Timm Kröger
Aus alter Truhe
Timm Kröger

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3

Er brauchte nicht, wie Lichtenberg gewollt, von Göttingen nach Hamburg auf den Knien rutschen, um einen Zipfel des uns von der Ewigkeit trennenden Vorhanges zu lüften, er brauchte nur Blatt für Blatt zu wenden und den geheimnisvollen Sinn der hingewirbelten Zeichen entwirren.

»Mutter«, sagte er eines Tages, »das sehe ich immer klarer, ich habe es zu gut gehabt. Ohne Prüfung kann keiner in den Himmel kommen, ich werde noch mal vom Hause geschickt werden, ich werde noch mal Mensch werden müssen.«

Die Angeredete wußte nicht recht, was sie antworten sollte. Diese Art zu denken und zu träumen war ihr fremd. Sie antwortete nur: »Wilhelm, schlag dir doch solche Gedanken aus dem Kopf!«

»Warum, Mutting? Ich möchte gern wissen, wie dein Wunsch ist. Soll ich wiederkommen?«

»Kind, Kind! Versündige dich nicht! Kann man überhaupt zurück? Steht das, daß man noch mal Mensch wird, in der Bibel?«

»Nein, in der Bibel steht es nicht.«

»Dann wirds auch nicht so sein, denn an die Bibel müssen wir uns doch halten. Nicht wahr, mein Sohn?«

»Die Bibel, Mutter, ist zwar ein dunkles Buch, aber wenn man gewisse Teile und gewisse Kapitel ausnimmt, auch ein gutes Buch. In der Sittenlehre des neuen Testaments liest man, wie ein großer Gelehrter sich ausgedrückt hat, erschütternde Wahrheiten. Aber das letzte Wort, Mutter, in allen Dingen das letzte Wort ... darf man doch wohl nicht in der Bibel suchen. Und deshalb kann Seelenwanderung sehr wohl sein, obgleich es nicht in der Bibel steht.«

»Aber Wilhelm, kleiner Wilhelm ... das hört sich ja gottlos an.«

»Gottlos? Daß ich nicht wüßte.«

»Doch, mein Sohn.«

Er wollte darauf erwidern: ›Wie kann etwas gottlos sein, wenn es zu nichts anderem als zu Seiner Ehre geschieht?‹ Er sagte es nicht, die gute Mutter hätte es doch nicht verstanden. Aber ihm war klar bewußt, daß er es hätte sagen dürfen. Ihm diente all sein Denken dazu, die hohen Werke des Allmächtigen Tag für Tag und mehr und mehr zu ergründen.

Und nun kam auch Hannchen zur Tür herein. Mit der war ebensowenig gut philosophieren, das wollte er aber auch nicht. Denn dem kranken Schwärmer war, als sehe er jetzt am hellen wachen Tag in der Stube hinter ihr ein verklärtes Abbild. Erst hatte sie die Rechte erhoben, und in der Silberschale wogte und schäumte die köstliche Verheißung gegen den Rand. Dann war die Schale verschwunden – nun trug sie das Wunder eines neuen kleinen Menschenkindes in mütterlichen Armen.

»Sieh, Mutter«, sagte er unwillkürlich, »da kommt sie hereingeschritten, durch die mir Heil widerfahren wird.«

»Was habt ihr?« fragte Hannchen, da stand sie mitten in der Stube.

Der kranke Wilhelm sah sie und ihre Schönheit jetzt mit klaren und nüchternen Tagesaugen an. Und sie stand nüchtern und allein wie andere Menschen sonst in der Stube.

»Was habt ihr?« hatte Hannchen gefragt. »Ach, unser Kleiner ist immer so wild, spricht von Sterben und fragt, ob er noch mal Mensch wird. Und von dir spricht er, als ob du ihm was bringen würdest, was er das Wunderbare nennt. Er weiß aber selbst nicht, was es ist.«

Hannchen antwortete nur: »Ja, Wilhelm spricht immer so gut von mir.«

»Mutter«, fing sie plötzlich an, »ich hab heut nacht von Harald geträumt. Ich glaube, er wird früher kommen, als wir gerechnet haben. Ich sah ein großes Kriegsschiff mit langem Heimatswimpel an einer Küste entlang fahren. Und Harald saß auf Deck und schrieb. Ich bin so froh, Mutting, daß er kommt.«

In überströmender Hoffnung und Freude gab sie beiden, der Mutter und deren krankem Sohn, einen Kuß.

»Tu das nicht wieder!« bat Wilhelm leise.

»Sei man ruhig, mein Kind«, sagte die Mutter. »Mit Gottes Hilfe wird alles gut.«

›Sie darf es nicht wieder tun!‹ dachte Wilhelm. Zum ersten mal lag ihm das Herz weh in der Brust. Er grub und forschte in Hannchens liebem Gesicht und dachte für sich: ›Ich liebe sie, ja, ich liebe sie mehr, als ich darf, ich liebe sie nicht wie meine Schwester. Ich bin ein todkranker, ein sterbender Mann, und sie ist eine Gesunde, zum Leben Aufstrebende, und doch liebe ich sie. Sie ist die Braut meines Bruders und zählt die Tage und Stunden, wo er ihr ganz gehören wird, und doch liebe ich sie. Es ist zum Lachen ... nein, zum Weinen ist es.‹

Es muß wohl etwas wie Seufzer bei ihm aufgestoßen sein, denn Hannchen und Mutter fragten beinahe gleichzeitig: »Fehlt dir was, Wilhelm?«

Der Kranke schüttelte den Kopf.

»Du liegst nicht gut«, fuhr Hannchen fort, »Komm, ich will dir das Bett zurecht machen.«

Da hing er wieder an ihrem Halse und ruhte an ihrer Brust. ›Wenn sie mich nur nicht küßt!‹ dachte er. ›Sie darf mich nicht küssen. Wenn sie mich nur nicht küßt!‹

Und auch Hannchen fiel plötzlich ein, daß Wilhelm fünfundzwanzig Jahre alt geworden und ihr Vetter sei. Sie küßte ihn nicht, sie schlang sogar eine vornüber fallen wollende Locke rasch und energisch hinter die Ohrmuschel.

Und als der Tag sich neigte, gerade zu der Zeit, als die Sonne am Abendfenster erschien, gingen Mutter und Hannchen beide hinaus. Und immer röter und runder und farbiger sank die Sonne hinter den Gesträuchen hinab. Und als sie schließlich nur noch durch das Blut ihrer Tränen den Himmel färbte, ergoß sich auch des Kranken Liebesschmerz in krampfhaftem Weinen.

›Du hast Kampf haben wollen, du hast deiner Seele einen schmerzlichen Verzicht abringen wollen. Wohl, nun ist er da, nun ringe!‹

Aber, wie er noch weinte, stieg am purpurnen Himmel und über das Gebüsch das hochragende Frauenbild herauf. Und die köstlichste aller Verheißungen, ein schönes Menschenkind, wiegte es weich und warm in Mutterarmen.


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