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7. Der verlorene Postbrief

Unser Roman führt uns wieder nach London zurück, und zwar diesmal in die Kreise der äußersten Armut.

Im Distrikt Whitechapel liegen jene Straßen, in denen die Armut in ihrer furchtbarsten Gestalt zu sehen ist. Kein anderer Ort der Welt weist etwas Ähnliches auf, keine Feder vermag das haarsträubende Elend zu schildern, unter dem hier Menschen ihr Dasein fristen.

Es ist eine leere Stube, absolut leer, kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett, nicht einmal eine Schütte Stroh ist darin, und doch wohnt hier ein Ehepaar mit vier Kindern. Die Fenster sind zerschlagen, aber nicht mit Papier verklebt, der offene Kamin starrt vor Kälte. Was hatte die Familie hier suchen sollen? Die Frau ist eben von einer Nachbarin aufgefordert worden, bei ihr ein Glas Whisky zu trinken, die barfüßigen Kinder, von denen zwei nichts weiter als zerrissene Hemden anhaben, tanzen draußen auf dem mit halbzerschmolzenem Schnee bedecken Trottoir nach den Klängen eines Leierkastens.

Lustig, nur immer lustig! Heute ist Sonnabend nachmittag, da wird der Vater ausgezahlt.

Er ist ein geschickter Arbeiter und verdient die Woche vierzig Mark, welche für die Familie zwei Tage reichen, um in Hülle und Fülle zu leben, für den Vater, um wenigstens vier Abende in der Woche sinnlos betrunken nach Hause zu kommen. Für die übrigen Tage läßt man den lieben Herrgott sorgen.

Das nennt man in London Armut. Wer gar keinen Verdienst hat, lebt ebenso, nur die zwei guten Tage gehen ab.

Jetzt trat die Frau ins Zimmer, eine wüste Erscheinung mit ungekämmten Haaren und eingefallenen Wangen. Was ihren Anzug betrifft, so mag die Erklärung genügen, daß er von einem in Deutschland unbekannten Aussehen war. Er bestand kaum noch aus Lumpen.

Trotzdem mußte diese Frau einst schön gewesen sein, ein gewisses Etwas verriet daß sie früher in besseren Verhältnissen gelebt hatte.

Sie hatte den richtigen Moment abgewartet, denn gleich nach ihr kam der Mann, hinter ihm die vier Kinder im Alter von drei bis acht Jahren. Er war in offenbar angetrunkenem Zustande, aber die Frau war nur froh darüber; denn je betrunkener er war, desto freigebiger spendete er Wochengeld.

Fünf Hände streckten sich nach ihm aus, alle wollten Geld haben, selbst das dreijährige Kind.

Schmunzelnd griff der Vater in die Westentasche und gab jedem Kinde einen Penny, worauf diese verschwanden, um sich Zuckerzeug zu kaufen.

»Kommt gleich wieder! Ihr müßt mir dann mit tragen helfen!« rief die Mutter ihnen nach, und sich an den Mann wendend, der sich mit gläsernen Augen in dem nackten Zimmer umsah, fragte sie wieviel bringst du mit?«

Mit schlauem Lächeln hielt er ihr die geballte Faust entgegen, in ihre Hand fielen zwei Goldstücke, vierzig Schilling.

»Was, du gibst mir alles?« fragte sie halb freudig halb mißtrauisch.

»Fällt mir nicht ein. Ich bin aber heute freigebig gestimmt.«

»So hast du noch mehr?«

»Natürlich.«

»Du hast aber keine Überstunden gemacht.«

»Ist auch nicht nötig.«

»Woher hast du denn das Geld?«

»Abbezahlen habe ich mich lassen!« platzte der Mann heraus. »Glaubst du denn, unsereins ist so dumm und plackt sich immer für andere?«

»Du hast die Arbeit niedergelegt?«

»Freilich, was denn sonst? »Du hast andere in Aussicht?«

»Unsinn, ich nehme überhaupt keine mehr an.«

»Und wovon sollen wir leben?«

»Ich mache mit meinem Freund Patrick Kompanie, entweder ich gewinne und kann wie ein Fürst leben oder aber, ich führe auch kein schlechteres Hundeleben als bis jetzt.«

Einen Augenblick war die Frau bestürzt. Patrick lebte von Pferdewetten, bald wie ein Gentleman, bald schlief er wochenlang auf offener Straße. Diesen Beruf also wollte jetzt auch ihr Mann ergreifen, darum hatte er die sichere Arbeit niedergelegt und sich den ausständigen Lohn auszahlen lassen.

