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13. Die Spione

Die Zeit vermag alle Schmerzen zu heilen, wenn dafür gesorgt wird, daß die vernarbenden Wunden nicht wieder aufgerissen werden.

So war auch Emilys Schmerz über den Verlust des Kindes und Gatten im Laufe der Zeit geheilt, sie liebte Eugen wie ihren eigenen Sohn; ihre Umgebung sorgte dafür, daß sie an ihr altes Unglück nicht erinnert wurde, aber jeder wußte, daß Emily im stillen noch immer auf das Wiederauftauchen der beiden Verschollenen hoffte.

Die Hoffnung, beruhend auf dem Glauben an einen barmherzigen Gott, ist eine große Segnung, sie kann einem schon verzweifelten Herzen wieder frischen Lebensmut einflößen, und sie hatte dies auch bei Emily getan.

Diese hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren allerdings verändert, jedoch nur zu ihrem Vorteil. Sie war voller geworden und hatte sich zu einer Schönheit entwickelt, der man die fünfunddreißig Jahre nicht ansah. Sie lebte in ihrem Waldhaus bei Wanstead in stiller, aber heiterer Zurückgezogenheit, selten reiste sie einmal nach London, noch seltener erhielt sie Besuch.

Sie widmete sich ganz der Erziehung Eugens, hielt ihm Hauslehrer, welche eine Schule vollständig ersetzten, und konnte nicht zu dem Entschlusse kommen, ihn von sich zu lassen, damit er einen Beruf ergreife.

Eugen hatte oft den Wunsch geäußert, Offizier zu werden, aber Emily wußte ihn immer umzustimmen, und der Mutterliebe war dies verzeihlich. Sie wollte sich nicht trennen von dem, den ihr das Schicksal als Ersatz für die Geraubten beschieden hatte.

Unter den Lehrern Eugens befand sich auch Oskar Reihenfels.

Sein Vater, Friedrich Reihenfels, bekleidete noch die Stelle am britischen Museum, die ihm damals vom Direktor angeboten worden war. Daß er es nicht weiter hatte bringen können, war nicht seine Schuld. Der Direktor war bald gestorben, und der Nachfolger besaß den gleichen Fehler wie unzählige Engländer, er haßte die Deutschen; so kam es, daß er Friedrich Reihenfels trotz seiner Begabung und seiner Pflichttreue nicht beförderte.

Er fühlte sich zurückgesetzt, er wurde verbittert, gab aber aus Liebe zu seiner Frau den sicheren Posten nicht auf.

Sein Sohn Oskar hatte das Sprachentalent des Vaters geerbt, er hatte die beste Erziehung genossen; als ihn aber der Vater für reif genug erklärte, mußte er allein den Kampf mit dem Dasein beginnen.

So finden wir ihn als Lehrer der französischen Sprache in dem stillen Waldhaus wieder.

Lady Carter hatte bald den energischen Charakter des jungen Mannes erkannt und ihn deshalb zum Begleiter Eugens ernannt. Oskar hatte trotzdem noch Muße genug, mit Hilfe der Bibliothek seines Vaters seine Studien weiter zu treiben.

Der einzige Gast, welcher Lady Carter häufiger, sogar sehr häufig besuchte, war Edgar Westerly. Er war nicht nach Indien zurückgekehrt, hatte überhaupt, eine schlechte Gesundheit vorschützend, seine Entlassung genommen und lebte in London. Es schien fast, als ob der vierzigjährige Mann, ein Junggeselle, sich freilich erfolglos um die Gunst Emilys bewerbe. – Lady Carter saß in ihrem Kabinett und schrieb eine Einladung an Monsieur Francoeur, dessen Schwester, sowie an den Radscha Tipperah und seine Tochter Bega. Eugen hatte ihr natürlich von seiner freundlichen Aufnahme in dem fremden Hause erzählt, und Emily mußte die Nachbarn wieder einladen, so gern sie auch eine Annäherung vermieden hätte.

Nach Beendigung des Schreibens gab sie das Klingelzeichen für einen Diener; statt des Erwarteten trat jedoch Reihenfels ins Zimmer.

»Ich hörte das Zeichen und erlaubte mir daher, ohne Anmeldung einzutreten.«

»Sie sind mir stets angenehm,« entgegnete Emily freundlich. »Was führt Sie zu mir?«

»Darf ich erst den Auftrag ausrichten, den Sie dem Diener zugedacht hatten?«

»Es hat Zeit. Ich habe für unsere neuen Nachbarn eine Einladung geschrieben, die ihnen im Laufe des Vormittags zugestellt werden soll. Wollen Sie dann einen Diener damit beauftragen?«

Reihenfels nahm das Schreiben.

