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23. In Olympia

Friedrich Reihenfels, der vorher ganz unbeachtete Aufseher im britischen Museum, war plötzlich eine Berühmtheit geworden. Er wurde mit Besuchen und Briefen überschüttet; Neugierige wollten mehr hören, und Gelehrte baten um Unterredungen. Am zweiten Tage bereits wurde er von einer wissenschaftlichen Gesellschaft gefragt, ob er geneigt sei, selbst nach Indien zu gehen und an Ort und Stelle weitere Forschungen zu betreiben.

Reihenfels erbat sich Bedenkzeit, doch in seinem Innern stand schon der Entschluß fest, von dem Anerbieten Gebrauch zu machen.

Sein Sohn Oskar mußte ihm die Korrespondenzen erledigen helfen und konnte daher nicht sogleich nach Wanstead zurückkehren, sondern nur eine schriftliche Entschuldigung an Lady Carter gelangen lassen. An Bega schrieb er nicht, denn er ahnte, daß seine Briefe von Monsieur Francoeur, der die Liebschaft mißbilligte, unterschlagen werden würden.

Die Tage verflossen dem jungen Manne im Fluge, so war er mit den Angelegenheiten seines Vaters beschäftigt.

Eines Abends, als er sich gerade im Zimmer seines Hotels befand, ließ sich ein Herr namens Giraud bei ihm melden.

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie in Ihrer Arbeit störe,« begann der Franzose nach der Vorstellung. »Ihr und Ihres Herrn Vaters Namen sind in der letzten Zeit durch die Auffindung des leeren Grabes von Timur Dhar berühmt geworden, und ich glaube, Sie werden eine Mitteilung gern annehmen, welche noch mehr Licht auf die Sache wirft.«

»Nur meinem Vater, nicht mir, ist es zu verdanken, daß man in die religiösen Geheimnisse der Fakire zu dringen beginnt,« unterbrach Oskar bescheiden den Besucher.

»Auch Ihr Name wird häufig genannt. Ich war vorhin bei Ihrem Herrn Vater, er ist leider verreist, und meine Angelegenheit duldet keinen Aufschub.«

»Sollten Ihre Mitteilungen wirklich von solcher Wichtigkeit für uns sein?« fragte Oskar, zweifelnd den geckenhaft geputzten Franzosen mit dem abgelebten Gesicht betrachtend.

»Ich glaube. Wollen Sie mich anhören?«

»Bitte!«

»In London ist jetzt eine indische Ausstellung eröffnet worden mit landschaftlichen Szenerien, Volkstypen, Gauklern, Bajaderen, kurz, sie bringt alles, um den Zuschauer das Leben in Indien und dieses selbst kennen zu lehren ...«

»O, ich kenne derartige Ausstellungen,« unterbrach ihn Oskar geringschätzend. »Sie sind arrangiert von tüchtigen Kräften, welche Land und Leute genau kennen, aber die Ausführung ist gewöhnlich sehr mangelhaft. Solche Schauspiele dienen nur zur Aufregung der Sinnenlust, dem Forscher bieten sie nichts.«

»Aber die dabei verwendeten Leute sind echt,« sagte der Franzose mit wichtiger Miene, »direkt aus Indien bezogen.«

»Abenteurer, ja,« lächelte Oskar, »manchmal sind es auch Zigeuner, Indianer, Mulatten und so weiter, welche als Indier ausgegeben werden, wenn nur die Hautfarbe nicht weiß ist.«

»Mag sein, daß viel Schwindel dabei getrieben wird, es sind aber auch wirkliche Indier darunter.«

»Nun, und?«

»Gestern abend sprach ich mit einer Indierin, die in dieser Ausstellung engagiert ist. Sie hatte auch von Ihrer Entdeckung gehört und meinte, wenn sie darüber gefragt würde, könnte sie noch viel mehr davon erzählen. Aber freilich, sagte sie zuletzt, würde sie nicht über so etwas gefragt, man hielte sie für zu dumm.«