Doch die Bestürzung der Frau währte nur einen Augenblick, dann war sie wieder die alte.

Mochte es kommen wie es wollte, jetzt hatte sie etwas Geld und durfte noch mehr erwarten.

Zwischen Mann und Frau begann ein wütender Kampf; sie forderte, er verweigerte, schließlich war sie noch um ein Goldstück reicher.

Der Mann ging nebenan ins Bierhaus, während Frau und Kinder die Anstalten wie jeden Sonnabend nachmittag trafen: die Ausmöblierung der Stube und die Bereitung des Abendessens oder vielmehr der Mittagsmahlzeit, denn in England ißt man erst gegen Abend zu Mittag.

Nach einer Stunde brodelte auf dem glühenden Ofen ein mächtiges Stück Fleisch und die Stube hatte ein anderer Aussehen angenommen. Betten, Stühle, Tische, Schränke, Spiegel – alles war wieder vorhanden, für einige Shillinge waren sie aus dem Pfandgeschäft geholt worden, aber wie gesagt, diese Herrlichkeit dauerte nur einige Tage. Schon am Montag war das bare Geld verbraucht, ein Stück nach dem andern wanderte zurück ins Pfandhaus, und am Dienstag oder Mittwoch war die Stube wieder leer.

Die Kinder mußten tragen, daß ihnen der Schweiß von der Stirn perlte.

»Sieh, Mutter, was ich gefunden habe,« sagte Charly, der älteste Sohn, und hielt der Frau ein schmutziges Stück Papier hin.

Die Mutter hatte mit dem Braten zu tun und gönnte dem Sohn mit dem aufgeweckten.

schmutzigen Gesicht nur einen Blick.

»Was soll's mit dem Wisch?«

»Es ist ein Brief.«

Jetzt wurde ihr Interesse erregt. Sie wischte die Hände am Kleide ab, nahm das Papier und besichtigte es beim Scheine des Feuers von allen Seiten.

Der Brief trug zwar eine englische Marke, kam aber aus Indien. Adressiert war er an Mister Timur, Hotel Royal, Oxfordstreet.

»Wo hast du ihn gefunden?« examinierte die Mutter.

»Er lag in der Gosse vor dem Pfandgeschäft. Ich sah die Briefmarke und wollte sie abmachen, aber der Brief war noch zu.«

Derselbe war allerdings ganz mit Schmutz bedeckt, man konnte kaum noch die Adresse lesen.

Die Frau hatte schon lange keinen Brief mehr bekommen, sie kannte einen solchen kaum noch, und einem augenblicklichen Impulse folgend, öffnete sie ihn.

Das Kuvert enthielt nichts weiter als ein Blatt Papier, welches mit krausen, ihr unbekannten Schriftzügen bedeckt war.

»Das ist Indisch oder Chinesisch,« sagte sie, »Schade, daß ich es nicht lesen kann! Will dann den Vater fragen, der ist früher als Soldat in Indien gewesen.«

Als der Mann später von einem Kinde zum Essen geholt wurde, zeigte sie ihm den Brief.

»Was? Du hast den Brief aufgemacht?« fragte er sie hastig.

»Ist denn da weiter etwas dabei?«

»Weißt du nicht, daß das Öffnen eines fremden Briefes streng verboten ist?«

»Bah, er lag ja im Rinnstein!«

»Ganz egal, die englische Polizei spaßt mit so etwas nicht.«

»Ach, wer erfährt denn davon?«

Der Mann hatte sich schnell wieder beruhigt. Er studierte den Brief aus Neugierde, konnte die Schriftzeichen aber ebensowenig entziffern wie seine Ehehälfte. Dann las er die Adresse.

»Timur, Timur,« murmelte er, »den Namen sollte ich doch kennen!«

»So hieß der Zauberkünstler, der in der Alhambra spielte,« sagte Charly.

»Herrgott, richtig!« fuhr der Mann auf. »Das ist ja der Kerl, der das Kind von Sir Carter raubte. Weib, was hast du da gemacht!« herrschte er seine Frau an. »Wenn ich diesen Brief abgebe, werden mir zehn Pfund Belohnung ausgezahlt, und nun hast du ihn erbrochen.«

Erstaunt ließ die Frau die Gabel sinken.