»Für wann dürfen wir sie erwarten?«

»Für morgen mittag.«

»Die Herrschaften werden den ganzen Tag hierbleiben?«

»Ich hoffe so.«

Reihenfels räusperte sich und blickte Emily an.

»Sie haben etwas Besonderes?« lächelte diese.

»Ich komme wegen Eugens.«

»Was ist mit ihm? Macht er Ihnen Sorge?«

»Ja und nein. Es handelt sich um eben diese Einladung.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Ist Ihnen an Eugen in letzter Zeit nichts aufgefallen?«

»Nicht, daß ich wüßte,« sagte Emily nachdenkend.

»Eugen ist zerstreut, er denkt an weiter nichts als an den Besuch der Nachbarn.«

»Er freut sich, daß eine Abwechslung in unser eintöniges Leben kommt. Mister Westerly kann ihm keine angenehme Gesellschaft sein.«

»Manchem anderen auch nicht,« sagte der wegen seiner Offenherzigkeit bekannte Lehrer trocken, »nein, das ist es nicht. Eugen hat keine Geheimnisse weder vor Ihnen, noch vor mir, er hat erzählt, wie er das indische Mädchen in dem phantastischen Kostüm im Walde getroffen, wie er sich mit Bega bei der zweiten Begegnung unterhalten hat, aber er verheimlicht uns, welchen Eindruck sie auf ihn machte.«

»Wie? Sie meinen ...?« rief Emily erstaunt.

»Ich meine, daß Eugen das Mädchen liebt, wenn er sich auch noch keine Rechenschaft über seine Gefühle geben kann. Bedenken Sie, Eugen ist trotz seiner fünfzehn Jahre ein erwachsener Mann, und zwar ein heißblütiger Indier; unsere Erziehung ändert daran gar nichts, und jenes zwölfjährige Mädchen muß, weil es eine Indierin ist, schon ein erwachsenes Weib sein, aller Leidenschaften fähig.

»Sie haben in mich großes Vertrauen gesetzt, als Sie mir Eugen zu überwachen gaben, und ich muß dieses Vertrauen rechtfertigen, daher spreche ich offen. Eugen hat sich in das fremde Mädchen verliebt. Ein Vorwurf ist ihm deshalb nicht zu machen.«

Emily spielte sinnend mit dem Federhalter.

»Sie mögen recht haben,« sagte sie; »Eugen hat sich, seitdem er das Mädchen im Walde gesehen, verändert. Er ist zerstreut, antwortet oft nicht, fragt mehrmals dasselbe. Kennen Sie das Mädchen?«

»Nur Eugens Beschreibung nach; gesehen habe ich es noch nicht. Doch morgen werde ich ja das Vergnügen haben.«

»Was soll ich tun, wenn Ihre Vermutung stimmt?«

»Das steht ganz in Ihrem Belieben. Es ist überhaupt keine Sünde, wenn Eugen das Mädchen liebgewonnen hat.«

»Nein, das ist keine Sünde,« lächelte Emily, »es kommt nur darauf an, wer Bega ist. Ich habe gehört, daß sich viele Abenteurer als indische Radschas ausgeben, besonders in neuerer Zeit.«

»Allerdings! Die Gerüchte, welche über das Nachbarhaus umgehen, klingen auch seltsam.«

»Was sagt man?«

»Bega werde eher wie ein Mann als wie ein Weib erzogen. Es ist für sie im Garten ein Reitplatz und ein Schießstand errichtet worden. Den ganzen Tag soll sie reiten, schießen und sonstige ritterliche Übungen vornehmen.«

»Ich nehme daran keinen Anstoß. Das Mädchen hat eben Lust dazu. In England findet man das häufig. Übrigens werden wir ja sehen, was der morgige Tag bringt. Wir müssen Eugen und das Mädchen beobachten, und finde ich Ihre Vermutung bestätigt, dann ...«

Emily stockte.

»Was würden Sie dann tun?«

»Ich weiß es wahrhaftig noch nicht, es bedürfte einer reiflichen Überlegung. Apropos, Miß Woodfield hat sich auf morgen zum Besuch angemeldet.«

»Eugen wird sich nicht besonders darüber freuen.«

»Und auch Mister Westerly kommt!« sagte Emily wie zögernd. »Ich bitte Sie, die nötigen Vorkehrungen treffen zu lassen, die Gäste könnten vielleicht einige Tage hierbleiben wollen.«

Reihenfels verbeugte sich schweigend und verließ das Zimmer, um einen Diener mit der Einladung nach dem Nachbarhause zu schicken.

