus, es zu holen.

Und ich immer neben ihr her: »Erzähl mir was von Napoleon!«

»Ich weiß nichts von Napoleon«, antwortete sie, »geh zur Großmutter, die weiß mehr, die nennt ihn aber (das kannst dir merken) Bonapart. Als Napoleon umherwogte, war ich Kind und dachte an Äpfel und Nüsse und Pflaumen, aber nicht an Napoleon. Bohnenkaffee gab es nicht, der kostete mehrere Drittel das Pfund, wir tranken Kaffee von Roggen. Das Korn war nicht los zu werden. Vater war ein harter Mann, aber über deinen Napoleon hat er geweint. Und später kamen dann die Kosaken auch noch. Großmutter weiß alles, geh zu ihr!«

Wir waren bei der Wäscheleine angekommen, Nummer vierzig flatterte stolz im Wind. Ich aber ließ sie und ließ meine Mutter. Jetzt paßte es freilich nicht, das Horn rief aus der Bodenluke zum Mittag. Nach Tisch aber, wenn Großmutter ausgeschlafen hat und Kaffee trinkt, dann will ich zu ihr und sie nach Bonapart fragen.

 

Großmutter war ebenso alt wie Napoleon Bonaparte; nun näherte sie sich den Neunzigern. Was wird sie mir sagen? Wird es viel werden, wird es wohl das sein, was ich suche? Schwerlich. Sie ist zwar eine gescheite Frau, aber ihre Welt ist eng und in ihrer engen Welt ist sie je länger, je tiefer eingewiegt.

Ja, wenn es sich um etwas anderes, wenn es sich zum Beispiel um die Geschichte unseres Dorfes gehandelt hätte! Da hört man gerne zu. Wenn sie anfängt von Großvater und Großmutter zu berichten, und was die von ihren Großeltern erfahren haben, dann fällt eine Art Schimmer in das Dunkel der Vergangenheit. Aber das, was ich wissen will, das pflegt Großmutter auf den großen Herrgott, der sich darüber das Kommando allein vorbehalten habe, abzuwälzen.

Sie bewohnte ein paar Stuben der Südseite. Der ›Langweg‹ führte hart vorüber, prächtige Buchen wölbten sich darüber her, man sah über einen kleinen Ziergarten hinweg auf Knickland und Ackerland. Und am breit ausladenden Horizont dräuten die ernsten, bei unserm Haus überall sichtbaren Wiesen und Moore.

Mutter hatte mit ihr gesprochen, Großmutter lachte schon, als ich in die Stube kam. Sie saß vor ihrem Kaffee, eine kleine Greisin in der bäurischen Frauentracht des achtzehnten Jahrhunderts, Tücher um Kopf und Haar. Von ihrem kleinen Runzelgesicht blieb nicht viel übrig.

»Was du immer hast! Von Bonapart willst was wissen?«

»Ja, Großmutter, erzähl!«

»Hat sich was zu erzählen. Komm nur erst mal her und trink!«

Das ließ ich mir gefallen, Kaffee mocht ich ganz gern. »Hat sich was zu erzählen«, wiederholte Großmutter. Wir tranken beide.

»Einerlei, was.«

»Ja, was soll ich von Bonapart erzählen, du hast ihn ja in deinen Büchern, und hier ist er, Gott sei Dank, niemals hergekommen. Sieh, Fritz, ich hab einen dummen Verstand, und mit meinem dummen Verstand denke ich so: Bonapart war ein großer Sünder, wohl einer der allergrößten, die es je gegeben hat, einige haben ihn ja gar für den Antichrist gehalten. Und wenn er es auch gewesen ist, auch der Antichrist kommt nicht von ungefähr und nicht anders als in der Gestalt von unserer Sünde Sold, und Gott allein weiß, weshalb er ihn geschickt hat.«

»Meinst du, Gott hat Bonapart geschickt?«

Die alten Augen sahen mich scharf an. »Was ist das für 'n Schnack, Fritz? Ist das 'n Frage? Wer soll ihn sonst geschickt haben, wenn nicht der liebe Gott? Kann denn im Himmel und auf Erden was geschehen, das nicht sein Wille ist?«

Die Wendung des Gesprächs wollte mir nicht recht behagen. »Erzähl mir was von den Kosaken, Großmutter!«

Und Großmutter erzählte was von den Kosaken. Lange hatte es grade nicht gedauert, wie die Kosakenzüge unsre Bauern gebrandschatzt. Es war aber in so gründlicher Weise geschehen, daß der Schrecken noch lange im Volksmund nachgelebt hat und im Grunde auch heute noch nicht tot ist. Selbst nach Abzug der Truppen hatten einzelne Marodeure die Gegend unsicher gemacht.