Du bist nicht recht bei Sinnen. Zehn Pfund Belohnung für diesen lumpigen Brief?«

»Ja. Jeder, der irgend eine Aussage über diesen Timur macht, die auf eine Spur führt, erhält mindestens zehn Pfund. Vielleicht aber kann ich auch zum reichen Manne werden.«

»So liefere ihn doch ab!«

»Dann werde ich bestraft; der Brief ist erbrochen.«

»Wenn du zehn Pfund bekommst, kannst du schon ein paar Tage dafür sitzen.«

»Das ist allerdings wahr,« sagte der Mann, sich hinter den Ohren kratzend; wäre mir freilich verflucht unangenehm.«

»Ach ja, jetzt entsinne ich mich,« fuhr die Frau fort, »aber jener Timur soll doch gar nicht der richtige Räuber gewesen sein, er soll sich doch selbst getötet und somit seine Unschuld bewiesen haben.«

Der Mann ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und überlegte. Es fielen ihm die Einzelheiten jenes Ereignisses ein, die Zeitungen hatten darüber lang und breit berichtet, und in England liest jeder Arbeiter seine eigene Zeitung.

Seine Frau hatte recht. Timur war tot, die ausgesetzte Belohnung galt nicht ihm. Sondern dem mit dem Kinde entschwundenen Timur Dhar, seinem Doppelgänger. Aber immerhin, konnte der Brief nicht doch zehn Pfund wert sein? Vielleicht brachte er irgend eine Aufklärung.

»Wenn du dich vor einer Strafe fürchtest, so sagen wir einfach, Charly hat ihn geöffnet,« nahm die Frau wieder das Wort, »dem Kinde kann man nichts anhaben.«

»Ich habe ihn nicht geöffnet,« rief Charly.

»Schweig!« fuhr ihn der Vater an. »Du hast den Brief erbrochen, wenn wir es sagen. Es wird das beste sein, Frau, wir sehen erst einmal nach, was da in dem Briefe steht. Handelt er von dem Kindesraub, so riskiere ich es und liefere ihn ab, ist er ohne Bedeutung, so verbrennen wir ihn.«

»Das ginge; aber wer kann ihn lesen?«

»Indisch zu lesen ist freilich nicht so einfach, wir Soldaten haben es drüben nicht gelernt.

Da müßte man schon zu einem Gelehrten gehen.«

»Das kostet viel Geld.«

»Es gibt unter solchen Leuten arme Schlucker, die billig arbeiten.«

»Da fällt mir etwas ein. Meine Nachbarin hat neulich bei einem Deutschen gescheuert, weil seine Frau krank ist. Das ist so ein Mann, der fremde Sprachen übersetzt; es steht an seiner Tür geschrieben.«

»Dann gehst du nachher zu ihm, nimmst aber nur den Brief mit, nicht das Kuvert, und läßt dich auf keine weiteren Fragen ein.«

»Geh doch selbst, ich habe zu tun.«

»Und ich muß dann mit Patrick über das Pferderennen am Montag sprechen. Du gehst, verstehst du? Ehe du dich aber mit ihm einläßt, machst du den Preis mit ihm ab, sonst betrügt er dich.«

Die Frau war teils selbst neugierig, zu erfahren, was der Brief enthielt, teils hoffte sie auf die etwaige Belohnung. Schnell machte sie den Eßtisch fertig, auf dem die gefüllte Branntweinflasche heute nicht fehlen durfte, aß und begab sich dann nach dem nicht weit entfernten Hause, wo der Gesuchte wohnen sollte.

Es stand auf einem kleinen Platze und gehörte auch zu den Hütten der Armut. An der Tür war ein Porzellanschild angebracht, auf dem die Worte standen: Friedrich Reihenfels, Lehrer der modernen und alten Sprachen.

Auf das Klopfen der Frau wurde geöffnet und sie in das Dachzimmer verwiesen.

Auch hier herrschte Armut, sonst stand es aber im Gegensatze zu dem, welches die Frau eben verlassen.

Es enthielt nichts weiter als zwei Betten, einen Tisch und zwei Stühle, von denen einer noch dazu den Waschtisch vertreten mußte. Unter einem aufgebauschten Tuche hing wahrscheinlich die spärliche Garderobe – es war der Kleiderschrank, das Kochgerät neben dem Ofen war fein und sorgsam geordnet, wie überhaupt alles vor Sauberkeit glänzte. Die hellen Fensterscheiben wurden von weißen Gardinen verhüllt, und darüber hing ein Vogelbauer mit einem Zeisig, der die Eintretende mit seinem jubelnden Rufe begrüßte.