Auf dem Korridor begegnete ihm Eugen; dieser hatte sicher auf ihn gewartet.

»Nun, ist sie eingeladen worden? Kommt sie? Wann?« sprudelte es über Eugens Lippen.

»Sie verlangen viel auf einmal!« lachte Reihenfels. »Wer ist denn >sie< überhaupt?«

»Ich meinte die französische oder indische Familie,« entgegnete Eugen errötend.

»Ja, diese kommt morgen zum Essen!«

»Das wird herrlich!«

»Und Miß Woodfield ebenfalls!«

»Ach, die hätte bleiben können, wo sie ist!«

»Und auch Mister Westerly wird kommen!«

»Ist er eingeladen worden?«

»Er hat sich selbst eingeladen!«

»Was sollen seine vielen Besuche nur bedeuten? Ich möchte den Kerl am liebsten immer hinauswerfen, wenn ich ihn sehe. Sobald ich einmal eine Gelegenheit dazu finde, tue ich es!«

Der betreffende Tag kam und brachte die Erwarteten.

Zuerst erschien Mister Westerly in Begleitung von Miß Woodfield, die den gleichen Zug benutzt hatte.

Miß Rachel Woodfield war eine im Geruche der Heiligkeit stehende richtige alte Jungfer.

Das magere Gesicht mit der spitzen Nase drückte die größte Energie aus; die Brille vor den scharfen, blauen, aber auch klugen Augen gab ihr ein noch männlicheres Aussehen, als sie schon durch den kleinen Bartanflug auf der Oberlippe besaß. Alles an ihr war eckig. Der Kopf, die Schultern, die Hüften, die Hände, bis hinab zu den Füßen, die in quadratischen Schuhen steckten. Ein umfangreicher Strickbeutel war ihr unvermeidlicher Begleiter, aus dessen Tiefen sie die gottlose Welt mit Traktätchen versah. Im übrigen saß ihr Herz auf dem rechten Flecke.

Ihr Bruder hatte sich bereits in früher Jugend in Nordamerika eine Heimat geschaffen. Er war vor vierzig Jahren in die Baffinsbai-Kompanie, eine Pelzjägergesellschaft, als Lehrling eingetreten, hatte seine Lehrjahre als Pelzjäger durchgemacht, es bis zum Direktor der Kompanie gebracht und sich dann selbst etabliert. Er beschäftigte im hohen Norden Amerikas unzählige Trapper und Fallensteller und machte selbst monatelange Reisen durch Wildnisse und Schneewüsten, um von jagenden Indianern Pelze einzutauschen.

Diesen Bruder hatte vor jetzt etwa fünfundzwanzig Jahren ein schwerer Schicksalsschlag getroffen, der dem von Lady Carter fast ähnelte; dadurch waren Emily und Miß Rachel zusammengeführt worden, und diese war die einzige, durch welche erstere fortwährend an den Verlust ihres Kindes erinnert wurde.

Gleich nach der Begrüßung wußte sie Mister Westerly aus Emilys Gesellschaft zu verscheuchen.

»James hat geschrieben!« begann sie ihre Neuigkeiten auszupacken, einen Brief in der nervös zitternden Hand zerknitternd. Er hat mir seine baldige Abreise nach London angezeigt.«

»Er kommt geschäftlich hierher?« fragte Emily. »So schreibt er wenigstens; er will einigen Pelzauktionen beiwohnen, aber ich glaube es ihm nicht.«

»Was anders sollte ihn herführen?«

»Wie können Sie so fragen!« rief Rachel entrüstet. »Das Herz des armen Vaters kennt keine Ruhe mehr, das große Amerika ist ihm noch zu eng; wie vor fünfundzwanzig Jahren, so scheint er jetzt abermals die Welt ziellos durchkreuzen zu wollen, um eine Spur von Nancy zu finden.«

»Dazu würde es jetzt die höchste Zeit!« ließ Westerly sich aus seiner Ecke vernehmen.

Rachel warf ihm einen bösen Blick zu.

»Glauben Sie, daß er seine Hoffnung noch nicht verloren hat?« fragte Emily.