»Sie waren aber nicht alle echt«, fügte Großmutter hinzu und stieß mit ihrem Handstock auf die Dielen. »Nicht alle waren echt, die meisten waren wohl im Land geboren, trugen falsche Bärte und hätten unsere Sprache gut sprechen können, wenn sie nur gewollt hätten. Im Moor, wo jetzt Klaus Ahlmanns Kate steht, wohnte damals ein Mann, der mit Nachnamen Schüssel und mit Vornamen Kai hieß. Vor der Kosakenzeit war es nicht viel mehr als eine Hütte, worin er wohnte, ein Ding, wo es im Bett nicht viel weniger regnete als im Wischhof. Nach der Kosakenzeit deckte und ›unterlehnte‹ er sein Haus und wohnte wie einem Palast. Keiner wußte, wo er das Geld her habe. Jeder dachte sich aber nichts Gutes. Im Dorfe hieß Kai Schüssel schon längst der Kosak. Da begab es sich zu einer Zeit, wo das Gerede schon halb in Vergessenheit gekommen war, daß beim Bauervogt Thiessen eingebrochen und Geld und Korn gestohlen wurde. Und die Schneespuren liefen nach dem Moore hin, wo Kai wohnte. So wurde Haussuchung bei ihm gehalten, und da fand die Obrigkeit wohl nicht das, was sie suchte, aber sie fand im Bettstroh eine ganze Menge silbener Löffel und Messer und Gabeln mit dem Namen Elsa von Rumohr. Die waren dem Amtmann von wilden Kosaken geraubt worden. Schüssels Frau war ein halbes Jahr weg, Kai aber ist aus dem Zuchthaus, wohin er geschickt wurde, lebendig nicht wieder herausgekommen.«

»Aber Napoleon ... Bonapart wollt ich sagen! War viel von ihm die Rede?«

»Viel nicht, mein Fritz. Bei uns Bauersleuten wurde wohl mehr an ihn gedacht als von ihm gesprochen. Wir hatten für den kommenden Tag zu sorgen, damit wir zu essen hatten. Ängstlich taten wir es nicht, das will der Heiland auch ja nicht mal haben, wir vertrauten auf Gott; aber unsere Not hatten wir doch so viel, daß wir nicht von Leuten sprachen, die wir nicht kannten. Und Wochenblätter las nur der Schulmeister. Wir kamen nicht einmal viel mit Nachbarn zusammen. Aber wenn dann das Gespräch auf Bonapart kam, dann kam da nicht viel Gutes an den Tag.«

»Was sagte und dachte man denn?«

»Ja, mein Fritz, man sagte und dachte so: Bonapart ist ein böser Mann, aber Gott hat ihm die Macht gegeben. Gott wird schon wissen, warum und wie lange und wann ein Ende zu machen ist. Und ich selbst dachte, die Welt da draußen und die Menschen in den großen Städten sind, das wird wohl der Grund sein, zu klug geworden, wollen klüger sein als der Herr im Himmel selbst und als er in seiner Allmacht zulassen kann. Und aus lauter Klugheit ist das Volk auch im Leben übermütig geworden und hat seiner rechtmäßigen Obrigkeit nicht mehr gehorchen wollen. Da hat der liebe Gott gesagt: Gut, paßt euch die alte Obrigkeit nicht mehr, dann will ich euch eine neue geben, will mal sehen, ob die euch besser gefällt. Da haben sie denn ja auch gesehen, was die neue Obrigkeit gebracht hat: Krieg und Kriegsnot und Hunger und Elend und Drangsal und Wehklagen und Wirrwarr. Ob Bonapart der Antichrist der Offenbarung gewesen ist, weiß ich nicht, aber was er auch gewesen ist, eine Geißel war er in des Herrn Hand, und dazu hat Gott sich den schlechtesten Menschen genommen, den es wohl gegeben hat.«

Als Großmutter das gesagt hatte, platzte bei mir ein Wort, ein Gedanke heraus, den ich gleich nachher gern wieder eingefangen hätte: »Großmutter, wie kann er böse gewesen sein, wenn er Gottes Willen tat?«

»Kind, was schnackst du da? Alles Böse und alles Ungerechte geschieht mit seinem Willen. Es gibt doch nichts was gegen sein Gefallen getan wird, kann es nicht geben. Aber für uns Menschen ist es ein Prüfstein.«

»Großmutter ...« Ich wollte noch was fragen, wollte ihr Steine ins Geleise wälzen, kam aber nicht dazu. Ich sah Großmutters Gottvertrauen und Eifer und rührte nicht mehr daran.

»Großmutter!« hatte ich gesagt, die alte Frau hatte wohl nicht einmal gehört, sie saß still in ihrem Stuhl. Ich wußte vorderhand auch nichts mehr und sah aus dem Fenster. Die Buchen, wölbten sich hoch in die Luft hinaus. Die Sonne warf lichtes Gold durch Blätter und Zweige und warf die Fensterzeichnung auf die mit Sand bestreuten Dielen. Auf der Koppel jenseits des Weges eggten Gespanne den Schritten von Kassen nach. Kassen Großknecht trug einen Saatsack um den Nacken und senkte Tritt für Tritt und Wurf für Wurf die blanke Saat in den Acker. Und wie Goldregen fiel es in die dampfenden Furchen. Goldregen fiel in die dampfende Erde, und Napoleon war ein böser Mensch.

