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31. Die unterbrochene Trauung

Ein schöner Sommermorgen, schon sehr heiß, war angebrochen, der Himmel war klar, die Luft ruhig, aber am Horizont zeigten sich schwere, drohende Gewitterwolken.

Doch von dem im Walde liegenden Hause aus konnte man diese schwarzen, unheilverkündenden Wolken nicht sehen; man glaubte, der ganze Tag müßte so heiter verlaufen, wie er begonnen, und deshalb glänzten alle Gesichter vor Fröhlichkeit. Höchstens das Jeremys machte eine Ausnahme.

Mürrisch stand der heute reichbetreßte alte Diener vor dem Portale und schaute dem Anspannen des Wagens zu, welcher das hochzeitliche Paar in die Kirche bringen sollte. Seine Pflicht wäre gewesen, den hinten befindlichen Dienersitz in Ordnung zu bringen, denn er sollte ihn benutzen, aber mit einem Fluche forderte er einen anderen Angestellten auf, dies für ihn zu tun. Ja, hätte Emily ihn nicht so freundlich gebeten, das Amt des Leibdieners heute zu übernehmen, was sonst ein anderer tat, er würde es ihr ebenfalls mit einem Fluche verweigert haben, denn dadurch wurde er genötigt, in demütiger Haltung Mister Westerly den Schlag zu öffnen.

Nur einmal fand der alte Jeremy Gelegenheit, ehe er seinen Posten antrat, etwas zu sprechen, anstatt immer im Innern zu schimpfen und zu fluchen. Als Eugen an ihm vorüberging, sagte dieser: »Ein schöner Morgen heute, Jeremy! Zur Hochzeit wie geschaffen.«

»Schön?« brummte Jeremy. »Furchtbar schwül ist es, man bekommt ja kaum Luft. Wenn es bis heute abend nicht geblitzt, gedonnert und gehagelt hat, dann will ich nach Indien gehen und Fakir werden, anstatt Lady Carter auf der Hochzeitsreise begleiten. Liegt mir übrigens nicht viel daran,« fügte er hinzu.

»Ach was, Jeremy, du bist bloß nicht den dicken Rock gewohnt.« lachte Eugen. »Zur Hochzeit meiner schönen Mutter darf der Himmel es überhaupt nicht regnen lassen.«

Der Wagen stand bereit, das Hochzeitspaar, Miß Woodfield und Eugen aufzunehmen, oben wurde die Toilette noch einmal geordnet.

Emily warf den letzten Blick in den Spiegel. Wie schön war sie in dem mit Blumen durchwirkten weißen Atlaskleide und im Brautschleier! Sie mußte es sich selbst gestehen.

War sie denn wirklich schon fünfunddreißig Jahre alt? Es konnte kaum sein; sie glich einem jungen Mädchen, das in jungfräulicher Schüchternheit mit vor Scham und Hoffnung geröteten Wangen zum Altar schreitet.

Emily ordnete den Brillantschmuck im Haar und freute sich, wie im Spiegel der Brautring am rosigen Finger blitzte.

Da sah sie im Spiegelglas, wie sich hinter ihr die Tür öffnete und eine Gestalt eintrat, bei deren Anblick Emily von namenlosem Entsetzen befallen wurde.

Sie wagte nicht, sich umzusehen, kaum zu atmen; mit stieren Augen blickte sie in den Spiegel.

Es war eine große, hagere Gestalt, in armselige, indische Gewänder gehüllt, wie Kulis sie tragen, entsetzlich mager, das Gesicht nur Knochen, die Augen tief, Haar und Bart grau und lang – aber diese Züge, Emily kannte sie, es waren die Frank Carters.

Mit drohend erhobenem Arme näherte er sich der anscheinend bebenden Frau. So hatte sie ihn öfters im Traume gesehen.

Da brach der Bann; sie stieß einen gellenden Schrei aus, wandte sich um und – fiel in die Arme des hochzeitlich gekleideten Westerly.

»Emily, was fehlt dir?« rief dieser erschrocken, die Zitternde in seinen Armen haltend.

»O, wie kannst du mich so erschrecken!« stammelte Emily. Du – du wolltest mich zu fürchten machen« »Ich? Daß ich nicht wüßte! Allerdings wollte ich dir leise von rückwärts nahen, dir die Augen zuhalten und dich fragen, wer es sei, als ich aber sah, daß du mich bereits im Spiegel bemerkt hattest, winkte ich dir mit der Hand. Braucht man denn darüber gleich so zu erschrecken?«

Emily schaute sich noch immer furchtsam im Zimmer um, sie glaubte, jeden Augenblick müßte hinter einem Schranke oder aus einer Ecke plötzlich die skelettartige Erscheinung ihres ehemaligen Gatten hervortreten – so deutlich war sie ihr erschienen.

»Ich glaube, du hast eine Vision gehabt, so siehst du gerade aus,« begann Westerly wieder, »plagen dich etwa gar am Hochzeitstage trübe Zukunftsbilder?«

Er sprach spöttisch, und Emily sagte ihm nicht, was sie gesehen; denn Westerly war ein Freigeist und stritt alles ab, was er nicht selbst sah.

Bald hatte Emily sich wieder beruhigt – es konnte nur eine Vision gewesen sein, wie sie deren, immer von derselben Art, schon öfter gehabt hatte, allerdings noch nie so deutlich wie heute.

Ein ängstlicher Schauer schnürte ihr das Herz zusammen.

Welcher Mensch ist wohl nicht abergläubisch? Der, der bestreitet, es zu sein, ist es gewöhnlich am meisten.

»Bist du fertig, Schatz?« fragte Westerly. »Der Wagen hält unten. Was suchst du? Deinen Handschuh? Hier! Hier, dein Bukett! Das wird eine einfache Hochzeit, aber doch schön.«

»Wie geht es Mister Woodfield? Schade, daß er nicht mitkommt!«

»Wir verlieren nichts an ihm. Mir wäre am liebsten, wenn die Trauung ganz in der Stille vollzogen würde, am besten auf der Registratur.«

»Ich halte es mit der alten, feierlichen Sitte, in der Kirche getraut zu werden,« entgegnete Emily, den rechten Handschuh anziehend. »Die Ehe empfängt dadurch eine göttliche Weihe.«

Westerly hüstelte.