»Wie sollte er wohl! Würden Sie jemals die Hoffnung aufgeben, Ihren Gatten und Ihr Kind wiederzusehen?«

»Aber Ihr Bruder hat verzweifelte Anstrengungen gemacht seine Tochter wiederzubekommen. Die Spur des Räubers ging doch nach Südamerika, und Ihr Bruder hat es jahrelang durchkreuzt. Sollte er einen Anhalt gefunden haben?«

»Davon schreibt er nichts, wie er überhaupt sehr wortkarg ist. Mein Gott,« seufzte Rachel, »ich habe ihn nun bald vierzig Jahre nicht mehr gesehen, ich fürchte, er wird zum Greise geworden sein!«

»Es ist nicht möglich! Vierzig Jahre haben Sie ihn nicht gesehen?« warf Westerly dazwischen. »Ich hätte Sie doch höchstens für dreißig Jahre gehalten!«

Das Kompliment verfehlte bei Miß Rachel ganz seine Wirkung. Mit einem vernichtenden Blicke schaute sie den Sprecher an.

»Versuchen Sie Ihre Schmeicheleien bei anderen Personen anzubringen, aber nicht bei mir!« sagte sie hoheitsvoll und drehte dem lächelnden Spötter verächtlich den Rücken.

»Sie erwarten noch mehr Besuch, wie ich gehört habe?« fuhr sie, zu Emily gewandt, fort.

»Das ist ja selten, daß man in Ihrem stillen Hause zahlreiche Gäste trifft!«

»Ich habe neue Nachbarn bekommen, sie bewohnen die Villa des Marquis de Lacoste.«

»Es sind doch nicht etwa Franzosen?«

»Allerdings! Ist Ihnen das unangenehm?«

»O, Sie wissen doch, wie sehr ich die französische Nation seit dem Unglück meines Bruders hasse. Doch ich werde mich zur Ruhe zu zwingen wissen. Was sind es für Leute?«

»Sie kommen aus Indien und bringen auch den Radscha von Tipperah und seine Tochter, mit.«

»Heiden?« fragte Rachel mißtrauisch.

»Ich glaube, es sind Buddhisten.«

»Also Heiden! Da wird es Arbeit für mich geben. Wie haben Sie ihre Bekanntschaft gemacht?«

Emily erzählte, wurde aber unterbrochen, weil ein Wagen mit den erwarteten Gästen vorfuhr. Während die Hausfrau im Beisein Eugens sie empfing, ordnete Rachel ihre Traktätchen im Strickbeutel.

Als Emily Bega erblickte, hätte sie bald laut aufgeschrieen. Sie stürzte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, blieb dann aber stehen und ließ die Arme schlaff herabsinken.

»Mein Gott, wie ist mir denn!« murmelte sie, die Hand auf die Stirn legend.

»Miß Bega, die Tochter des Radschas von Tipperah,« stellte Monsieur Francoeur vor.

Emily antwortete nicht; ihre Blicke hingen starr an dem jungen Mädchen, welches sich, von diesem leidenschaftlichen Empfange überrascht, halb hinter dem Rücken von Madame Dubois versteckt hielt.

»Es sind ganz seine Züge,« murmelte Emily.

Dann beherrschte sie sich, ging auf das Mädchen zu und küßte es so innig, daß Bega von neuem in Verlegenheit geriet.

Der Franzose machte der seltsamen Szene ein Ende, indem er nun den taubstummen Radscha vorstellte.

Emily hörte nur mit halbem Ohre; unverwandt schaute sie auf die reizenden Züge Begas, und sie wandte die Augen nur ab, um sie nach dem Gemälde an der Wand wandern zu lassen, welches ihren verschollenen Gemahl in der Blütezeit seines Glückes darstellte.

»Es ist nicht möglich,« seufzte sie dann.

»Wie meinen gnädige Frau?« fragte Francoeur.

»Eine Ähnlichkeit, welche mich überwältigte. Ich glaubte beim Anblick Begas die Züge meines Gatten zu sehen. Sie kennen mein Schicksal?«

»Ihr Herr Sohn hat uns damit bekannt gemacht,« nahm Frau Dubois das Wort. »Wirklich, es ist eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Bega. Es ist ein Spiel des Zufalls.«

Bei der Vorstellung der vorher angekommenen Gäste fand eine neue Überraschung statt.

»Miß Woodfield – Monsieur Francoeur,« sagte Emily.

Der Franzose wechselte plötzlich die Farbe.

»Miß Rachel Woodfield?« rief er wie erschrocken.

»Wie? Sie kennen mich bereits?« fragte die alte Dame im Tone des höchsten Erstaunens und rückte erregt an ihrer Brille. »Ich kann mich doch nicht erinnern, jemals Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, umsoweniger, weil ich mit Franzosen nicht verkehre, weil – ich des Französischen nicht mächtig bin,« fügte sie schnell hinzu, um sich keiner Unhöflichkeit schuldig zu machen.

Francoeur hatte sich schnell wieder gefaßt.