»Du meinst, Großmutter, Bonapart war bös?«

»Ja, Kind«, antwortete sie, »das kann doch wohl nicht fraglich sein. Wenn irgend einer bös gewesen ist, war es doch Bonapart. Und ...«

Sie stockte, wie überlegend, ob sie aussprechen dürfe, was sie dachte, und überwand ihre Bedenken.

»Kind, wir wollen dem großen Herrgott nichts vorschreiben und nichts besser wissen wollen als er, aber nach unserm dummen Menschenverstand muß Bonapart in der Hölle noch tausendmal mehr leiden als Sören Sörensen, der den Schneider auf Brammerfeld erschlug und ihm dreizehn Schillinge abnahm. Ist er doch mit tausendmal mehr Blut beladen in die Ewigkeit gegangen.«

Sie faltete fromm die Hände. »Wenn man bedenkt, Fritz... Nun brennt er schon so viele Jahre und wird ewig an seinem Leibe brennen.«

Vor mir die kleine im Stuhl zusammengesunkene Greisengestalt; sie schüttelte sich vor Schauder und Zorn, aber auch vor Mitleid und Liebe, und Zorn und Mitleid und Liebe galten der armen Seele des großen Napoleon. Draußen hoben sich stolze Baumkronen, und aus den Kronen erklangen Lieder der Lust und der Freude und der Liebe. Blumen drüben im Garten, und Goldregen aus Kassens Hand – Napoleon aber in der Hölle in unerträglicher Qual.

Ich sann und träumte, und schließlich weckte mich Großmutter. »Fritz, es ist schrecklich, das auszudenken... Er war doch auch ein Mensch, ist von einer Mutter geboren worden, und eine Mutter hat ihn geliebt. Was weiß ich, was wissen wir? Gott ist die Liebe, und vielleicht hat er in seiner Fülle auch für den Sünder Bonapart noch ein Tröpfchen Gnade.«

Schweigen – und immer noch Goldregen der Auferstehung aus Kassens Hand.

»Großmutter...«

»Was, mein Kind?«

»War da kein einer im Dorfe, der was von Napoleon, ich meine von Bonapart, hielt? Ich meine, einer, der da sagte, er sei ein großer Mann, er sei, was man Genie nennt, das heißt ein Mensch, der mehr kann als andere Leute, ein von Gott mit einem Verstand, der alle anderen himmelhoch überragt, ausgerüsteter Mann – den man bewundern muß, weil er ein Wunderwerk von Gottes Allmacht und Weisheit ist? War da kein einer, der ihn so ansah?«

Großmutter lachte. »Ja, wenn du das so meinst, dann war da wohl einer, der was von ihm hielt. Damals war er jung, nun ist er alt.«

›Lebt er noch?‹

»Er lebt, ist aber ein alter Mann, wenn auch nicht so alt wie ich, du kennst ihn ganz gut.«

»Es ist der alte Schulmeister.«

»Just der. Ich war in den Dreißigern, da kriegte er den Dienst hier. Deine Mutter ist bei ihm zur Schule gegangen, und dann die andern alle und du auch ja wohl noch.«

»An den hab ich schon gedacht«, warf ich ein.

»Er war damals ein Jungkerl, in Bonapart ganz vernarrt, gröhlte von ihm im Dorf herum, als sei er der Herrgott selbst. Kannst ja mal hingehen und ihn fragen!«

Großmutter griff nach ihrem Handstock, mit dem sie in der Stube herumzutöffeln pflegte, legte ihn aber wieder aus der Hand. ›Das muß ich dir noch sagen vom Schulmeister: mit Bonapart, da ist was dazwischen gekommen, da ist er nicht so gut Freund mit geblieben.«

»Nicht Freund?«

»Nein, er hat gegen ihn in den Krieg ziehen wollen. Ganz wunderlich, nicht wahr? Unser König war doch Bonapartens Freund.«

›Das hat der alte Schulmeister getan?«

›Lief einfach vom Schuldienst weg, über Lübeck ins Deutsche hinein. Das war, als Bonapart, von Gott geschlagen, aus Rußland zurückkam und die Völker, wie man sagte, gegen ihn aufstanden. Der Schulmeister hatte im Sinn, ins Preußische zu gehen und dort Soldat zu werden. Er ist aber im Mecklenburgischen aufgegriffen und zurückgebracht worden. Und er konnte, meinten die Leute, von Glück nachsagen, daß er nicht totgeschossen worden ist.«

 