»Das käme darauf an; das kleinste Werkzeug ist uns nicht zu gering. Sagte sie nicht, aus welcher Quelle ihre Kenntnisse stammten?«

»Sie erzählte, sie sei die Tochter eines Gauklers und zwischen Fakiren aufgewachsen.«

»Ah, dann könnte sie allerdings etwas von deren Geheimnissen wissen.«

»Kommen Sie mit mir nach der indischen Ausstellung?«

»Heute abend schon?«

»Heute abend.«

»Warum so eilig?«

»Das Mädchen verläßt morgen früh London, es hat ein Engagement in Paris angenommen.«

»So, so. Was ist sie eigentlich?«

»Sie ist Figurantin in einer stummen Pantomime.«

»Würde sie nicht zu überreden sein, noch einige Tage hierzubleiben?«

»Schwerlich. Laut Kontrakt muß sie übermorgen in Paris sein, oder eine empfindliche Geldstrafe trifft sie.«

»Wenn ihre Angaben von Wichtigkeit sind, so würden wir die Strafe tragen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann vielleicht auch.«

»Das Mädchen läßt sich nicht auf solche Bedingungen ein. Es ist ihr fester Entschluß, morgen früh abzureisen, und daran können wir nichts ändern. Kennen Sie den Charakter solcher Mädchen?«

»Ich hatte noch nicht die zweifelhafte Ehre, mit ihnen in nähere Berührung zu kommen.«

»Ah, das findet man heutzutage selten!«

»Lassen wir das aus dem Spiele! Sie glauben also nicht, daß das Mädchen sich würde zum Bleiben bewegen lassen?«

»Nein, derartigen Geschöpfen gelten Lohn und Versprechungen nichts, sie kennen nur ihren Willen, der sie immer neuen Abwechslungen zuführt. Sie würden Mirzi – so ist ihr Name, wahrscheinlich ein angenommener – durch nichts zum Bleiben bewegen können.«

»Also gut, heute abend! Ich komme. Mein Vater könnte mir Vorwürfe machen, wenn ich diese Gelegenheit vorübergehen ließe. Wann und wo treffen wir uns?«

»Können Sie nicht gleich mitkommen? Mirzi ist vor Beginn der Aufführung frei. Später ist sie immer beschäftigt.«

»So komme ich gleich mit. Findet sich denn dort auch Gelegenheit zu einer vertrauten Unterredung?«

»Gewiß« entgegnete der Franzose, nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückend. Er sah in Reihenfels noch einen ganz unschuldigen und unerfahrenen jungen Mann.

Oskar erhob sich und machte im Nebenzimmer Toilette. Er fand nichts Verfängliches darin, den Fremden zu begleiten. Sie bestiegen einen Wagen und fuhren nach Olympia, dem mächtigen, in Earls Court gelegenen Vergnügungsetablissement.

Der junge Deutsche fühlte sich unangenehm berührt, als Monsieur Giraud das Eintrittsgeld für ihn bezahlte; doch derselbe erklärte, er wolle ihm heute als Mentor dienen und ihm beweisen, daß er unrecht hatte, indem er über die indische Ausstellung so geringschätzend sprach.

In der Tat, Oskar glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, wie geblendet mußte er sie schließen, alle seine Sinne gerieten in Aufregung, als er den riesengroßen Saal betrat.

Man glaubte sich wirklich in das Wunderland Indien versetzt.

Der Saal glich einem indischen Parke, kein Baum, kein Strauch, keine Blume der Tropenwelt fehlte. An den Säulen rankten sich Schlingpflanzen bis hinauf an das gläserne Dach. Ein betäubender Geruch erfüllte die Luft, Blumen und Damentoiletten entströmend, eine sinnliche Musik bezauberte das Ohr, und das Auge hing trunken an den bunten Bildern, die sich ihm entrollten.