Sonst sah es ernst in der Dachstube aus; dickleibige Bücher in ledernen Einbänden bedeckten fast die ganzen Wände; zu ihnen paßte der noch jugendliche Mann, der, eine blaue Brille vor den Augen, an dem einzigen Tische saß und schrieb. Seine Gestalt und sein Antlitz drückten Kummer und Entbehrung aus, und er hatte Grund zur Trauer, denn dort im Bett lag ein krankes, junges Weib mit blassem, eingefallenem Gesicht. Doch ihre lieblichen Züge lächelten freundlich; neben ihrem Bett saß ein ärmlich, aber sauber gekleideter Knabe von etwa fünf Jahren, der in einem Buche las oder vielmehr buchstabierte, denn sein Finger glitt langsam über die Zeilen, und nur abgebrochen kamen die Worte über seine Lippen.

Der Knabe mit den goldenen Locken las der kranken Mutter vor, der Vater arbeitete fürs tägliche Brot.

Aller Augen wandten sich der eintretenden Frau zu; unangenehmes Erstaunen prägte sich in den Zügen der Frau aus.

Der Mann nahm die Brille ab, und jetzt zeigte sich der energische Zug in seinem blassen, ernsten Gesicht noch deutlicher. Er glaubte, wieder einmal einer lästigen Nachbarin, die für seine Frau Teilnahme heuchelte, um ab und zu mit einer Tasse Tee aufgewartet zu werden, die Tür weisen zu müssen.

»Was wünschen Sie?« fragte er kurz, ohne aufzustehen.

Die Frau trat an den Tisch.

»Können Sie Indisch lesen?«

»Es gibt sehr viele indische, durchweg verschiedene Sprachen. Was haben Sie?«

»Einen Brief.«

Sie händigte ihm das Schreiben ein.

»Von wem haben Sie das?«

»Von einem Verwandten von mir, der in Indien lebt,« log die Frau.

Der Sprachgelehrte prüfte das Schreiben, und plötzlich flog ein Ausdruck des Erstaunens über sein Gesicht. Er sah die Frau scharf an.

»Dies Schreiben gehört Ihnen?«

»Natürlich; wem denn sonst?« entgegnete Sie keck; aber es wurde ihr plötzlich ängstlich zumute.

»Was ist Ihr Verwandter?«

»Er schreibt im Büro der ostindischen Kompanie.«

»So. Und haben Sie schon öfter solche Briefe bekommen?«

»Gewiß, oft schon.«

»Von wem ließen Sie sich dieselben übersetzen?«

»Von einem Soldaten, der Indisch verstand.«

»Und warum gehen Sie nicht wieder zu diesem?«

»Ich war bei ihm, aber diese Schrift kann er nicht lesen,« sagte das Weib, einer Eingabe folgend.

»Es ist richtig; dieser Brief ist in einer Geheimschrift geschrieben. Was soll das bedeuten?«

»Mein Schwager wird sich wohl einen Spaß gemacht haben.«

Kaltblütig gab der Gelehrte den Brief der Frau zurück.

»Wollen Sie ihn nicht übersetzen?« fragte diese erstaunt. »Warum nicht? Können Sie es nicht?«

»Ich kann es, aber ich gebe mich nicht damit ab, eine Geheimschrift zu enträtseln, die ein Narr erfunden hat.«

»Friedrich!« ließ sich die Frau vom Krankenbett mit flehender Stimme vernehmen.

Das Weib wußte, das hier die Armut zu Hause war, also verlangte dieser Mann auch weniger als ein bessergestellter Gelehrter. Sie wollte sich nicht so leicht abfertigen lassen.

»Ich bezahle Sie ja dafür.«

»Zeigen Sie her!«

Nicht die Versicherung der Bezahlung, sondern der bittende Ruf seiner Frau hatte den Gelehrten zur Änderung seines Entschlusses bewogen. Er prüfte das Schreiben nochmals oberflächlich.