Das war der alte Schulmeister, der am Rand der Mondscheibe stand und in die Nacht der unbekannten Seite blickte; fünf Jahre lang hatte ich noch bei ihm die Schule besucht. Als kleiner Fibelschütze hatte ich am ersten Tag von ihm ein Schweineschmalzbutterbrot verlangt und auch erhalten. Am zweiten Tag hatte er, als ich wieder um mein Frühstück bat, den Schlüssel zum Brotschrank verloren; er hat ihn niemals wiedergefunden. Seine Unterrichtssprache war plattdeutsch plattdeutsch auch seine Umgangssprache, plattdeutsch sogar sein Religionsunterricht, mithin auch die Bibelauslegung. Und wo es sich nur irgendwie mit dem Unterrichtsgegenstand vertrug, da rauchte er. Beim Singen wurde die Pfeife zugleich Dirigentenstab. Alt war er schon, als ich zur Schule kam. Gegen die Mitte der Siebziger vertrug er das Schulhalten nicht mehr, da kamen auch Regulative auf, die ihm nicht paßten, und auf seinen Wunsch erhielt er in seinem frisch aus der Stadt zurückgekehrten Sohn einen Stellvertreter, der die Hauptlast übernahm.

Er war ein eigener Mann. Ich merkte zwar aus kleinen Anzeichen seine besondere Gewogenheit, aber so nahe, wie ich gerne an ihn herangekommen wäre, gelangte ich nicht. Ich litt unter Befangenheit; der Alte hätte sie gern hinweggescheucht, aber das Wie schien auch ihm nicht gegeben zu sein. Aber immer spielte er in meinem Dichten und Trachten eine Rolle. Nicht allein in der Beckmannsvotshorst, öfter noch kam mir ein anderes Bild:

Es ist hell und sonnig, und hell und sonnig der Tag, an dem er vom Schulhause nach seinem Immenhagen hinübergeht ... groß, mager, ein wenig gebeugt. Es ist um die Zeit, wo die jungen Völker ausschwärmen – da sehe ich ihn in altdeutscher Bauerntracht: Rundhut, farbige Wollweste, kurze Beinkleider, lange Strümpfe, silberne Kniespangen.

Und noch ein Bild:

Drei Jahre schon ist der Vertreter da, der Alte lebt seinen Immen und seinem Garten und seinen Büchern. Ich bin in der Schule nach oben gerückt; ich sitze als Erster auf der Knabenseite. Es ist Rechenstunde, der Lehrer hat sich leise gedrückt; man sieht ihn im Garten eifrig graben, denn es ist Frühling und die Kartoffeln sollen gelegt werden. Im Schulzimmer rechnet jedes Kind nach Kroymann auf der Tafel, es geht zur Not auch ohne Aufsicht. Aber die Tür öffnet sich, und der Alte kommt herein, das Wochenblatt und ein großes Quartbuch in der Hand, die Pfeife im Munde. Und mit Pfeife und Zeitung und Buch setzt er sich zu mir auf die Bank. »Nu steck man mal die Tafel ein, wollen ein bißchen lesen«, sagt er und pafft seine Wolke bis zur dritten Knabenreihe.

Erst las er mir aus der Zeitung vor, ich weiß nicht mehr was, ich weiß nur, daß darin vom Deutschen Bund und von Schleswig-Holstein die Rede war.

»Es ist ein Jammer!« murmelte der Alte und ließ die Hand auf den Schultisch fallen. »Wollen was Besseres nehmen.« Er schlug das mitgebrachte Buch auf und las mir die Geschichte der elf Offiziere vom Schillschen Korps vor, die die Franzosen 1809 in Wesel erschossen haben.

»Sieh, mein Sohn, das waren Männer! Hier das Bild!« Er zeigte mir den Holzschnitt. Zehn der Tapferen waren hingestreckt, einer stand noch aufrecht. »Schießt Ihr so schlecht?« Mit der Linken (die Rechte war den toten Kameraden angeseilt) riß der junge Held seine Uniform auf und entblößte seine Brust. »Hier, hier sitzt das preußische Herz!« Eine neue Salve, und auch er war dahin.

»Das waren Männer«, sagte der Alte. »Sie starben mit einem Hoch auf das Vaterland und, soll auch gut sein, auf ihren König. Was Treue ist, kann man an diesen Helden sehen.«

Dem Napoleonsverehrer stand das Naß in den Augen. »Man wird besser«, setzte er hinzu, »wenn man so was liest.«

Ich habe oft an den Augenblick denken müssen, wo der Alte bei mir auf der Bank saß, aber beharrlicher war doch das andere Bild – sonnbeschienen, lang und mager, altdeutsche Tracht, langsam über den Weg nach den Immen, und alles in blauem Duft. Nicht nur im Duft des Sommertags, sondern auch in dem der Vergangenheit, des halben süßen Vergessene.