Es war ein indischer Markt. Hier standen Bambushütten, in denen schöne, dunkeläugige Indierinnen Seidenwaren, Schmuckgegenstände, Früchte, Blumen und andere Erzeugnisse des Heimatlandes verkauften; dort ließ ein halbnackter Kuli Schlangen tanzen; dort wieder verschlang ein Gaukler Dolche und Schwerter; unter einem Mandelbaume schwebten leichtgeschürzte Bajaderen im Reigen. Dann wieder folgten lange Reihen von Bambushütten und fliegenden Verkaufsständen, indische Tee- und Kaffeehäuser mit eingeborener Bedienung, Häuser, in denen Reis auf hunderterlei Weise zubereitet ward, einfache Tempel aus Bambusrohr bis zu den steinernen Palästen, in denen Brahma verehrt wird, daneben Ställe mit den dem Tempel geweihten Elefanten, darunter auch ein heiliger, weißer; indische Priester fütterten sie.

Kurz, es war ein vollkommenes Bild indischen Lebens, nicht das geringste fehlte. Auf einer Seite glaubte man eine indische Stadt mit ihren weißen Häusern, Tempeln und Moscheen sich erheben zu sehen – es war ein an die Wand gemaltes Panorama – und wurde dort hinten der Vorhang weggezogen, so erblickte man eine unendlich große Bühne, deren Hintergrund man kaum noch sehen konnte. Auf dieser fanden Vorstellungen statt.

Auf den Spazierwegen wimmelte es von schwarzen Fräcken und elegantesten Damentoiletten.

Reihenfels erkannte unter den Herren viele hohe Aristokraten, deren Väter im Parlament saßen, viele Söhne der ersten Großkaufleute, die ganze noble Welt Londons war hier vertreten, das heißt die der Herren, denn die Damen, so glänzend sie auch gekleidet waren, gehörten ohne Ausnahme der Halbwelt an. Toiletten, Goldschmuck und Diamanten mußten ihnen die Herren mit dem Gelde ihrer Väter bezahlen.

Das ist Olympia, in der die großen Ausstellungen arrangiert werden, der Versammlungsort der jeunesse dorée und der Damen der Halbwelt – der Fleischmarkt Londons, wie es nicht besser genannt werden kann, und dennoch großartig.

Es gibt keine Stadt, nicht einmal das vergnügungssüchtige Paris, die etwas Ähnliches wie London aufzuweisen hat.

Der Saal wird nachmittags um vier Uhr geöffnet, und die Vorstellung dauert ununterbrochen bis nachts zwölf Uhr – für einen einmaligen Eintrittspreis – und wenn die Türen geschlossen sind, beginnen erst die eigentlichen Orgien bei denen die Geldquellen für die Unternehmer in unerschöpflicher Fülle fließen.

So ist Olympia noch heute.

Wie soll das enden? Wohin soll das noch führen? So haben vor einigen Jahren Hunderttausende in dem frommen London erst gefragt, dann geschrieen, sie sind zusammengetreten und haben stürmisch verlangt, daß diese Brutstätte des Lasters vernichtet werde, oder auf London würde, wie einst auf Sodom und Gomorra, noch feuriger Schwefel regnen.

Die Forderungen mußten gehört und überlegt werden, denn sie kamen von mächtigen Leuten, welche die Sache bis vors Parlament trieben.

Die Herren überlegten lange, schüttelten dann die grauen Köpfe und lehnten den Antrag ab. Und warum? Will der Leser es erfahren? »Ja, wir würden gern dieses schädliche Haus aufheben,« sagten sie, »aber was sollen dann die fünftausend Mädchen anfangen, welche tagtäglich in Olympia auftreten und welche dann brotlos werden? Würden sie nicht die Straßen überschwemmen und nur noch mehr Unheil stiften? Nein, Olympia mag unter polizeilicher Aufsicht weiterbestehen.«

Oskar, hatte eine strenge Erziehung genossen. Die gottesfürchtige Mutter hatte ihm scheu, der ernste Vater Verachtung gegen solche Lustbarkeiten eingeimpft. Dennoch fühlte sich Oskar von dem bunten Treiben angezogen. Er erkannte zwar bald, daß das meiste gefälscht war, die Indier stammten aus allen Erdteilen, die Bajaderen waren spanische Zigeunerinnen, es gab Pflanzen, welche nur in Amerika, nicht in Indien wuchsen, aber der Gesamteindruck imponierte ihm doch gewaltig – die bunten Farben des Gewühls, der süße Duft und die faszinierende Musik der Geigen und Flöten berauschten ihn.