»Bis wann wollen Sie es übersetzt haben?«

»So bald wie möglich.«

»Vor Mittwoch kann ich nicht damit beginnen.«

»Das ist zu spät..«

»Dann nehmen Sie es wieder.«

»Nein, nein!« rief die Frau rasch, als er es ihr abermals zurückgeben wollte. »Gut, bis Mittwoch!«

»Ich sage, am Mittwoch kann ich erst damit beginnen, weil ich bis dahin wichtigere Arbeiten zu erledigen habe.«

»Ist mir auch recht. Wieviel verlangen Sie dafür?«

»Das kann ich Ihnen nicht vorher sagen.«

»Nennen Sie irgend einen Preis!«

»Das kann ich nicht, weil ich nicht weiß, wie lange ich zum Übersetzen brauche. Es ist eine Geheimschrift, und eine solche läßt unzählige Kombinationen zu. Ich will einmal nachsehen, wes Geistes Kind der Verfasser gewesen ist.«

Mit einem verächtlichen Lächeln begann er die einzelnen, verschiedenen Schriftzeichen zu zählen und ihre Summe zu notieren. Schlug dann ein dickes Buch auf und verglich die Zahlen mit einer Tabelle.

Je länger er so zählte, ein desto freudigeres Erstaunen malte sich in seinem Gesicht wieder, bis seine Augen etwa wie die eines Altertumsforschers glänzen, der einen Jahrtausende alten Gegenstand gefunden hat.

Jede Geheimschrift läßt sich entziffern, gleichviel, in welcher Sprache sie geschrieben worden ist, denn jeder Buchstabe kommt in jeder Sprache nach einem gewissen Prozentsatz immer wieder vor. Aber es gibt unzählige Kombinationen, durch welche die Lösung erschwert wird. Die einfachste ist die, daß man die Geheimschrift von hinten lesen muß, ehe man überhaupt an eine Lösung gehen kann.

»Wer hat diese Geheimschrift erdacht?« rief der Gelehrte endlich.

Seine blassen Wangen waren von einem zarten Rot gefärbt.

»Ich sagte es Ihnen schon, mein Schwager« »Dann ist Ihr Schwager ein Genie, der zu etwas anderem besser paßte, als zum Schreiber in einem Büro.«

»Wollen Sie die Schrift lösen?«

»Ja, ich will es.«

»Und wieviel fordern Sie dafür?«

Der Gelehrte ließ seinen Blick über die zerlumpte Gestalt gleiten.

»Ich werde es sehr billig machen, denn diese Arbeit bereitet mir Freude.«

»Nennen Sie einen Preis!« bat die Frau.

»So mache ich es Ihnen umsonst. Kommen Sie am Mittwoch wieder vor, vielleicht bin ich dann schon fertig.«

Nachdem die Frau das Zimmer verlassen, wandte sich der Gelehrte mit freudestrahlenden Augen nach der Kranken um.

»Das ist endlich einmal eine Arbeit, die ich mit Vergnügen mache. Jetzt will ich Tag und Nacht arbeiten, damit ich diese elenden Geschäftsbriefe fertig übersetze; vielleicht kann ich schon am Montag abend mit der Enträtselung beginnen. Das soll mir eine Erholung sein.«

»Was ist es denn so besonderes?« fragte lächelnd die Frau, während der Knabe mit halbgeöffnetem Munde den Vater anblickte.

»Allem Anscheine nach ist der Brief in einer alten, indischen Sprache geschrieben, die früher in der Provinz Audh geredet wurde und jetzt ausgestorben ist. Jedenfalls enthält sie wunderbare Kombinationen, und ich freue mich schon darauf, an dieser Nuß zu knacken.

Weiß der liebe Himmel, wie der Schwager dieser zerlumpten Frau zu solch einer Kenntnis kommt! Oskar, öffne die Tür, das Weib hat einen abscheulichen Branntweingeruch zurückgelassen.« – Wieder hatte in der Zeitung gestanden, jeder, der auch nur die kleinste Andeutung über das geraubte Kind oder über Timur Dhar machen könne, solle sich unverzüglich an einer gewissen Stelle melden; die geringste Hilfe würde belohnt werden. Dadurch fiel dem Manne der Brief wieder ein. Er war ja an Timur adressiert – das Kuvert besaß er noch – und stand also immerhin mit dem Kindesräuber in Beziehung. Der Brief mußte enträtselt werden, das war nicht so einfach, wie seine Frau von dem Gelehrten erfahren, es verging Zeit darüber, und der Bevollmächtigte des reichen Sir Carter gab dem Überbringer eines solch wichtigen Schreibens sicher einen guten Vorschuß.