»Bei Nennung Ihres werten Namens stieg eine unangenehme Erinnerung in mir auf. Ich habe einst die Bekanntschaft einer Miß Woodfield gemacht, welche den Vornamen Rachel führte. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß Sie denselben Vornamen haben.«

»Unangenehme Erinnerungen? Merkwürdiger Zufall?« knurrte Rachel. »Ich finde gar nichts Merkwürdiges dabei.«

Während der Tafel drehte sich das Gespräch meist um indische Verhältnisse. Der alte Radscha bediente sich wieder der schriftlichen Korrespondenz; zwischen ihm und dem Franzosen flogen einige Zettel hin und her, und einmal schien es, als ob das eine Auge des Indiers Mister Westerly mit recht großem Interesse fixiere.

»Ihren Reden entnehme ich, daß Sie in Indien wie zu Hause sind,« sagte der Franzose zu Westerly.

»Allerdings, ich habe erst meine früheste Jugend in Indien zugebracht und dann wieder vom siebzehnten bis zum sechsundzwanzigsten Jahre.«

»Sind sie in Indien geboren?«

»Ja.«

»Täusche ich mich, wenn ich vermute, daß Sie indisches Blut in Ihren Adern haben?«

Diese Worte enthielten keine Beleidigung, Westerly schien sie aber als solche aufzufassen. Er blickte den Frager stirnrunzelnd an.

»Mein Herr, ich bin der Sohn des Lords Westerly, meine Mutter ist eine Lady. Ich wurde geboren, als meine Eltern sich in Indien aufhielten.«

»O, Verzeihung, ich wollte Sie durchaus nicht beleidigen! Ich fand es nur wunderbar, daß Sie so tief in die Sitten der Hindus eingedrungen sind.«

»Das kommt daher, weil ich im geheimen Kabinett beschäftigt war und wir uns mit dem Studium der indischen Verhältnisse eingehend befassen mußten.«

»Welchem Gouvernement waren Sie zugeteilt?«

»Dem von Berar.«

»Das Gouvernement hat seinen Sitz in Akola. Waren Sie nicht zugegen, als sich jener Fall ereignete?«

Er zwinkerte mit den Augen nach Emily hinüber, und Westerly nickte kurz. Doch sie hätten nicht so vorsichtig zu sein brauchen, Emily hatte nur Auge und Ohr für die neben ihr sitzende Bega.

Nicht, daß sie mit dem Mädchen viel gesprochen hätte, nein. Sie lauschte nur wie entzückt dessen Worten, sie konnte ihre Augen nicht von den reizenden Zügen des Mädchens abwenden.

Fast ebenso erging es Eugen; seine ganze Aufmerksamkeit galt Bega, und sie schien sich gern nur von ihm unterhalten zu lassen.

Ab und zu wendete sie den Kopf und blickte geradeaus nach dem ihr gegenübersitzenden Reihenfels, doch kaum begegnete sie dem ernsten, kalten Blicke des jungen Gelehrten, so senkte sie, wie auf bösem Wege ertappt, die langbewimperten Augen und überließ sich wieder ganz ihrem Nachbar.

Emily mußte sich jetzt auch dem Franzosen widmen, denn dieser lenkte das Gespräch auf Eugen; er rückte mit seinem Plane heraus, und es war ihm bald gelungen, ihn zu verwirklichen.

Mister Reihenfels sollte Bega in deutscher Sprache unterrichten, und sofort erklärte Eugen, auch er wolle von jetzt ab Deutsch treiben. Schon immer hätte er Lust gehabt, diese Sprache, die vollkommenste der neuen Zeit, zu erlernen.

»Diesen Wunsch haben Sie noch nie geäußert,« sagte Reihenfels lächelnd. »Sie hätten ja schon längst Gelegenheit gehabt, von mir Deutsch zu erlernen.«

Zum Glück brauchte Eugen nicht zu antworten, weil seine Mutter das Wort nahm.

»Ehe wir etwas beschließen, müssen wir Mister Reihenfels fragen, ob er die neuen Lehrstunden zu geben gewillt ist.«

Halb erstaunt blickten der Franzose und seine Schwester auf Reihenfels; für sie galt ein Hauslehrer als eine völlig untergeordnete Person.

»Wie? Sind Sie nicht in der Lage, deutschen Unterricht geben zu können?«

»Ich bin ein Deutscher, wenn auch in England geboren, und bin gern bereit, meine Kräfte zur Verfügung zu stellen. Es ist nur die Frage, ob Miß Bega mit der Wahl des Lehrers zufrieden ist.«

»Natürlich! Warum denn nicht?« entgegnete das Mädchen, dem Blicke der ernsten, auf sie gerichteten Augen scheu ausweichend.