Dann fiel ihm der Zweck seines Hierseins ein, er unterbrach den Franzosen, der ihm fortwährend Erklärungen gab, ihm, in dessen Phantasie Indien in handgreiflicher Gestalt dastand.

»Sie wollten mich zu jener Indierin führen, Monsieur Giraud. Wo finden wir Sie?«

»Wir sind bereits auf dem Wege nach dem Rendezvous-Platz. Es geht freilich langsam, das Gewühl ist heute sehr stark, und Olympia ist groß. Haben Sie schon die neue Pantomime, der Einzug des Maharadscha in Delhi, gesehen?«

»Ich war überhaupt noch nicht hier.«

»Ah, so, ich hatte es vergessen. Das müssen Sie sehen, großartig! Alles neue Kostüme und neue Kräfte! Es sollen wieder zehn neue Pariser Solotänzerinnen engagiert worden sein; ich bin gespannt.«

»Sie sind häufiger hier?«

»Mein Gott, was soll man sonst mit den langen Abenden beginnen? Man vertreibt sich die Langeweile, das ist alles.«

Er drängte sich durch eine Gruppe von Damen, wechselte mit einigen Grüße, wie schon oft vorher, empfing unter Lachen einen Fächerschlag auf die Wange und stand dann mit Oskar vor einer Bambushütte, in welcher von einer Indierin feurige Getränke verschenkt wurden.

»Sie scheint noch nicht da zu sein,« sagte Giraud bedauernd. »Nehmen Sie ein Glas Sorbet, Mister Reihenfels? Ein kühles Getränk tut bei dieser Hitze gut.«

»Ich danke; mir zittern schon die Nerven vor Aufregung.«

»Das wird man gewöhnt. Trinken Sie wirklich nichts?«

»Ein Glas Eiswasser.«

»War Mirzi noch nicht hier?« wandte Giraud sich an das indisch gekleidete Mädchen, welches die Getränke bereitete.

»Sie war hier und hat auf Sie gewartet,« entgegnete die Indierin in einem schauderhaften Englisch mit jüdischem Jargon. »Jetzt ist sie bereits auf der Bühne.«

»Wie, schon jetzt?«

»Ja, die Vorstellung beginnt seit gestern eine Stunde früher als sonst,« mauschelte die Indierin weiter.

»O, Mister Reihenfels, das habe ich allerdings nicht gewußt! Ich hoffe, Sie warten noch; die Vorstellung dauert nicht lange, denn sie wiederholt sich. Ich werde dann Mirzi aufsuchen.«

Oskar beschloß zu bleiben. Er trank das Glas aus und promenierte mit Giraud in der Nähe der Hütte umher.

Der junge Gelehrte wollte sich das Vergnügen machen, einige Indier auf ihre Echtheit hin zu prüfen. Er redete sie auf indisch an, bekam aber höchst selten eine Antwort in derselben Sprache, meist in Englisch, auch in Französisch, Spanisch, Portugiesisch oder Italienisch.

»Ich glaube gar, Sie beherrschen alle diese Sprachen,« sagte Giraud zuletzt erstaunt.

»Mein Vater war Sprachlehrer, und ich habe das Talent von ihm geerbt, mir in kurzer Zeit eine fremde Sprache anzueignen,« entgegnete Oskar.

Ein indischer Fakir fesselte seine Aufmerksamkeit. Er hielt die Hände zu Fäusten geballt, und man konnte sehen, wie die Fingernägel so durch die Hand gewachsen waren, daß sie auf der Rückseite derselben wieder hervorsahen. Jedem Besucher hielt er die Hände vors Gesicht und machte eine stumme, bittende Verbeugung. Gab man ihm ein Geldstück, so nahm er es mit den Lippen und ließ es geschickt in eine am Gürtel hängende Blechbüchse fallen.