Der Mann ging also mit der Absicht zu dem Sprachgelehrten, ihm den Brief wieder abzufordern.

Reihenfels saß eben über das geheime Schreiben gebeugt und machte die ersten Lösungsversuche, als er durch den Arbeiter unterbrochen wurde. Unwillig blickten die von anstrengender Nachtarbeit geröteten Augen des Gelehrten den Störenfried an.

»Was wünschen Sie?« erklang es kurz.

Der Arbeiter verlangte das Schreiben zurück.

»Welches Schreiben?«

»Das da vor Ihnen liegt.«

»Das haben Sie mir nicht gebracht!«

»Aber meine Frau.«

»Sie müßten erst nachweisen, daß jene Frau die Ihrige war.«

Der Arbeiter brach in ein höhnisches Lachen aus.

»Kurzum,« fuhr trotzdem der Gelehrte kaltblütig fort, »ich gebe dieses Schreiben keinem anderen als jener Frau, die es mir gebracht hat.«

Der große. starke Arbeiter fixierte den schmächtigen Gelehrten und stemmte dann seine beiden ansehnlichen Fäuste auf den Tisch.

»Ich will das Schreiben haben, jetzt sofort! Verstehen Sie?« rief er drohend.

»Und ich will, daß Sie mein Zimmer verlassen, jetzt sofort! Verstehen Sie?« war die ruhige Antwort, zugleich aber schaute der Arbeiter direkt in die Mündung einer großen Reiterpistole, auf deren Riston das Zündhütchen nicht fehlte.

Eine Pistole dicht vor den Augen ist ein merkwürdiges Ding, man kann unter solchen Umständen plötzlich ein ganz anderer Mensch werden. Der Arbeiter murmelte eine Entschuldigung und entfernte sich.

Doch es gelang ihm, seine Frau zu überreden, den Brief zu holen, und ihr händigte der Gelehrte das Schreiben auch ein, nicht ohne vorher den Versuch gemacht zu haben, die Geheimschrift, auf deren Lösung er sich so gefreut, daß er ihr den nächtlichen Schlaf geopfert, in seinem Besitz zu behalten. Es gelang ihm nicht, er mußte den Brief herausgeben.

»Sie werden in London keinen anderen Menschen finden, der Ihnen diese Geheimschrift übersetzen kann,« waren seine letzten Worte.

Das Verhängnis wollte aber nicht, daß der Brief dahin kam, wo er vielleicht Aufklärung brachte. Die Frau hatte einen weiten Umweg gemacht und viel Zeit vertrödelt, um ihrem Manne so wenig Gelegenheit wie möglich zu geben, eine etwaige Belohnung durchzubringen.

Sie fand ihn nicht zu Hause, sondern im Wirtshaus und zwar vom Scheitel bis zur Sohle als vollkommenen Gentleman. Das Pferd, auf das er gewettet, hatte gewonnen, und wenn der Rennplatz auch hundert Meilen von London entfernt war, so erhielt der Gewinner doch schon fünf Minuten später seinen Einsatz fünffach ausbezahlt. Das Pferderennen ist ein Sport, dessen Kultus nach der Religion in England am meisten gepflegt wird.

Jetzt fragte der Mann nichts mehr nach dem Brief, ebensowenig die Frau – er wurde zur Seite gelegt. Nach einigen Tagen indes war die Herrlichkeit wieder zu Ende, man erinnerte sich des Briefes; aber der war verschwunden. Die Mutter behauptete, sie habe Charly zuletzt mit ihm spielen sehen; der Junge bekam Prügel, blieb jedoch bei der Aussage, er wisse nicht, wo der Brief sei.

Schließlich wurde dieser ganz vergessen. Das Ehepaar wurde von dem Spielfieber ergriffen, das Glück war launisch, bald gewann, bald verlor man, letzteres am häufigsten, die Möbel konnten Sonnabends nicht mehr aus dem Pfandhaus geholt werden, und eines Tages merkte die Frau, daß sie verfallen waren.

Sie bekam die Sachen nie wieder zu sehen, ebensowenig wie den Brief. Nur Charly wußte, wo dieser war, denn er selbst hatte ihn versteckt. Weil er aber die Briefmarke abgemacht hatte, fürchtete er sich, ihn hervorzuholen, und als er hörte, daß die Möbel nicht mehr seinen Eltern gehörten, atmete der schuldbewußte Junge förmlich erleichtert auf.


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