»Dann wäre die Sache abgemacht!« rief Emily. »Ich denke, Bega kommt jeden Tag zur gewissen Zeit zu uns.«

»Ich habe noch einen anderen Vorschlag,« sagte der Franzose. »Mit Begas Lehrern ist es nämlich schwach bestellt, und wenn Sie damit einverstanden sind, so lassen Sie uns den Unterricht ganz teilen.«

Nach kurzem Beraten wurde ausgemacht, daß Eugen und Bega von jetzt an gemeinschaftlichen Unterricht genössen. Sie sollte Emilys Haus einen Tag um den anderen besuchen. Die Stunden, die Reihenfels gab, sollten jedoch in des Radschas Villa stattfinden, denn, fügte der Franzose hinzu, er selbst gedächte etwas von dem Unterrichte, besonders im Deutschen, zu profitieren.

Nach der Mahlzeit wurde der Kaffee in einer Laube des Parkes serviert. Es war heiß; die schattigen Gänge luden zum Spazierengehen ein, und nicht lange dauerte es, so hatten sich Gruppen gebildet, welche unter den alten Bäumen wandelten.

Miß Rachel suchte vergebens mit dem Indier eine Bekehrung vorzunehmen, an seiner Taubheit scheiterte alles. Begas konnte sie nicht habhaft werden, denn mit dieser beschäftigten sich Eugen und Emily, und so suchte sie schließlich die Dienerschaft und ganz besonders die bekehrte Indierin Hedwig auf, um an sie Traktätchen zu verteilen. Auch Mister Westerly vermochte nicht mit Emily in ein Gespräch zu kommen, so war diese für Bega eingenommen; daher entfernte er sich unter dem Vorwande, eine Zigarre rauchen zu wollen, in den Wald.

Er blieb nicht lange allein; bald gesellte sich ihm Monsieur Francoeur bei. Er bat um Feuer für seine Zigarre und fragte nach einleitenden Redensarten: »Es ist wunderbar, wie das Schicksal oft unseren Wünschen entgegenkommt. Ich hatte die Absicht, sie in den nächsten Tagen in London aufzusuchen, und nun begegne ich Ihnen hier, ganz in der Nähe meiner Behausung.«

Westerly war stehen geblieben.

»Mich wollten Sie in London aufsuchen?« fragte er erstaunt.

»Sie, Mister Westerly.«

»Aber Sie kennen mich ja gar nicht!«

»Doch; dem Namen nach sehr gut.«

»Aus Indien?«

»Ja.«

»Möglich, dort ist mein Name in einigen Gegenden bekannt. Was für ein Anliegen haben Sie?«

Der Franzose sah sich scheu um.

»Es ist hier nicht der Ort, darüber zu sprechen, die Bäume könnten Ohren haben. Darf ich Sie ersuchen, morgen nachmittag zu mir zu kommen? Sie bleiben einige Tage hier, wie ich gehört habe, und nach meinem Hause ist es nicht weit.«

Es lag etwas so Freches, Impertinentes in der Sprechweise des Franzosen, daß Westerly seinen Unmut kaum beherrschen konnte.

»Monsieur, sprechen Sie deutlicher! Ich verstehe Sie nicht!« sagte er stirnrunzelnd.

»Nun, ich bitte nur um Ihren Besuch.«

»Ich wüßte nicht, mit welchem Rechte.«

»Nun, ich komme direkt aus Indien und bin beauftragt, Ihnen Grüße zu bringen.«

»Grüße? Von wem?«

Westerly wurde unruhig; sein Herz begann bedenklich zu schlagen, doch er wußte einen abweisenden Ton zu bewahren.

»Von einer Dame, welche Sie sehr gut kennen.«

»Ich habe die Bekanntschaft mancher Dame in Indien gemacht,« lachte der Engländer, »jedoch selbst mit der Erinnerung daran gebrochen.«

»Die Dame interessiert sich noch jetzt höchlichst für Sie.«

»Eine Engländerin?«

»Eine Indierin.«

»Bah, von denen gehen zwölf auf ein Dutzend.«

»Es ist eine Haremsdame. Ihr Name ist Ayda.«

Jetzt konnte Westerly seine innere Unruhe kaum noch bemeistern; mit aller Gewalt mußte er sich dazu zwingen, ein gleichgültiges Gesicht zu machen.