»Nun ja, ich habe dir ja auch nachgegeben. Was ist dir heruntergefallen?«

»O, schon wieder – mein Brautring. Er fällt heute morgen zum zweiten Male vom Finger.«

»Du hättest mir eher sagen sollen, daß er dir zu weit ist,« sagte Westerly, unter den Stühlen suchend. »Beim Kauf schien er dir zu passen.«

»Er paßt auch.«

»Das kann wohl nicht sein, sonst würde er nicht vom Finger fallen.«

»Ich kann das auch nicht begreifen, er sitzt immer so fest, und heute morgen fällt er plötzlich ab.«

»Magere mir nur nicht ab,« scherzte Westerly, immer noch am Boden suchend. »Damit du aber den Vorfall nicht als böse Vorbedeutung betrachtest, will ich dir eine Erklärung geben; Der Ring ist wahrscheinlich etwas oval, nicht völlig rund. Du hast schlanke Finger, und so müßte er einmal sehr fest, dann wieder locker sitzen, je nachdem er aufgesteckt wird. Aber zum Teufel – pardon, Emily – ich kann den Ring nicht wiederfinden.«

Er klingelte, Bediente kamen herein, doch erst nach längerem Suchen fand man den Goldreif unter den Fransen des Teppichs.

Endlich stand nichts mehr im Wege, den Wagen zu besteigen; Jeremy zwang sein mürrisches Gesicht in freundliche Falten, öffnete den Schlag, schwang sich auf seinen Sitz, und der Wagen rollte der Kirche von Wanstead zu.

In Deutschland ist schon die vor dem Standesamt geschlossene Ehe gültig, die kirchliche Trauung ist nur eine Zeremonie. Nicht so in England. Hier hat die Kirche dieselbe Vollmacht wie die Registratur, auf welcher Ehen. amtlich bescheinigt werden, also läßt man sich entweder nur auf dem Standesamt oder nur in der Kirche trauen; wollte man beides zugleich tun, so wäre das ebenso, als wolle man ein neugeborenes Kind bei zwei Ämtern anmelden.

Die kirchliche Trauung ist in England bedeutend billiger als die amtliche, solange es sich natürlich nicht um glänzende Feierlichkeiten handelt, und die Kirchen machen sich Konkurrenz, um zahlreiche Mitglieder zu erhalten. So z. B. beträgt jetzt die Gebühr für eine Trauung in der billigsten Kirche Londons zehn Pence – das sind achtzig Pfennig – und das neue Ehepaar bekommt außerdem noch vom Priester einen Laib Brot im Werte von dreißig Pfennig auf den Weg mit – wahrscheinlich, in der Annahme, daß man von Liebe allein nicht leben kann.

Die Formeln sind auf dem Amt und in der Kirche ganz dieselben, nur die Predigt fehlt auf dem ersteren.

*

Mister Woodfield stand am Fenster und sah dem fortfahrenden Wagen nach, bis er verschwunden war. Diesen Zeitpunkt hatte er kaum erwarten können. Nun wandte er sich an den eben eintretenden Charly.

»Sind noch viele im Hause?«

»Nur noch zwei Diener und ein Mädchen, eine Indierin. Alle übrigen sind schon fort nach der Kirche.«

»Werden auch jene noch gehen?«

»Nein, sie bleiben.«

»Gut, sie sollen uns nicht stören!«

Beide betraten das Zimmer, in welchem Dick neben dem Gefangenen auf dem Sofa saß und ihn mit freundlichen, im Grunde aber sehr spöttischen Worten nötigte, das Frühstrick mit ihm zu teilen. Dick schnitt Stücke von seinem Butterbrote ab und hielt sie vor den Mund des Gefangenen, doch dieser ignorierte seinen Wächter.

Lacoste blickte, obgleich er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, so wie gestern den alten Mann mit trotziger Entschlossenheit an. Er schien nicht gewillt, Geständnisse zu machen.

»Sind sie heute morgen bereit, mir zu sagen, was Sie von dem Kindesraub wissen?«

begann Woodfield.

»Ja, unter der Bedingung, daß Sie mich nach Preisgabe meines Geheimnisses sofort auf freien Fuß setzen.«

»Daran ist nicht zu denken. Ich liefere Sie auf alle Fälle der Polizei aus.«

»Hahaha!« lachte Lacoste höhnisch. »Sie verlangen wahrhaftig viel von mir. Keine Silbe erfahren Sie!«

»Das war Ihr letztes Lachen!« sagte Woodfield drohend. »Wir wollen jetzt einmal untersuchen, mit wem wir es zu tun haben.«

Dick und Charly machten sich daran, dem Gefangenen die Taschen zu visitieren. Da sprang dieser mit einem Ruck auf.

»Mister Woodfield, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie nichts weiter tun dürfen, als mich der Polizei ausliefern. Jede andere Handlung von Ihnen ist eine Eigenmächtigkeit, welche ich später anzeigen werde, und für die Sie zur Rechenschaft gezogen werden.«

»Untersucht ihn!« sagte Woodfield kurz.

Lacoste hatte sich getäuscht. Er glaubte, Woodfield würde doch noch auf seine Bedingungen eingehen und ihn freilassen; jetzt aber nahm die Sache einen ganz anderen Verlauf, und was für einen schlimmen für ihn, davon vermutete der Räuber noch nichts. Mit fest zusammengebissenen Zähnen ließ er sich von den beiden Männern die Taschen ausräumen.

»Ein Revolver, eine Pistole, ein Dolch,« zählte Dick auf, die betreffenden Sachen seinem Herrn übergebend, »hier noch ein Stilett – also das ganze Handwerkszeug eines Banditen – hier ein Notizbuch, darin hat er sich die Namen der Leute aufgeschrieben, welche er überfallen hat, und ihre Adressen – eine Brieftasche mit Karten und Photographien.«

Woodfield blätterte in den Papieren, unter denen keine Briefe waren.