Oskar erkannte sofort, daß der Mann einen dunkelbraunen Trikot trug, also mußten auch die durchgewachsenen Fingernägel Heuchelei sein. Sein Gesicht war dunkel gefärbt, hatte überhaupt gar keine Ähnlichkeit mit einer indischen Physiognomie; jedenfalls trug er auch eine Perücke.

»Wie lange hältst du schon die Hände geballt?« fragte ihn Reihenfels auf indisch.

Der Fakir schüttelte den Kopf; er verstand also die Frage nicht.

Oskar fragte englisch, aber der Mann schüttelte abermals den Kopf und deutete dabei mit der Faust auf den Mund.

»Sind Sie stumm?«

»Yes,« erklang es jetzt.

»Völlig stumm?« lachte Oskar.

»Ich spreche schon seit zehn Jahren kein Wort mehr.«

»Sie haben ein Gelübde abgelegt?«

»Ja, ich habe bei Buddha geschworen, nicht mehr zu sprechen.«

Reihenfels lachte über den sonderbaren Kauz.

»Und wie lange halten Sie schon die Fäuste so geballt?« examinierte Oskar weiter.

»Auch schon zehn Jahre.«

»Die Fingernägel sind wirklich durchs Fleisch gewachsen?«

»Natürlich! Sehen Sie das nicht?«

»Wie waren denn die Hände früher?«

»Da waren sie so.«

Der Fakir streckte alle zehn Finger von sich und zog ein überaus pfiffiges Gesicht. Jetzt sah man, daß die Nägel an der Rückseite nur aufgesetzt waren.

»Sie scheinen kein Engländer zu sein, ich denke eher ein Deutscher,« sagte dann Oskar.

»Gott sei Dank, daß ich endlich einmal einen Landsmann treffe,« rief der Fakir, ebenfalls auf deutsch, »mit dem ich mich unterhalten kann! Ja, ich bin ein Deutscher, direktemang aus Potsdam.«

»Wie kommen Sie denn hierher?«

»Ich ging von Muttern weg, von wegen meine Bildung zu bereichern. Ich möchte aber, ich säße noch hinterm warmen Ofen. Hier in London liegt das Gold auch nicht auf der Straße – ja, wenn ich ein Mädel wäre!«

»Werden Sie für die Rolle als Fakir gut bezahlt?«

»Futter und Stall bekomme ich, die Trikots und Farbe, mein Gesicht zu beschmieren, dazu, sonst weiter nichts. Das Geld muß ich mir erst zusammenfechten.«

»Das ist freilich nicht viel.«

»Haben Sie keine Stellung für mich?«

»Was sind Sie?«

»Strumpfwirker. Aber in London tragen sie nur Strümpfe für zehn Pfennig, und auf solche Dinger bin ich nicht eingeübt. Wenn man die anbläst, da ist ein Loch drin. Können Sie mich nicht sonstwo unterbringen? Vielleicht als Diener?«

»Ich habe keine Stellung zu vergeben. Aber kommen Sie trotzdem morgen früh einmal in das Hotel gegenüber dem britischen Museum. Es sollte mich freuen, wenn ich etwas für einen Landsmann tun kann.«

Vorübergehende Herren trennten die beiden. Oskar fand den Franzosen, als eben zahlreiche Glocken ertönten; plötzlich fiel eine schmetternde Blechmusik ein. Alles eilte einer mit Stühlen besetzten Tribüne zu, und dann schob sich der Vorhang vor der Bühne zurück.

»Zu spät!« sagte der Franzose. »Ich habe Sie vergebens gesucht, um Ihnen einen Stuhl zu versorgen. Nun ist alles besetzt.«

Oskar hörte das schon gar nicht mehr. Sein Auge hing entzückt an den Bildern, die sich auf der riesigen Bühne entrollten.