»Sie gefallen sich in rätselhaften Andeutungen; ich kann mich keiner Haremsdame Ayda entsinnen.«

»Strengen Sie nur Ihr Gedächtnis an,« sagte der Franzose spöttisch, »Sie lernten sie in Akola kennen. Das Nähere sollen Sie morgen erfahren; ich erwarte Sie nachmittags vier Uhr in meinem Hause!«

Klang das nicht wie ein Befehl? »Mein Herr, ich möchte Ihre Worte nicht gern mißdeuten, denn sonst ...« rief Westerly aufgebracht.

»Kurzum, ich erwarte Sie morgen um vier Uhr.«

Der Franzose wollte gehen; Westerly eilte ihm jedoch nach und hielt ihn am Arme zurück.

»Jetzt müssen Sie mir Rechenschaft geben,« raunte er ihm mit vor Erregung zitternder Stimme zu. »Was veranlaßt Sie, so mit mir zu sprechen?«

»Auch das sollen Sie morgen erfahren,« war die höhnisch klingende Antwort.

»Ich verlange auf der Stelle eine Erklärung.«

»Eine Andeutung sollen Sie wenigstens bekommen, dann werden Sie sich nicht mehr weigern, mich morgen zu besuchen. Mit jener Ayda hatten Sie am Abend vor dem Tage ein Rendezvous, an welchem Sir Carter spurlos verschwand. Nun?«

Westerly ließ schlaff den Arm sinken; er starrte den lächelnden Franzosen wie ein Gespenst an.

»Ich entsinne mich nicht,« murmelte er tonlos.

»Noch immer nicht? Das Rendezvous war eigentlich für Lord Canning, dem jetzigen Generalgouverneur von Indien, damals dritten Sekretär im geheimen Kabinett zu Akola, bestimmt. Sie fingen aber die Einladung der Unbekannten ab und machten Gebrauch davon.

Erinnern Sie sich jetzt? Also auf Wiedersehen morgen, Mister Westerly.«

Wie vom Donner gerührt stand dieser da und schaute dem fortgehenden Franzosen nach.

Er zitterte wie Espenlaub, seine Finger griffen in der Luft herum; die Zähne klapperten hörbar.

Da raschelte es neben ihm, und er sah Reihenfels aus einem Gebüsch auf sich zukommen.

»Was ist mit Ihnen, Mister Westerly? Fühlen Sie sich unwohl?«

Sofort raffte sich der Engländer zusammen.

»Was wollen Sie? Wie kommen Sie hierher?« schrie er den jungen Mann an, der mit besorgter, aber unbefangener Miene vor ihm stand.

»Mich führt der Weg ganz zufällig hierher; ich sah durch die Lücken der Bäume Monsieur Francoeur, wollte ihn aufsuchen und finde nun zu meinem Erstaunen statt seiner Sie hier. Ist Ihnen unwohl?«

Westerly hatte sich schnell beruhigt; dieser Mann schien nichts von dem Gespräch erlauscht zu haben.

»Allerdings, ich bekam einen Schwindelanfall. Ich leide überhaupt jetzt öfter an solchen.«

»Sie kamen jedenfalls aus der Sonnenhitze in den Waldschatten; es ist sehr kühl hier.

Erlauben Sie, daß ich Sie zu der Gesellschaft zurückführe?«

Unterwegs überzeugte sich Westerly durch anscheinend harmlose Fragen, daß Reihenfels wirklich nichts gehört hatte. Aber er täuschte sich.

Reihenfels hatte die letzten Worte des Franzosen gehört und erraten, daß hier ein Geheimnis vorlag.

»Der Franzose hat Westerly in der Tasche,« dachte er, dabei aber die Fragen seines Begleiters beantwortend. »Westerly ist erschrocken, als er dies erkannte. Die Sache gibt zu denken.«

Am Abend verabschiedeten sich die Nachbarn. Fast schien es, als ob Emily sich von dem indischen Mädchen gar nicht trennen könnte; wie Eugen, so schaute auch sie dem Wagen so lange nach, bis er ihren Blicken entschwand, dann verbrachte sie eine halbe Stunde, in Träumereien versunken, vor dem Bildnis ihres verschollenen Gemahls.

Reihenfels hatte sich nach dem kurzen Abschied in sein hochgelegenes Zimmer begeben, und auch er blickte unverwandt dem fortrollenden Wagen nach, ja, nahm sogar ein Fernglas zur Hand, richtete es aber nicht auf den Franzosen, welcher sein Mißtrauen erregt hatte, sondern auf das fremde Mädchen, dessen liebliche Züge er im Glänze der Abendsonne noch erkennen konnte.