»Sie heißen Marquis Alsons de Lacoste?« fragte Woodfield, Visitenkarten lesend.

»Das geht Sie nichts an!« war die trotzige Antwort.

»Jeder Räuber hält sich für einen Baron, wenigstens wenn er Geld hat. – Aha, hier ist ja das Läppchen, das er sich immer vors Gesicht hängt, damit ihn die Sonne nicht verbrennt! Na, Bursche, nun behaupte noch einmal, du warst nicht die schwarze Maske!«

Dick reichte seinem Herrn die schwarzseidene Maske. Woodfield legte sie gleichgültig auf den Tisch; er las noch in den Papieren.

»Eine Anweisung auf 100 000 Francs für Madame Dubois, ausgestellt von Monsieur Francoeur,« murmelte er. »Hm, das ist unser Nachbar, bei dem Dick ihn fand – ein Franzofe.

In welchen Beziehungen stehen Sie zu diesem Francoeur?« fragte er den Gefangenen.

»Das geht Sie wieder nichts an!« war die spöttische Antwort.

»Er nannte ihn Schwager,« erklärte Dick. »Eine schöne Schwagerschaft das! Gestohlen hat er die Anweisung also nicht.«

Die Taschen waren geleert, aber die beiden Visitierenden begnügten sich nicht damit; Zoll für Zoll betasteten sie seinen Körper.

»Hei, was ist das?« rief plötzlich Charly, auf der Magengegend des Gefesselten herumfühlend.

Es wurde keine Erklärung abgewartet. Dick riß schon die Weste auf, schnitt in das Hemd ein Loch, griff hindurch, machte noch einige Messerschnitte und brachte ein goldenes, mit Juwelen besetztes Armband zum Vorschein.

Einen Augenblick betrachtete Woodfield es erstaunt, dann stürzte er darauf zu und riß es ihm aus der Hand.

»Endlich,« rief er in äußerster Erregung, »endlich sehe ich die erste Spur!«

Seine zitternde Hand hielt das Geschmeide weit von sich ab, seine Augen schienen das Armband verschlingen zu wollen.

»Woher hast du das?« fragte er dann den Gefangenen, gang leise, aber mit so seltsamem Gesichtsausdruck, daß selbst die beiden Pelzjäger ihren Herrn mit Scheu betrachteten.

Auch Lacoste war erschrocken, als Dick ihm so schnell das versteckte Kleinod abnahm, und als Woodfield es sofort erkannte. Doch gleich hatte er seinen Trotz zurückerlangt.

»Sprich!« donnerte Woodfield ihn plötzlich an. »Woher hast du dieses Armband? Sprich, oder bei Gottes Tod, ich ... » Ein Dröhnen von vielen Schritten auf dem Korridor ließ ihn plötzlich abbrechen. Es wurde kurz an die Tür geklopft, ohne Abwarten einer Antwort diese geöffnet, und ein Herr trat ein. Draußen sah man zwei Konstabler und einen Polizeisergeanten stehen.

Finster blickte Woodfield den Eintretenden, in dem er einen Geheimpolizisten erkannte, an; erschrocken schaute Lacoste auf, denn er hatte noch immer Hoffnung, von Woodfield nach Aussage des Geheimnisses, freigelassen zu werden. Die Dazwischenkunft der Polizei machte dies unmöglich, jetzt mußte er ausgeliefert werden. Er sah langjähriger Zwangsarbeit, Beschäftigung in der furchtbaren Tretmühle, entgegen.

»Mister Woodfield?« fragte der Beamte.

»Ich bin's! Sie wünschen?«

»Sie sind gestern abend überfallen worden? Man hat auf Sie geschossen?«

»Allerdings!«

»Ich bin Detektiv und bin hier, um an Ort und Stelle Recherchen anzustellen, damit diesem – ach, das ist doch nicht etwa ...?« unterbrach er sich jetzt erst den Gefesselten bemerkend.

»Die schwarze Maske,« kam ihm Woodfield zu Hilfe. »Dort auf dem Tisch liegt der bei ihm gefundene Gegenstand, durch welchen er sich diesen Namen verdient hat.«

»So haben Sie sich seiner also bemächtigt. Das ist vorzüglich. Sie ersparen uns große Mühe. Den Verhaftungsbefehl habe ich schon bei mir.«

Er wollte auf Lacoste zugehen, doch Woodfield vertrat ihm den Weg.

»Was wollen Sie tun?«

»Ihm natürlich in Gewahrsam nehmen.«

»Ich bitte, damit noch einige Minuten zu warten.«

»Warum?«

»Weil ich mit ihm noch privatim zu sprechen habe.«

»Sir, das geht nicht! In dem .Augenblick, da ich den Gesuchten sehe, muß ich ihn verhaften, selbst wenn mein oder anderer Leute Leben dabei in Gefahr käme. Dieser Mann gehört nur noch der Justiz.«

»Sie werden ihn nicht eher bekommen, als bis ich das erfahren habe, was ich von ihm wissen will.«

»Wie? Mister Woodfield, Sie würden sich seiner Verhaftung widersetzen?« fragte der Beamte erstaunt.

»Ich und diese meine Leute, so lange wir können.«

Die beiden Jäger stimmten ihrem Herrn bei.

»Dann vergehen Sie sich gegen die Staatsgewalt.«

»Und Sie haben nicht das Recht, mir zu nehmen, was mir gehört!«

»Oho!«

»Nein, denn ich bin ebensowenig wie diese hier Engländer, ich bin Kanadier und stehe unter dem Schutze der englischen Krone. Wollen Sie den Beweis sehen?«

Der Polizeisergeant flüsterte dem Detektiven einige Worte zu, und infolgedessen änderte dieser plötzlich sein Benehmen.

»Aus welchem Grunde verweigern Sie uns die Herausgabe dieses Gefangenen?« fragte er höflich.