Dort, wo der Knickwall der Beckmannsvotshorst zu Ende geht und die auf Tiefmoor ruhenden Wiesen anfangen, dicht bei dem einstmaligen Napoleonshügel, stößt scharf nach Westen hin eine Sandader ins Sumpfland hinein – eine schmale Halbinsel, Eldorado der Regenwürmer und Maulwürfe. Die vielen Haufen des blinden Bergmanns sind Jahr für Jahr ein rechter Ärger für den Landmann. Sie müssen beseitigt werden, damit das Gras durchkommt. Nun gab es freilich auch schon damals Landwirte, die das in grober Weise besorgten und die Erde mit Pferden und Eggen (in den Zinken war Busch geflochten) auseinanderwarfen. Auf meines Vaters Hof tat man das aber nicht, da wurde an der alten, feineren, gründlicheren Art festgehalten. Man nimmt die kurze Düngerforke, wirft die Haufen auseinander und zerreibt alles gleichmäßig mit dem Rücken der drei Zinken auf dem Gras. Dann können die Gräser durch, die frische Humuserde hat sogar befruchtende Wirkung.

Seit Zerstörung meines Napoleonshügels war ein Jahr vergangen, und noch immer hatte ich die beste Quelle meiner Begeisterung nicht ausgegraben, dem alten Schulmeister meine Seelennot nicht vorgetragen. Daran dachte ich, als ich, die Forke auf der Schulter, nach Beckmannsvotshorst ging, die Maulwurfshügel zu bekriegen.

Nun schien es zu spät; der Alte wird in den nächsten Tagen unsern Ort verlassen, die Schulstelle ist neu besetzt. Die Obrigkeit hat gesagt, die Stellvertreterei müsse ein Ende haben, wenn der Schulmeister zu alt sei, müsse er abgehen und Pension nehmen. Der Sohn hat von Anfang an mehr Lust zur Landwirtschaft als zum Schulamt gehabt, er hat sich weiter nach Westen hin eine Bauernstelle gekauft, und der Alte zieht mit ihm.

Wenn ich heut abend hinginge, dachte ich – da schlug die etwas scharf gewordene Stimme des Schulmeisters an mein Ohr: »Na, Fritz, willst den Maulwurfshaufen was?«

Ich erschrak förmlich. Wie mußte ich geschlendert haben, wenn so alte Leute einen einholen!

»Godn Dag, Fritz!«

»Godn Dag, Persetter!«

»Na, willst den Sandhaufen zu Leib?«

»Ja.«

»Auf Beckmannsvotshorst?«

»Ja.«

»Dann gehen wir zusammen; ich wollte nach meiner Wiese hinunter. Es ist, denk ich, das letzte mal, und da freut es mich, Fritz, daß ich dich treffe.«

Ich wußte nichts zu erwidern.

»Hättest auch gerne mal kommen können nach dem Schulberg rauf, mein Jung. Aber hast dich wohl nicht getraut, bist wohl blöde, was?«

»Ja«, antwortete ich.

»Ich kenne dich«, erwiderte der Alte. Mit krummen Knien und graden Schritten, den Stock in der Rechten, die Pfeife in der Linken, plauderte er neben mir her.

»Das Schulhalten konnte ich nicht mehr vertragen. Ich hatte mit Leib und Magen zu tun. Nun, da ich öfter in der frischen Luft bin, weiß ich nichts mehr davon. Meinem Sohn gehts auch so; er bekommt nun ja auch seinen Willen.«

Der Alte rauchte und sprach: »Wenn ich nur nicht von hier fort müßte, Junge! Ich glaub, das gibt mir den Rest. Johann nimmt es leichter. Ist es ein Wunder? Er ist jung, ich bin alt. Ein alter Baum verpflanzt sich schwer.«

»Ja«, antwortete ich. Ich wußte nichts anderes zu sagen.

»So ein junger Mensch, wie du, sagt ›ja‹ und denkt sich nichts dabei. Ich sage auch ›ja‹ füge aber hinzu: es muß sein! Und denke dabei allerlei.«

»Fritz«, sagte er plötzlich, stand still und sah mich an, »glaubst du, daß man die Kinder so leicht vergißt, das Gejauchze und Geschwärme und Gelärme? Ihr habt mich oft geärgert, so laut wart ihr, aber lieb war es doch.«

»Nun«, setzte er wie in Gedanken hinzu, »wir bekommen ja eigenen Grund und Boden, und das ist auch was wert.«

Er kam auf ganz Intimes, auf die Heirat seiner Tochter mit einem gewissen Schwarz, die ein Unglück für beide Teile gewesen sei. Sie sei denn auch im ersten Kindbett gestorben.

Wir waren auf Beckmannsvotshorst angekommen und gingen zwischen Knick und Einsamkeit entlang. Aufgeregte Kiebitze kamen in Scharen angeflogen und stießen in hurtigem Flatterflug nach unsern Köpfen. Und ein Geschwärm ringsumher, Lieder und Koseworte kleiner behender Watvögel – hierher... dorther... überallher – und überall unsichtbar.