Als der Wagen um eine Ecke bog schob er seufzend das Fernrohr zusammen und begab sich zu Eugen, welcher beim Eintritt seines Lehrers errötend schnell etwas in der Tasche verbarg. – »Du hast einen unverzeihlichen Fehler begangen, als du bei der Vorstellung dieser alten Miß so erschrakst,« sagte Madame Dubois zu ihrem Bruder, als sie beide allein waren.

»Denke dir aber auch mein Entsetzen,, als ich ihren Namen hörte! Es ist kein Zweifel, sie ist die Schwester des Mannes, den ich fürchten muß.«

»Hast du nichts anderes gehört, was dir einen noch größeren Schrecken einjagt?«

»Was könnte das sein?«

»James Woodfield hat die Absicht, nach London zu kommen. Leicht möglich, daß er auch diese Gegend besucht, wo sich seine Schwester oft aufhält.«

Der Franzose erschrak furchtbar; erst starrte er die Schwester entsetzt an, dann begann er mit fest zusammengepreßten Lippen in dem Gemach auf und ab zu gehen.

»Hat sie davon gesprochen?«

»Ja, als du im Walde warst. Sie hat sogar den Brief ihres Bruders gezeigt.«

»Wann kommt er?«

»Die Zeit ist unbestimmt, vielleicht erst nächstes Jahr. Aber er kommt.«

»Welchen Grund hat er angeführt?«

»Er will Pelzauktionen beiwohnen.«

»Nicht eine nochmalige Nachforschung beginnen?«

»Dies glaubt die spleenige Miß allerdings zwischen den Zeilen zu lesen, doch es ist Unsinn. Wie sollte der Mann ahnen, daß seine Tochter durch den Entführer nach der anderen Hälfte der Erdkugel gebracht ward und daß eine Lösung des Geheimnisses in dem frommen England zu suchen ist? Überdies sind ja schon fünfundzwanzig Jahre seitdem vergangen.«

»Ganz meine Ansicht!« nickte der Bruder.

»Wie aber, wenn er hierherkommt? Würdest du seine Ankunft abwarten?«

Der Franzose blieb mit verschränkten Armen vor dem Weibe stehen.

»Warum nicht?«

»Fürchtest du nicht, daß er dich erkennt?«

»Nicht im geringsten. Ich habe mich in den fünfundzwanzig Jahren sehr verändert; meine Heimat ist Indien; ich könnte meinen Aufenthalt dort bis zu meiner Jugend zurück beweisen; ich bin noch niemals in Amerika gewesen, und, zum Schluß, ich darf meinen Posten unter keinen Verhältnissen verlassen, es sei denn, mein Verbleib führe einen Verrat unserer Absichten herbei. Du weißt, in wessen Auftrage wir handeln, und wem wir gehorchen müssen!«

»Ich weiß, daß wir nur elende Sklaven sind,« seufzte die Schwester, »daß unser glänzendes Los schließlich nur beklagenswert ist!«

»Es werden andere Zeiten für uns kommen; wir sind auf dem besten Wege dazu; alle unsere Pläne gehen in Erfüllung. Jetzt braucht es nur Geduld!«

»Wie stehst du mit Westerly?«

»Er ist bereits zu Kreuze gekrochen. Meine Andeutung, daß ich um sein Geheimnis weiß, durch dessen Veröffentlichung er gebrandmarkt wird, schmetterte ihn nieder. Er wird mich morgen besuchen und mir gehorchen müssen.«

»Wie ist sein Verhältnis zu Lady Carter?«

»Erfahren habe ich darüber noch nichts.

Hast du denn nichts bemerkt?«

»Nur, daß Westerly öfters versuchte, sich mit Lady Carter allein zu unterhalten, was ihm nie gelang, weil sie ganz von Bega eingenommen war.«

»Sie trägt noch den Witwenschleier.«

»Sie wird ihn wohl nie ablegen.«

»Dann wäre sie kein Weib!«

»Wenigstens nicht, solange sie nicht die sichere Nachricht von dem Tode des Gatten erhalten hat.«

»Ah, so steht die Sache! Gut, es soll Sorge getragen werden, daß sie den Beweis seines Todes erhält!«

»Operiere nicht zu kühn!« warnte die Schwester.«

Ich nehme keine Verantwortung auf mich; ich habe die Vollmacht, alles zu tun, was unserer Sache nützlich ist. Mißlingt es, so fällt die Schuld auf den, der mir die Vollmacht gegeben hat. Ich bin gespannt, was uns der morgige Tag bringen wird!«

Nach diesem Zwiegespräch zogen sie sich in ihre Schlafgemächer zurück.


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