»Ich verweigere sie Ihnen nicht, ich möchte nur erst erfahren, was nur er mir sagen kann.«

»Er wird verhört werden!«

»Er wird nicht sprechen!«

»Gezwungen kann dazu freilich niemand werden!« entgegnete der Detektiv achselzuckend.

»Nicht?« rief Woodfield spöttisch. »In fünf Minuten soll er mir alles gestanden haben!«

»Sie wollen ihn dazu zwingen?«

»Ja, mit dem Riemen, bis das Blut hervorspritzt. Dann wird er mir wohl alles erzählen!«

Die Polizisten sahen sich an, und dem Gefangenen stieg plötzlich eine furchtbare Ahnung auf. Diese Männer, gewohnt mit wilden Indianern zu verkehren, würden allerdings nicht zögern, ihn bis aufs Blut zu peinigen, wenn er nicht gestehen wollte. Schon brachte Dick einen Riemen zum Vorschein und ließ ihn durch die Luft sausen.

»Das dürfen Sie nicht!« schrie jetzt Lacoste auf. »Sir, ich verlange, verhaftet zu werden, ich bin der Polizei verfallen, Sie dürfen mich nicht in den Händen dieses Mannes lassen.«

Die Polizisten nahmen auf den Wunsch des sich wie verzweifelt gebärdenden Gefangenen keine Rücksicht. Sie kannten Mister Woodfield, wußten, was für eine Rolle er spielte, und als dieser auch noch mit dem Detektiven gesprochen hatte, wobei er ihm das gefundene Armband gezeigt, entfernten sie sich aus dem Zimmer.

»Sie dürfen mich nicht in den Händen dieses Mannes lassen!« schrie ihnen Lacoste nochmals nach, denn nun wußte er, was ihm bevorstand.

Der Sergeant drehte sich in der Tür nochmals um.

»Wir haben auch gar nicht die Absicht, dich freizulassen, Schurke,« sagte er; »aber eine private Unterredung mit dir wollen wir diesem Gentleman doch gewähren.«

»Und die Verantwortung dafür nehme ich auf mich,« fügte Woodfield hinzu.

Die im Vorzimmer harrenden Polizisten vernahmen zwar nicht, was drinnen gesprochen wurde, sie hörten nur, auf welche Weise die Unterhaltung geführt wurde. Erst eine kleine Pause, dann Woodfields leise, fragende Stimme, keine Antwort, dann klatschende Schläge, denen ein heulendes Schmergebrüll folgte. Jetzt wechselten Fragen und Antworten, einmal noch ein Klatschen und ein Geheul, dann wurden die Polizisten wieder ins Zimmer gerufen.

Lacoste saß gebrochen auf dem Sofa, das Haar hing ihm wirr um die Stirn, und mit angsterfüllten Augen blickte er Dick an, der sich eben einen Riemen um den Leib schnallte.

Die Hände waren dem Gefangenen nicht mehr auf dem Rücken, sondern vorn gefesselt, und jedenfalls hatte der letztere blutige Striemen aufzuweisen.

Woodfield befand sich in großer Aufregung, er schien sofort aufbrechen zu wollen.

»Hier ist alles, was wir bei ihm gefunden haben!« sagte er hastig zu dem Detektiven, ihm die Sachen auf dem Tisch zuschiebend. »Sie müssen wohl ein Protokoll aufnehmen. Dieses Armband überlasen Sie mir, es soll mir sofort als furchtbarer Ankläger dienen!«

»Hat er alles gestanden?«

»So viel, wie er gestehen konnte!« entgegnete Woodfield, den Hut aufsetzend.

»Er kennt den Aufenthalt Ihrer Tochter?«

»Nein; Schläge haben dies Geheimnis nicht aus ihm erpressen können, er kennt ihn nicht.

Jetzt aber weiß ich wenigstens, wo ich den Räuber von Nancy zu suchen habe.«

»Wer ist es?«

»Jener Monsieur Francoeur, der nicht weit von hier entfernt wohnt. Ich eile zu ihm!«

Mit diesen Worten stürmte Woodfield hinaus, ihm nach Dick und Charly.

»Ah, so hatte Wilkens doch recht, als er Francoeur als Verbrecher verdächtigte!«

murmelte der Beamte. »Schade, daß der Kollege von höherem Ort aus verhindert wurde, so energisch vorzugehen, wie er wollte!«

Die Polizisten beschäftigten sich mit Lacoste, er sollte in Sicherheit gebracht werden.

*

Auch vor der indischen Villa hielt eine Equipage, in welcher Monsieur Francoeur, Phöbe, Bega und der Radscha nach der Kirche fahren wollten, denn sie waren zur Trauung geladen worden.

Der braunhäutige Kutscher wartete auf dem Bock geduldig seiner Herrschaft und wunderte sich nur, was im Hause plötzlich für ein Türwerfen und Laufen entstand. Eben noch alles ruhig, mußte jetzt drinnen etwas Außergewöhnliches passiert sein.

Doch diese indischen Diener waren daran gewöhnt worden, zu hören und zu sehen, ohne zu sprechen.

Dann schlüpfte auch noch Hedwig, das Dienstmädchen aus dem Nachbarhause, aus der Tür, sah sich scheu um, nickte dem Kutscher zu, legte den Finger auf den Mund und eilte dem Walde zu. Daß sie hier war, wußte der Kutscher gar nicht, er hatte sie nicht kommen sehen.

Endlich traten die festlich gekleideten Herrschaften heraus und bestiegen den von einem Lakai geöffneten Wagen.

Wieder fiel dem Kutscher etwas Seltsames auf.

Francoeur hatte ein so merkwürdiges Gesicht aufgesetzt, es lag darin eine erkünstelte Ruhe, die sich auch in seinen Bewegungen ausdrückte; Phöbe konnte die Unruhe nicht verbergen, ihre Wangen waren fieberhaft gerötet; wie vorhin Hedwig, so blickte auch sie sich scheu nach allen Seiten um, und des Radschas Augen schienen giftige Blitze zu schießen.