Ich wurde freier und vertrauter, brachte es zuletzt zu verständigen Antworten, dachte sogar an meinen Napoleonshügel und ernannte mich zum Weissager des Vogelflugs. Wenn die beiden großen Vögel, die langsam über die Wiesen streichen, sich vor dem Moor setzen, dann wird nichts draus, wenn sie aber über die Au nach dem Moor fliegen, dann wird es glücken, dann bringe ich den Alten auf Napoleon. Und beide Vögel, es war ein Storchenpaar, flogen über die Wiesen und Au nach dem Moor.

Der Marsch mochte den alten Mann ermüden; er stand still, atmete tief und sah in die Weite. »Sieh, mein Sohn! Weit bin ich gerade nicht in der Welt herumgekommen, aber ein kleines Stück habe ich doch gesehen, mehr als so ein Kiekindiewelt, wie du bist.«

Er sah mich begütigend an. »Ja, noch bist du ein Kiekindiewelt, bist mithin glücklich, siehst die Welt mit Kinderaugen an. Zu lange wirds ja nicht mehr dauern. Ich hab die Ahnung, daß du hier nicht bleiben wirst; dazu bist du zu apart. Und ich denke, ein halbes Dutzend Jahre, und der Jung, der Fritz, kann mich Kiekindiewelt nennen, wenn ich dann noch lebe.«

Und wieder sah der alte Schulmeister auf das dahinter aufstarrende Moor, auf die blaue Lasur des Horizontes und auf die leicht hinfließenden Schleier weißer Wolken. Und er reckte die Arme, als wolle er alles umfassen.

»Wo du auch hinkommen magst, Fritz, vergiß die Heimat nicht! Sie kann sich mit vielem auf der Erde messen, was mehr gerühmt wird als diese schlichte Gegend. Nimm sie hin, ganz hin in dein Herz! Mach die Augen auf! Heut hast du noch alles beisammen, nimm, wie es vor dir liegt! Mach die Augen recht weit auf, und behalte die Stunden im Gedächtnis, wo du mit dem alten Schulmeister zusammen auf Beckmannsvotshorst im Bekassinengesang und Kiebitzgeschrei über Wiesen und Moor gehst. Weit auf! Glaub mir, es ist nicht immer die allgemeine Erinnerung, was man ins Leben mit hineinnimmt, oft ist es die eines besonderen Tages, woran man Jahr für Jahr zehrt. Ich bin im Westen zu Haus, wo die Marsch sich dehnt und die Wolken aus dem Meer aufsteigen und die Brandung am Deich heraufspringt. Einmal ging ich mit Vater über Feld, da sah ich eigentlich zum ersten mal die Marsch, so nahm ich sie mit mir. Und ein ander mal war ich bei Hochflut auf dem Deich. Da sah ich das Meer, und so hab ichs behalten. Wer weiß, vielleicht ist der Tag dieser Sonne der glückliche, der dir bis ans Lebensende sagen wird, wie schön und gewaltig deine Wiesen und deine Moore sind!«

Ich schwieg, sah dem Alten aber in die leuchtenden Augen. Das war mein Dank für das, was in mir wogte und wallte. Ich wußte, daß ich es mit mir nehmen würde, ich wußte auch, daß die Worte des Alten sich mit der Kraft der Weissagung in meine Seele eingruben.

Noch immer trug ich die Dreizinkige auf der Schulter und hatte die Absicht, die Maulwurfshaufen zu bekriegen. Und der Alte stand wieder still, um sich vom Reden und Gehen zu erholen. Die Asche schüttete er aus, blies das Letzte in die Winde, ließ den Saft auslaufen und steckte die Pfeife in die Tasche.

»Allmählich fühlt man doch die Jahre«, plauderte er. »Noch nicht lange, da wußte ich beim Gehen nichts davon. Aber jetzt bei Märschen, zumal wenn ich dabei spreche, dann mag ich nicht mehr, dann schmeckt, wunderlicherweise, die Pfeife auch nicht mehr.«

»Oben beim Heck nach der Verlehntsweide hin ist eine Bank, da kann man schön sitzen«, bemerkte ich.

»Für einen alten Mann ein bißchen frisch im Wetter, mein Sohn, aber einen Augenblick wirds wohl gehen. Wo ist denn das Ding?«

»Wir sind gleich da; früher war da ein Napoleonshügel.«

Der Alte erinnerte sich des Winkels und der Wicheln, gleich darauf saß er auf der Bank.

»Sagtest du nicht was von Napoleon? Was war mit Napoleon?«

Ich zeigte ihm, wo mein Heiligtum gestanden hatte, und kramte meinen ganzen Seelenjammer aus. Was Mutter gesagt und was Großmutter gesagt. Zuletzt bat ich ihn, mir auch was von Napoleon zu erzählen.

»Warum hast du mich nicht längst gefragt?«

»Ich mochte nicht.«

»Das heißt, du getrautest dich nicht, du warst zu blöde. Nimm mir nicht übel, aber das mit deiner Blödigkeit das ist Torheit. Man kann so schwer an dich herankommen. – Also von Napoleon willst was wissen? Ja, da ist viel zu sagen ... das war einer.«

Der alte Schulmeister lachte; man sah die beiden langen Vorderzähne, die er noch sein eigen nannte.