Es wurden der Einzug eines Maharadschas in der alten Großmogulstadt Delhi und die ihm zu Ehren gegebenen Festlichkeiten dargestellt. Gegen 5000 Mädchen, alle in farbenprächtige Gewänder gekleidet, welche ihre Reize zur vollen Geltung kommen ließen, standen in zwei Reihen neben einem Thronsessel, der von Würdenträgern umgeben war. Eine Unmenge von Vorreitern und Vorläufern eröffneten den Zug; Elefanten wurden über die Bühne geführt, Gitterwagen mit Tigern und Panthern, dazwischen tänzelten herrliche Rosse mit Reitern in glänzenden Kostümen.

Es war ein farbenreiches Bild und machte einen imposanten Eindruck. Alles schillerte und glänzte von Diamanten und Perlen – wenn auch nur die wenigsten echt waren – das Licht der Kronleuchter wurde in blendendem Glanze von den stählernen Panzern der indischen Krieger reflektiert.

In den Zwischenpausen tanzten Bajaderen in bezaubernden Reigen, Spanierinnen führten sinnberauschende Tänze auf, jedes Land repräsentierte sich mit seinem Tanz. Den meisten Beifall fanden die Solotänzerinnen in ihren phantastischen Kostümen.

Soeben hatte eine, ein üppiges, schön gewachsenes Weib, einen Solotanz beendet, empfing dankend die Beifallsrufe der Zuschauer und stellte sich nach einer Verbeugung gegen den Maharadscha wieder in die Reihe. So spärlich ihre Kleidung war, so verschwenderisch ging sie mit Schmuck um. Haar, Hals, Brust bis herab zu den leichten Ballettschuhen, alles glänzte von Juwelen.

»Flittergold,« murmelte Reihenfels.

»Da irren Sie!« lächelte der Franzose. »Diese Tänzerin trägt keinen falschen Stein an sich; denn sie ist die Geliebte des Herzogs von Cumberland.«

»Der arme Mann!«

»Sie bedauern ihn?«

»Ja, daß er sein Geld nicht besser anzuwenden versteht.«

»Geschmacksache! Ich möchte wohl solch ein Maharadscha sein, auf dessen Wink sich Hunderttausende beugen. Die Vorstellungen gefallen Ihnen nicht?«

»Doch, weil sie mir neu sind. Können Sie Mirzi sehen?«

»Ich glaube, dort links neben dem Throne – die Entfernung ist zu groß, und in diesen Kostümen ähnelt überhaupt ein Mädchen dem anderen zum Verwechseln. Nur die Solotänzerinnen heben sich hervor. Seien Sie indes ohne Sorge, Sie werden Mirzi an einem abgelegenen Ort sprechen.«

»Wie, Mister Reihenfels, auch Sie finde ich hier, in Bewunderung des schönen Geschlechts versunken?« wurde Oskar von einem Herrn, dessen flüchtige Bekanntschaft er einst in einem Cafe gemacht hatte, in spöttischem Tone angeredet.

Er errötete wie ein auf Abwegen ertappter Schulknabe; er hätte den Saal am liebsten sofort verlassen. Doch hatte er nun einmal A gesagt, so mußte er auch B sagen.

»Ich wollte nur ein Mädchen sprechen,« murmelte er wie entschuldigend.

»Dasselbe ist mein Fall« lachte der Bekannte. »Na, Mister Reihenfels, ich wünsche Ihnen viel Glück! Amüsieren Sie sich gut, und geraten Sie nicht zu sehr auf Abwege!«

Ärgerlich sah Oskar dem Davongehenden nach. Also in solchem Tone durfte man zu einem sprechen, den man hier traf.

Da fiel ihm plötzlich Bega ein.

Was würde diese wohl sagen, wenn sie ihn hier, an diesem Orte des Lasters, sähe? Doch er war ja in ganz reiner Absicht hergekommen, er selbst wollte ihr beim nächsten Zusammentreffen davon erzählen und jedem etwaigen Verdacht von vornherein die Spitze abbrechen.