Bega hatte wie zärtlich seine Hand gefaßt und führte ihn nach dem Wagen. Ihr Blick ruhte dabei mit einem Ausdruck von Teilnahme und Angst auf seinem fleischigen, von Pockennarben entstellten Gesicht.

War das eine Gesellschaft, die einer Hochzeit beiwohnen wollte? Francoeur sprach leise mit dem Kutscher; dieser glaubte wahrscheinlich falsch verstanden zu haben.

»Sahib?« fragte er erstaunt und blickte den Franzosen erschrocken an.

»Hast du mich nicht verstanden. Dummkopf?« brauste sein Herr plötzlich auf.

Stumm griff der Indier nach Zügel und Peitsche; die beiden ungewöhnlich kräftigen Rappen zogen an, den Weg nach der Kirche von Wanstead einschlagend.

Francoeur saß auf dem Rücksitz; unablässig überflog sein Auge die Gegend. Neben ihm saß der Radscha; auch seine Augen, nach zwei Richtungen zugleich zu sehen vermögend, waren in steter Bewegung. Bega wendete den Kopf, ihre Blicke hingen unverwandt an einem Punkt, und dort stand, im Walde verborgen, das Haus der Lady Carter.

Die Villa war nicht mehr zu sehen. Jetzt zweigte von der Landstraße ein Weg ab, der nach London führte.

»Los!« rief Francoeur dem Kutscher zu.

Dieser hieb undarmherzig auf die Pferde ein; diese bäumten sich auf und jagten in rasender Karriere davon, daß der Wagen aufflog, als führe er über ein Steinfeld und nicht auf der ebenen Straße.

Der Radscha deutete schweigend mit der Hand nach Südosten. Dort standen pechschwarze Wolken; schnell kamen sie näher, und schon zuckten am Horizont feurige Schlangen.

Francoeur richtete sich halb auf, auch er deutete dorthin.

»Ein Gewitter,« sagte er dumpf mit unheilverkündender Stimme, »es kommt aus der Richtung von Indien. Noch wetterleuchtet es dort nur, aber bald, bald ist die Zeit da, da Feuer vom Himmel herabfällt, die Unterdrücker des Landes zu vernichten. Die Indier werden es sein, welche es blitzen und donnern lassen, und das Gewitter wird seinen Weg nach England nehmen.«

Noch hatte er die letzten Worte nicht beendet, als sich über ihnen eine finstere Wolke entlud, das ganze Firmament stand in blendenden Flammen, und gleich darauf erfolgte das donnernde Krachen – es war, als wolle der Himmel die Drohung bestätigen.

Erschrocken scheuten die Pferde und rasten dann mit verdoppelter Schnelle davon. Eben machte der Weg eine Biegung, der Kutscher hatte die beiden mächtigen Rappen fest in den Zügeln, sie gehorchten, und der Wagen schwenkte ab, legte sich aber dabei fast auf die Seite.

Bis jetzt hatte Bega ihre Augen nicht von dem Punkte abgewendet, wo sie das freundliche Waldbaus liegen wußte, in dem einst Reihenfels gewohnt hatte, und dort, dort hinten, da lag ein Steinbruch, und in ihm war eine Höhle.

Die Biegung entzog ihr diesen Erinnerungspunkt. Bega sank in die Polster zurück und bedeckte ihr Antlitz mit dem Schleier, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die an den Wimpern hingen.

*

Oskar Reihenfels bewohnte mit dem indischen Fakir Hira Singh, das dem britischen Museum gegenüberliegende Hotel. Noch einmal wollte er die Vorstellung des indischen Wundermannes, der sich lebendig begraben ließ, persönlich leiten und dann zu seinem Vater nach Bombay zurückkehren. Hira Singh blieb vorläufig noch in London, ein Arzt hatte von Reihenfels gelernt, wie man den Scheintoten durch gewisse Manipulationen wieder ins Leben rief, und wollte den Fakir auf weiteren Gastreisen begleiten.

Reihenfels stand in Frack und weißer Weste vor dem Spiegel, neben sich auf dem Tisch den Zylinder, denn in einer Stunde wollte er sich zur Trauung seiner Gönnerin, Lady Carter, nach Wanstead begeben. In der Kirche mußte er Bega begegnen, und dadurch lenkten sich seine Gedanken auf das, was sich bei ihrem letzten Wiedersehen ereignet hatte.

So kalt dieses auch anfänglich gewesen war, leicht hätte es schlimm verlaufen können, denn Reihenfels hatte sie nicht beleidigt oder gekränkt – etwas viel Schlimmeres für ein Weib – er hatte Bega gedemütigt. Seit langen Tagen schon grübelte er darüber nach, wie sie dies ertragen würde, denn er mußte sich doch immerfort mit der einstigen Geliebten beschäftigen, und die Erinnerung daran war schuld, daß den jungen Gelehrten sein sonst so außerordentlicher Scharfsinn im Stiche ließ.

Bega war Buddhistin, und als solche durch die mysteriösen Lehren ihrer Religion einmal mit hoher Ehrfurcht vor einem allmächtigen Gott erfüllt, mag er Jehovah, Zeus, Buddha, Brahma, Allah oder sonstwie heißen Die Buddhisten haben für Gott gar keinen Namen; Buddha ist nur die Bezeichnung für ein Wesen, welches erkannt hat, daß es einen Gott gibt. Diese Erkenntnis ist das Streben der Buddhisten. und dann auch erzogen worden, die Geheimnisse ihrer Religion bis zum Tode zu bewahren.

Hira Singh nun hatte die Geheimnisse verraten, die er kannte, und Bega machte ihm deswegen am Krankenlager Eugens die heftigsten Vorwürfe, sich dabei des hindustanischen Dialektes bedienend, welchen außer ihr nur der Fakir und Reihenfels verstand.

Überdies warf sie ihm auch noch vor, daß er wiederum ein Geheimnis zu verraten im Begriffe stand,, nämlich die an den Brahmanen in der Jugend ausgeführte Tätowierung.

