Karl Kraus
Glossen bis 1924
Karl Kraus

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Grüßer

Es häufen sich die Fälle, daß Individuen behaupten, daß sie mich »persönlich kennen« und indem sie ihr Ansehen bei den Leuten, denen sie's erzählen, zu heben suchen, das meine herabsetzen. Denn was sollen diese noch von mir halten, wenn ich jene persönlich kenne? Sie selbst würden doch, wenn's wahr wäre, allen Respekt vor mir verlieren. Weil sie diesen aber nicht haben, und es ihnen eben nur darauf ankommt, mit einem Gott seis geklagt berühmten Menschen persönlich bekannt zu sein, welchem Zweck der Fritz Werner besser entgegenkommen würde, so pflegen sie, um aller Welt und speziell ihren Begleitern den Beweis der persönlichen Bekanntschaft zu liefern, auf offener, infolgedessen von mir immer mehr gemiedener Straße in zudringlicher Weise zu grüßen, wobei meine Kurzsichtigkeit nicht als Gegenbeweis, sondern nur als Entschuldigung meiner Unhöflichkeit in Betracht kommt. Selbst solche, die mich verachten und wenn sie mir allein begegnen, wegsehen würden, grüßen vertraut, sobald noch ein Zweiter, dem sie mit solcher Legitimation aufwarten wollen, mit ihnen geht. Sie wären natürlich ganz ebenso imstande, wenn sie mich wirklich kennten, bloß zu grüßen, wenn wir uns zeugenlos begegnen, und aus Furcht vor irgendeiner sozialen Vergeltung wegzusehen, sobald einer dabei ist. Dann kommt es wieder vor, daß Leute, die mich nicht persönlich kennen, in einem Lokal, zu dessen Besuch mich das Leben zwingt, nachdem sie sich beim Kellner erkundigt haben, ob ich es wirklich sei, förmliche Purzelbäume vor mir schlagen, aber nicht etwa aus jener Verehrung, die ich verabscheue, sondern nur um sich selbst zu beweisen, daß sie mich persönlich kennen. Auch sie müssen unbedankt von hinnen ziehn. Der hauptsächlichste Grund, warum ich nicht mehr ins Theater gehe – wichtiger noch als Selbstbewahrung von schauspielerischer Impotenz und als die Furcht, am Abend vor der Arbeit schläfrig zu werden –, ist das Bedenken, mit so vielen Leuten, die ich nicht persönlich kenne, ins Theater zu gehen. Denn nicht nur, daß der Sitznachbar, feige die Gelegenheit vollkommenster Wehrlosigkeit – Sperrsitz! – erhaschend, plötzlich zu grüßen beginnt; selbst wenn er's nicht tut, glaubt jeder – und keines Wieners Phantasie reicht aus, sich die Sitznachbarschaft als Zufall vorzustellen –, der X. sei mit mir im Theater gewesen, was ihm entweder nützt oder schadet. Vor zwanzig Jahren hatte einer der wenigen anständigen Menschen der hiesigen Literatur das Pech, im Burgtheater neben mir zu sitzen; ich bat ihn, mit mir nicht zu sprechen, da die Kritik im Mittelgang es bemerken und ihm nach dem Leben trachten würde. Es geschah; denn, hieß es, der J. J. David sei »mit ihm ins Theater gegangen«. Die Wiener Personalnachricht war lange Zeit hindurch – neben Schönpflug – der tiefste Ausdruck dieses Lebens, das die falsche Perspektive des Zufalls zum Gesetz erhebt. Im Hotel zum König von Ungarn sind zum Beispiel gestern der Kommerzialrat Goldberger und die Gräfin Andrassy aus Budapest abgestiegen. Da bin ich vorsichtig. Muß ich einmal über die Straße, so sehe ich mich ganz genau um, wie der Mensch aussieht, neben dem ich zufällig gehe, denn die Leute zeigen mit Fingern auf einen, da können Ungenauigkeiten unterlaufen und ich will nicht, daß es immer wieder heißt, ich hätte einen Vollbart. Ein verstorbener Privatkauz, der mehr Witz hatte als ein Haufen von Wiener Librettisten, tröstete eine Dame, die sich über üble Nachrede beklagte, mit der Unabänderlichkeit dieses Wiener Verhängnisses: gehe er mit einer Frau auf der Ringstraße, so heiße es, er habe ein Verhältnis; gehe er mit einem Herrn auf der Ringstraße, so heiße es, er sei homosexuell; gehe er, um all dem zu entgehen, allein auf der Ringstraße, so heiße es, er sei ein Onanist. Aber das Letztere wird niemandem in Wien nachgesagt werden, da doch immer eine Frau oder ein Mann in der Nähe ist, »mit« denen man gesehen wird. Das Publikum verblödet von Jahr zu Jahr und weil dieser Stadt das eigentliche Lebensmittel, die Ehre, längst vor allen andern ausgegangen ist und der schäbige Rest noch ans Ausland, von dem nichts hereinkommt, weggeworfen wurde, so ist das alles möglich. Ein Gang durch sie, nämlich durch die allerwertloseste, die innere, der Anblick dieser Graben- und Galgenbrut würde mir vor Ekel die Kehle würgen. Ich arbeite, vermutlich als einziger Mensch in Wien, wie eh und je die Nacht durch, oft bis in den Vormittag hinein, schlafe bis zum Abend und sehe jahraus jahrein kaum mehr als drei, vier Menschen in dieser Stadt. Irgendwie erfahre ich aber doch, daß ich »einflußreiche Beziehungen habe«, daß ich auf der Redoute war, daß ich eine Premiere mitgemacht habe, daß ich verheiratet bin, daß ich Damen zum »Tee« lade, daß ich mit dem Müller einmal intim war und daß sich nur, weil ich ihn mal mit der Meier gesehen habe, das Blatt gewendet hat, daß mich der und jener persönlich kennt, also einen Umgang zu haben behauptet, den ich von ihm nehme. Ich muß nachdrücklich drauf aus sein, solche Zumutungen abzulehnen, weil sonst die notgedrungene Abweisung eines Verkehrs mit manchem Würdigen grausame Ungerechtigkeit wäre. Ein für allemal bitte ich zu glauben, daß mich jene schlecht kennen, die da glauben, sie kennten mich gut, und die, die's ihnen glauben, nicht besser. Es ist jede solche Angabe erstunken und erlogen und ich ermächtige jeden, jeden der sie vorbringt für einen Schwindler zu halten und ihm zu sagen, daß er mit der Fackel ausschließlich den Zusammenhang dieser einzigen Stelle habe, die sich ganz ausdrücklich auf ihn, gerade auf ihn und nur auf ihn bezieht. Damit hoffe ich dem Grüßerpack, das mit fremdem Ruhm schachert und mit einem, der mir so hassenswert dünkt wie jeder seiner Parasiten, das Handwerk gelegt zu haben. Denn wenn es eine Eigenschaft gibt, für die ich noch lange nicht berühmt genug bin, so ist es die meines Gedächtnisses, das nicht den Schatten des kleinsten Eindrucks seit meinem zweiten Lebensjahr, kein Geräusch, keinen Namen, keine Nase, keinen Schritt verloren hat und sich an jeden, den ich nicht kenne, ganz genau erinnert und ferner ebenso genau zu unterscheiden weiß zwischen solchen, die ich nicht kenne, weil ich nicht wollte, und jenen, die ich nicht kenne, weil ich nicht will.


 << zurück weiter >>