»Ja, das war einer. So einer kommt nicht mal alle paar hundert Jahr. Ob er größer gewesen ist als der alte Fritz oder Karl der Große und andere, das weiß ich nicht: die Umstände, die Zeit, die Aufgaben, die die Zeit zu lösen gibt, alles das spielt mit. Es gibt Leute, die sagen: die Zeit macht die großen Männer. Und wunderlich ist es, daß sie immer da sind, wenn sie nötig werden. Da ist Cäsar. Hast mal was von ihm gelesen? Ja? Schön, aber wir wollen ihn in Ruhe lassen. Da bist du noch zu jung zu, wollen, wenn Gott es zuläßt, ein paar Jahre ins Land gehen lassen. Und dann von Cäsar und von Napoleon miteinander reden.«

»Nicht wahr«, fuhr der Alte fort, »du missest Napoleons Größe jetzt nach Zahl und Glanz seiner Siege ab und nach den Tausenden, die seinetwegen haben ins Gras beißen müssen, und vielleicht nach den Quadratmeilen seines Reiches?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich, aber es war so, wie Persetter sagte. Und da ich einmal das Wort hatte, wagte ich die Gegenfrage: »Persetter, war Napoleon böse?«

»Böse?«

»Ich meine, ob er vor Gott böse war, daß er jetzt in der Hölle ist.«

»Wie kommst du darauf?«

Ich wiederholte, was ich mit Großmutter darüber geredet hatte: Napoleon ein Abgesandter Gottes, nach seinem Willen handelnd und doch in der Hölle.

»Junge, Junge, was sind das für Sachen?«

»Ist es wahr, Persetter? Und wenn es wahr ist – ist unser Herrgott dann immer noch der Allgütige und Allmächtige?«

Der Alte sah mich ernst, ein bißchen unwillig, aber immer sinnend an, stand auf und sagte: »Wenn man lange sitzt, verkühlt man sich, und unsere Zeit wirds auch.«

Er nahm Pfeife und Tabaksbeutel und stopfte und sah nachdenklich drein. Und holte aus der Tasche Stahl und Schwamm und Stein und schlug Feuer und fing an zu rauchen. Und ging...

Und auf der freien Weide am Knickwall gab er mir die Hand. »Ich geh nach meiner Wiese hinab, und du schlägst dich mit den Maulwurfsbergen. Aber wenn ich zurückkehre, komme ich noch mal zu dir ... Schwerer als vieles andere fällt es mir, dich hier zu lassen, mein Jung. Ich halte was von dir, das kannst du glauben. Aber es muß sein, vieles muß sein. Hoffentlich ist es nicht für immer. Du hast versprochen, mich zu besuchen, das ist schön, das sollst du aber auch tun. Sieh, wenn ihr die Frühjahrssaat in die Erde gebracht habt, dann gibts so vierzehn Tage, wo nicht viel los ist. Kompost ist weg und Grasmähen noch nicht angebracht, dann komm hin!«

Das sagte ich zu.

»Und zum Schluß will ich dir auch noch eine Art Bescheid geben auf das von Napoleon, was du zuletzt fragtest. – Frag du man dreist zu! Das und Ähnliches wirst du noch viel fragen im Leben. Fragen steht jedem frei – Antwort wirst du aber nicht bekommen. Und das kannst du dir merken: überall, wo man was wissen will, woran einem gelegen ist, was über das mit Händen zu Greifende hinausgeht, da kriegt man keine Antwort. Wo man Gänge verfolgt, die ins Überirdische oder auch ins Unterirdische gehen.

da stößt man auf verschlossene Türen. Da kann man klopfen, so viel man will, kein Mensch, kein Professor, kein Weiser und auch kein Gott sagt: herein! – Ich weiß nicht, und kein Mensch weiß es, ob Napoleon, der ganz sicher nur das tat, was zu tun und zu vollenden Gott ihn erschaffen hatte, dabei aber nach gewöhnlichen Begriffen ein gottloser Mensch war, ob der vor seinem Schöpfer ein Sünder gewesen ist und dafür Strafe leiden muß. Ich weiß auch nicht, ob vor Gottes Allmacht überhaupt ein sündhaft freier Wille des Menschen möglich ist.«

Der Alte reckte seinen Stab zur Höhe, es hatte den Anschein, als wolle er reden, mich auf die Lösung aller Rätsel im Jenseits vertrösten, schloß aber doch die Lippen, nahm seinen Stab an die Erde und ging.

»Adjüs, Fritz! Adjüs, mein Jung, bis auf nachher!«

Da ging er hin – lang, mager, etwas krumm, mit dünnen Beinen und Waden, in langen Strümpfen und Kniehosen, einen ganz alten und ganz weichen Rundhut auf dem Kopfe. So ging er das Wagengeleise hinunter in die Wiesen hinab. Umschwärmt von Bekassinengesang und Kiebitzgeschrei, strebte er seiner Wiese, die am feuchten Flußufer lag, zu. Einen Augenblick stand ich still, ihm nachzusehen; dann besann ich mich auf den Zweck meiner Anwesenheit und fing den Verwüstungskrieg gegen die Maulwurfsberge an.