»Wahrscheinlich,« hatte sie hinzugefügt, »hatte ihn wieder jener Mann dort« – sie deutete auf Reihenfels – »durch Versprechungen zu diesem neuen Verrat verlockt.«

Da drehte sich Reihenfels um und antwortete ihr mit kurzen Worten: »Hira Singh hat recht, wenn er dir antwortet, ein jeder Mensch habe die Verpflichtung, Geheimnisse zu verraten, wenn er dadurch seinen Mitmenschen nützen kann. Bedenke, Bega, wenn Hira Singh das Geheimnis der Brahmanen nicht preisgegeben hätte, so wäre jetzt schon Eugens Arm amputiert worden.« – Bega war niedergeschmettert. Sie wußte keine Antwort. Doch die Art, wie sie gebeugt zu Eugen ging und seine Hände mitleidig ergriff, bewies, daß sie Reihenfels recht gab.

Hatte sie dies als eine Demütigung aufgefaßt? Bemitleidete sie Eugen nur, oder liebte sie ihn? Auf Mitleid folgt so schnell Liebe.

Dies war es, was Reihenfels Tag und Nacht beschäftigte und was dem Gelehrten den Scharfsinn raubte, und gerade jetzt bedurfte er seiner so notwendig Zum Lösen eines Rätsels, an dem vielleicht das Glück von Lady Carter hing.

Als Reihenfels an jenem ereignisvollen Tage in sein Hotel kam, erwarteten ihn schon lange ein alter Mann und eine alte Frau. Sie brachten ihm einen Brief und erzählten ihm die Geschichte desselben, wie sie ihn zuerst gefunden, wie er verloren gegangen und wie ihr zurückgekehrter Sohn Charly ihn zum zweiten Male gefunden habe.

Mit gespanntem Interesse las Reihenfels die Adresse, an Timur gerichtet, und besah das auch für ihn unleserliche Schreiben. Wenn jener Gaukler damals wirklich der Kindesräuber, also nicht Timur, sondern Timur Dhar gewesen war, der auch im Hotel Royal wohnte, so war dieser Brief auch an Timur Dhar gerichtet, und was sollte das sorgfältig chiffrierte Schreiben anders enthalten, als Informationen über den noch vorzunehmenden Kindesraub?

Oskar war zwar nicht in dem Maße wie sein Vater geübt im Entziffern derartiger Geheimschriften, aber er stand ihm an Scharfsinn und Kenntnis der indischen Sprachen nicht im mindesten nach.

Er verabschiedete die beiden alten Leute mit dem Versprechen, bald von sich hören zu lassen, und machte sich sofort an die Arbeit.

Vergebens! Begas Bild schwebte ihm stets vor Augen, wie sie sich liebevoll über Eugen beugte, und dies trübte seine Gedanken – er verschob die Arbeit auf morgen.

Am anderen Tage jedoch war es dasselbe, Oskar fand nicht den geringsten Anhaltepunkt, von welchem er die Fäden weiter hätte verfolgen können, nur der Gedanke an Bega war daran schuld, und ebenso erging es ihm die folgenden Tage.

Dann erinnerte er sich, daß sein Vater den Brief schon ziemlich, bis auf die letzte Klarlegung des Sinnes, entziffert hatte, als er ihm wieder genommen wurde, denn er sprach über alle Arbeiten, welche ihn interessierten, mit seiner lernbegierigen Frau, und auch Oskar lernte dabei schon. Nun wußte letzterer, daß der Vater über die ihm zur Dechiffrierung gegebenen Briefe ein Buch führte, in welches er das Mittel zur Lösung und den Inhalt des Briefes eintrug, denn bei dergleichen Arbeiten kommt man leicht einmal in die Lage, sich vor Gericht verantworten zu müssen.

Fand Oskar dieses Buch, so war ihm geholfen, und er wäre wenigstens auf die erste Spur geraten.

Er hatte mit Hira Singh zusammen die alte, in Kisten verpackte Bibliothek des Vaters, welche im Hotel stand, durchsucht, jedoch das betreffende Buch war nicht darunter gewesen.

Alle diese Gedanken beschäftigten Reihenfels, als er die letzte Hand an seine Toilette legte: In einer Stunde sollte er die unglückliche Witwe und Mutter im Brautkleid vor dem Altar sehen; was konnte dieser Brief wohl über das Geschick ihres Kindes enthüllen? Brachte er Glück oder neues Unglück? Und dazwischen tauchte immer wieder Begas reizendes Bild vor seinen Augen auf.

Reihenfels war ein Mann, der sich zu beherrschen wußte und das vergessen konnte, woran er nicht denken wollte, aber an der Erinnerung an Bega scheiterte seine Willenskraft. Wollte es das Schicksal anders? Warum ertönte immer und immer wieder an sein Ohr das verhängnisvolle Wort: tat-twam asi, dies bist du, dies ist dein Fleisch, dein Blut, deine Seele, denn du hast sie vom Tode errettet? Hira Singh trat ein, finster wie immer, die Züge in dem Totenschädel wie von Eisen, eine ungeheure Willenskraft verratend.

Man konnte diesen Fakir mit einem katholischen Entsagungsapostel vergleichen, dem infolge seiner fanatischen Rednergabe die Reichen ihre Schätze zu Füßen legen, den die schönsten Weiber in Verzückung anbeten; der Priester aber schreitet mit einem verächtlichen Lächeln über alles und alle hinweg, er tritt Schönheit und Reichtum mit Füßen, denn für ihn ist das alles nur eitler Tand.

Hira Singh hätte alles verlangen können, nichts wäre ihm versagt worden, aber er forderte nichts; den fabelhaften Gehalt, den er für seine schauerlichen Experimente erhielt, legte er achtlos zur Seite und lebte wie früher als armer, bettelnder Fakir; er aß nur, damit seine Kräfte nicht verfielen, trank Wasser, schlief neben seinem Bett auf dem mitgebrachten Teppich und kannte keine Bedürfnisse, die dem Luxus entspringen. Seine Beschäftigung bestand, wenn er nicht Vorstellungen gab, im Hermurmeln von Gebeten und im Träumen, in welchem es die indischen Priester weit gebracht haben, noch weiter als die Mohammedaner. Gern unterhielt er sich mit Reihenfels, der im ganzen und großen in der indischen Literatur besser zu Hause war, als mancher Brahmane, dessen gründliche Kenntnis sich nur auf einen Teil der heiligen Veda erstreckt, und seit Hira Singh in der Bibliothek des alten Reihenfels gestöbert, vertiefte er sich mit Vorliebe in ein oder das andere Buch.

Jetzt hielt er einige alte, verstaubte Bücher in der Hand. Oskar glaubte, er wolle eine Aufklärung haben.

»Willst du etwas wissen?« fragte er freundlich.

»Dies wird das Buch sein, welches du suchtest,« entgegnete Hira, ihm eins reichend.

Hastig streifte oder vielmehr riß Oskar die weißen Handschuhe ab und ergriff das Buch.

»Gefunden! Es ist es!« rief er.

Schon im Gehen nach dem Schreibsekretär begann er zu blättern; er mußte die betreffende Stelle bald haben, denn es war die letzte Übersetzung, die sein Vater in der armseligen Wohnung vorgenommen, und er hatte seinen Wegzug von dort gewissenhaft auch in diesem Buche vermerkt.

Vergessen war die Hochzeit. Oskar saß im Frack und Zylinder vor dem geöffneten Schreibsekretär und las halblaut: »Sanskrit. Fange von hinten an, ordne den 1. und 6., 2. und 5., 3. und 4. Buchstaben nebeneinander, fahre so fort und übersetze in die Mahrattensprache, welche zur Zeit von Sewadschi geredet wurde: Ich ...«

Hier hatte die Feder des alten Reihenfels zu schreiben aufgehört, weil ihm das Pergament abgefordert wurde.

Oskar brauchte nicht erst lange in Büchern nachzuschlagen, er kannte Sewadschi, einen indischen Abenteurer, der zur Zeit einer Völkerwanderung das mächtige Reich der Mahratten gegründet hatte, welches erst vor kurzem durch die Engländer vernichtet worden war, dessen Herstellung aber alle Hindus erhofften, natürlich vergeblich, und er kannte auch deren Sprache.

Schnell war Papier und Feder zur Hand. Oskar befolgte die Angaben seines Vaters, und schon das war ein gutes Zeichen, daß die Buchstaben, in, der betreffenden Reihenfolge aufgingen.

Geordnet standen die Schriftzeichen auf dem Papier, Oskar begann mit der Übersetzung, die fließend vonstatten ging.

»Ich, Bahadur, warne dich, Sinkolin. Traue nicht Nana Sahib, er wird von seinem Weibe, der Faringi, Faringi = Fremder. Besonders die Engländer werden so genannt in Indien. beeinflußt, und sie handelt nicht für uns, sondern für ihre Rache –« Oskar warf die Feder hin und sprang in nervöser Hast auf.

»Wer ist Sinkolin?« fragte er den Fakir, der in einer Ecke hockte und las.

Der Indier blickte teilnahmslos auf.

»Sinkolin ist ein gewöhnlicher Name, Sahib. So nannte sich auch jener Timur.«

»Wer ist Nana Sahib?«

»Das könnte her Radscha von Berar sein.«

»Wer Bahadur?«

»Den Namen hört man auch oft.«

»Ein bestimmter Bahadur.«

»Das weißt du so gut wie ich, Sahib. Bahadur heißt der großmächtigste Großmogul von Indien, dessen Herrlichkeit den Glanz der Sonne verdunkelt, und der zugleich ein weiser Brahmane –« Der Fakir brach plötzlich ab, und Reihenfels, mit den Gewohnheiten dieses Indiers genau vertraut, entging es nicht, daß er überrascht war, wenn auch sein Gesichtsausdruck derselbe blieb.

»O, jetzt weiß ich, was du meinst, Sahib,« fuhr der Fakir dann fort. »Sinkolin! So heißt der Bardier von Bahadur.«

»Ist er nichts weiter?«

»Nein, soviel ich weiß.«

Oskar ging einmal durchs Zimmer, setzte sich dann wieder und übertrug weiter. Je länger er schrieb, desto mehr erweiterten sich seine Augen, immer gespannter wurden seine Züge, auf die Stirn traten ihm Schweißtropfen, und als er mit merkbar zitternder Hand den letzten Zug niedergeschrieben hatte, sprang er nach der Tür und riß an der Klingel.

Der erschrockene Kellner kam hereingestürzt.

»Einen zweispännigen Wagen!« befahl Reihenfels. »Schnell, schnell, ich habe keine Sekunde zu verlieren!«

Einstweilen kuvertierte er und versiegelte beide Schreiben, das Original und die Übertragung, steckte sie zu sich, eilte, als ihm der Kellner den Wagen meldete, hinab und warf sich in das Fuhrwerk, nachdem er die nächste Bahnstation als Ziel angegeben hatte.

Ein Zug nach Wanstead stand eben bereit, Oskar benutzte ihn. Und als er nach einer halben Stunde den Vorort erreicht hatte, nahm er wieder einen Wagen, der ihn nach der Kirche bringen mußte.

So sehr er den Kutscher auch aufforderte, die Pferde in der schnellsten Gangart zu halten, er mußte doch zu spät zur Trauung kommen; aber es war ihm auch nur daran gelegen, so schnell wie möglich denjenigen sein eben entdecktes Geheimnis mitzuteilen, für die es von höchster Wichtigkeit war.

Als er das indische Haus passierte, sah er einen Diener am Tor stehen, und deshalb ließ er den Wagen einen Augenblick halten.

»Ist Radscha Tipperah im Hause?« fragte er den Indier.

Dieser, wohl über das hastige Sprechen des Fremden erschrocken, sah verwundert auf.