 

Eine halbe Stunde mochte ich gearbeitet haben, die Ergebnisse meines Fleißes lagen als schwarz und sauber gebreitete Maulwurfserde am Boden. Da war mir, als hörte ich Schritte, da legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter.

»Mein Fritz«, sagte der Alte, denn der alte Schulmeister stand hinter mir, »mein Fritz, ich war schon bei Klaus Wiebens Rethwiese. Ich komme noch mal zurück, ich hab es mir anders überlegt; wir wollen jetzt Abschied nehmen. Nachher bist du am andern Ende, da spreche ich dich nicht mehr.

Du willst sagen, du willst mir entgegengehen; du willst sagen, du kommst morgen zu mir. Tu das nicht, mein Sohn! Den Raub an der Arbeit wollte ich schon verantworten, aber einmal muß es doch sein. Du willst sagen, du willst mich wegfahren. Tu auch das nicht! Wir wollen uns jetzt Adjüs sagen. Sieh, just jetzt ist mir nach Abschiednehmen zumute, und ich glaube, dir auch.«

»Und dann«, fuhr er fort, »komme ich auch wegen sonst was. Wir sprachen von Napoleon und daß er ein so großes Genie gewesen sei. Wir sagten das, obgleich er unser deutsches Volk mit Füßen getreten hat. Das ist ja das Wunderbare bei dem Genie, daß wir das Göttliche in ihm ahnen und anbeten, auch wenn es uns als Feind entgegentritt. Ich habe mich für Napoleon begeistert, du hast es getan. Als wir es taten, waren wir beide im Recht. Aber das merke dir, mein Sohn: Deine Liebe gehöre deinem Volke allein! Gedenke stets, daß du ein Deutscher bist! Du darfst es mit Stolz tun, es gibt kein besser Volk im Erdenrund.

Denke daran! Ich bin alt; ich habe meine Pflicht zu tun versucht; ob es genügt, ich weiß es nicht. Doch du bist jung; wer weiß, an welchen Platz das Geschick dich noch mal stellt. Drum sag ich: gedenke stets, daß du ein Deutscher bist!

Und weil wir so jung uns nimmer wiedersehen, wer weiß, ob überhaupt, und weil wir uns nun mal in der Beckmannsvotshorst getroffen haben, und weil nun mal ein besonderer Tag auf uns herniederscheint, sollst du mir in meine alte Hand versprechen: du willst dran denken, daß das deutsche Volk dein eigen Volk ist, willst stets vor Augen haben, daß deutsches Land der Boden ist, aus dem du entsprossen bist. Gedenke dessen, denk allezeit daran!«

Meine Forke lag am Boden; die beiden Hände hatte mein alter Freund.

»Du brauchst mir nichts zu sagen, ich weiß, wie du es meinst; ich weiß auch, daß das Gedächtnis dieser Stunde in deinem Herzen bleibt, so lange wie es pocht.«

 

Der Tag verging, die Sonne wiegte sich als voller, runder und milder Feuerball ein paar Linien über dem Horizont. Auf den Wiesen wurde es still, und vom Oldenbüttler Moor strebte mein Storchenpaar dem Dorfe zu.

Ich arbeitete auf dem letzten Viertel des Sandrückens, da kam der Schulmeister mit langem Stock, ein wenig krumm, ein bißchen müde, ein bißchen schlaffen Ganges von seiner Wiese herauf. Wie er den Rücken meiner Sandader überschritt, stockte er und sah nach mir. Sein Stock wuchs wie ein langer Zeiger in die Höhe. Ich verstand die Sprache: Denk an das, was du gelobt! Und eh ich wußte, wies geschah da ragten meiner Forke Zinken, drei eherne Finger einer Eideshand, im Abendleuchten auf. Der Alte schwenkte seinen alten Hut; er hatte meinen Schwur entgegen genommen und schritt mit ihm davon.

 

Wohin? – In die Ewigkeit.

Am frühen Morgen fand man ihn tot im Bett. Ein Schlaganfall hatte seines Erdenwallens Ziel gesteckt. Oft noch träume ich von dem guten, treuen Mann. Aber ich sehe ihn nicht mehr am Rand der Mondscheibe, auch nicht sonnbeschienen am Immenhagen – jetzt stehe ich auf Beckmannsvotshorst und schwöre ihm mit eiserner Hand, zu denken stets, daß ich ein Deutscher bin.

Wo der Knick scharf nach der Ziegelweide umbiegt, hob sich zum letzten mal sein Schattenriß ab. Ein alter, gebeugter Mann mit langem Stock und treuem, langsamem Schritt.


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