»Radscha Tipperah?«

»Ich meine seine Gesellschafter, Monsieur Francoeur, Madame Phöbe und Miß Bega!«

verbesserte sich Reihenfels schnell, als er das verwunderte Gesicht des Dieners bemerkte, weil er nach dem taubstummen Indier, der für niemanden von Interesse war, gefragt hatte.

»Sie sind alle in der Kirche zur Trauung.«

»Also auch Radscha Tipperah?« fragte jetzt Reihenfels direkt.

»Alle!«

»Ich dachte es mir. Fort denn, Kutscher, nach der Kirche!«

Als Reihenfels im fortjagenden Wagen noch einmal den Kopf wendete, sah er, wie drei Männer aus dem Walde sprangen und in das indische Haus eilten, und als er sich angesichts der Kirche nochmals umblickte, bemerkte er dieselben drei Männer, von denen ihm zwei seltsam gekleidet erschienen, wie sie auf der Landstraße, der Kirche zu, nicht nur schnell gingen, sondern wirklich rannten, und wahrscheinlich nicht langsamer als die Pferde seines Wagens.

Gleichzeitig bemerkte er in weiter Entfernung hinter sich eine Staubwolke, wohl ebenfalls von einem äußerst schnell fahrenden Fuhrwerk herrührend.

Doch schon hielt sein Wagen vor dem Portal, Reihenfels sprang ab und drang in die mit Menschen gefüllte Kirche, aus der leises, melodisches Orgelspiel ertönte. Die Predigt war schon vorüber, die sanfte Weise der Orgel begleitete die Frage des Priesters, nach deren Bejahung das Brautpaar den Bund fürs Leben geschlossen hatte.

Das hastige Eindringen von Reihenfels hatte einiges Aufsehen erregt, die zu hinterst Stehenden drehten die Köpfe, und als er sich nun gar nach dem Altarplatze durchzudrängen suchte, wo die Trauzeugen und Gäste sich befanden, entstand ein unwilliges Gemurmel, denn niemand wollte sich den spannendsten Teil der Trauung entgehen lassen.

»Sie kommen zu spät, Sir,« brummte einer, »die Geschichte ist nun doch vorüber.«

»Wenn Sie dazu gehören, so essen Sie dann desto mehr,« sagte ein Witzbold.

»Ich will nicht durch!« flüsterte Reihenfels. »Ist Monsieur Francoeur hier?«

»Wer?«

»Monsieur Francoeur und seine Schwester, Radscha Tipperah und seine Tochter!«

»Die kennen wir gar nicht; was gehen die uns überhaupt an!«

Reihenfels konnte sich nicht durchdrängen, er war wie festgekeilt.

Diese Störung war nicht ausreichend gewesen, den Priester zu unterbrechen. Er warf einen unwilligen Blick nach der Tür und sprach die Formel weiter vor, langsam und salbungsvoll, begleitet vom Orgelspiel, da aber kam eine größere Störung.

Drei Männer stürzten herein, voran ein Greis, der beim schnellen Lauf den Hut verloren haben mußte, das weiße Haar hing ihm wirr um den Kopf.

Beim Anblick der feierlichen Zeremonie stand er einen Moment bestürzt da, aber nur einen Moment, dann drang er vor und brach sich mit dem Ellbogen Bahn.

»Francoeur! Wo ist der Franzose? Wo ist der Kindesräuber?« schrie er dabei immerfort.

Jetzt brach der Priester ab; ein unwilliges Gemurmel, ein Gedränge entstand in der Kirche.

»Entfernt die Störer und schließt die Kirchentüren!« rief der Priester.

»Wo ist der Kindesräuber?« heulte der alte Mann wieder, sich immer weiter drängend.

Da wurde er von hinten gefaßt und auf eine Bank gedrückt, vor ihm stand einer seiner Begleiter, ein in rotes Leder gekleideter Mann.

»Geduldet Euch eine Minute!« sagte dieser und hielt den Herrn auf der Bank fest. »Es ist ja gleich vorüber!«

Der Priester hatte nur noch einen Satz zu sprechen und wollte, die augenblickliche Stille dazu benutzend, dies schnell tun; schon hatte, die Orgel wieder eingesetzt. Aber wiederum mußte diese mit einem Mißton abbrechen, denn ein anderer Mann, ein Gentleman, eine Gestalt mit sich reißend, brach sich Bahn durch die Umstehenden und drang unwiderstehlich gegen den Altar vor.

»Haltet ein, wenn es noch nicht zu spät ist! Die Trauung darf nicht stattfinden!« schallte es laut durch die Kirche.

Dieser Ruf war ganz dazu angetan, unter den Zuschauern das größte Entsetzen hervorzubringen. Man machte dem Manne Platz, dieser riß immer die Gestalt mit sich, eine gebeugte, bis aufs äußerste abgemagerte Figur, nur mit Lumpen bekleidet.

Jetzt standen beide vor dem Altar.

»Die Trauung darf nicht stattfinden, solange mich nicht Lady Carter angehört hat,« wiederholte der Mann, der sich in einer furchtbaren Aufregung befand.

Die Braut war nicht fähig, sich aus ihrer knienden Lage zu erheben; mit totenblassem Antlitz lehnte sie an den Stufen des Altars. Westerly stand mit geballten Fäusten da, am ganzen Leibe zitternd, die vor Entsetzen hervorquellenden Augen auf die abscheuerregende Gestalt geheftet. Den anderen erkannte er, es war Wilkens, der Detektiv.

»Mister Wilkens,« stammelte er, »was – was – sagen – wer – ist das?«

»Lady, ich komme, Gott sei Dank, noch nicht zu spät,« sagte Wilkens laut und mit Nachdruck, »hören Sie mich vorerst an! Ihr Gatte ist nicht tot!«

»Ihr lügt!« schrie Westerly, taumelte aber erschrocken zurück.

»Ich spreche die Wahrheit! Sir Frank Carter lebt, er ist Sklave im Felsentempel der Göttin Kali. Hier steht der von dort entflohene Kiong Jang, sein Diener, als Zeuge!«


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