Der Vorhang fiel vor einem lebenden Bild, gestellt von dem gesamten Personal. Sie beteten den mit Gold bedeckten Maharadscha an.

»Jetzt bleiben Sie hier eine Minute stehen.« flüsterte der Franzose Oskar zu. »Ich suche Mirzi auf und frage sie, wo wir sie sprechen können.«

Mit Verwunderung sah Oskar plötzlich die Promenadengänge mit denselben Gestalten bevölkert, die eben noch auf der Bühne getanzt hatten. In ihren leichten Kostümen mischten sich die Mädchen unter das Publikum, sie suchten befreundete Herren auf oder knüpften neue Bekanntschaften an und promenierten Arm in Arm mit ihnen auf und ab.

Nur wenige hatten ihre Kostüme mit Straßentoiletten vertauscht, weil ihre Kleidung in der Nähe geradezu anstößig gewesen wäre. Die Solotänzerinnen fehlten – sie gehörten nicht zur Klasse dieser Mädchen. Auf Sie warteten vor dem Portal die Equipagen ihrer Liebhaber.

Der Franzose ließ Oskar fast eine halbe Stunde allein, dann kam er mit gerötetem Gesicht zurück.

»Mirzi ist bereit, Ihnen Rede und Antwort zu stehen. Das Mädchen erwartet sie in dem kleinen Zimmer. Ich führe Sie hin!«

Sie stiegen eine Treppe hinauf und traten nach Passieren einiger Gemächer in einen kleinen Saal, zu dem sehr viele Türen führten.

»Dies ist das sogenannte kleine Zimmer,« erklärte Giraud.

»Wie? Hier soll ich sie sprechen?« fragte Oskar mißtrauisch.

Er täuschte sich nämlich nicht, wenn er glaubte, nach einem verbotenen Ort geführt worden zu sein.

Das Zimmer war nach orientalischem Geschmack eingerichtet, an den Wänden liefen mit Kissen belegte, breite Diwans hin, und auf diesen saßen etwa sechs Herren und ebensoviel Mädchen in sehr freien, stark dekolletierten Bühnentoiletten. Man plauderte und rauchte, auch die Mädchen, lachte laut und benahm sich sehr frei.

Giraud nickte einigen der Herren zu, es schienen Bekannte von ihm zu sein, und ein Mädchen warf ihn mit Apfelsinenschalen.

»Mirzi will wenigstens hierherkommen,« entgegnete Giraud auf Oskars Frage, »und Sie von hier abholen. Sie müssen wissen, daß der Saal unten jetzt geräumt wird. Die ständigen Besucher ziehen sich in abgelegene Gemächer zurück.«

»Ist es schon so spät?« rief Oskar erschrocken. »Wahrhaftig, schon zwölf Uhr! Wie die Zeit so schnell vergeht!«

»Setzen wir uns und warten wir auf Mirzi.«

Beide nahmen Platz. Ein Mädchen wollte aufstehen und zu ihnen kommen, doch ein leichtes Kopfschütteln des Franzosen, von Oskar ungesehen, genügte, es zurückzuhalten.

Dem jungen Deutschen wurde immer beklommener zumute. Hätte er geahnt, daß alles so kam, so wäre er dem Franzosen nicht gefolgt. Mit welcher Gesellschaft er sich hier zusammengefunden, merkte er immer deutlicher; je länger er hier weilte, desto mehr stieg ihm die Schamröte ins Gesicht.

Diese Herren gehörten ohne allen Zweifel zur sogenannten besseren Gesellschaft, aber welcher Sprache bedienten sie sich! Jedes Wort, das aus ihrem Munde kam, war von zynischer Gemeinheit, jeder Witz, über den sie maßlos lachten, eine freche Zote, und die Mädchen paßten zu ihnen.

Oskar hatte bisher nicht geglaubt, daß ein gebildeter Mensch so weit sinken könnte, daß er geistreich zu sein glaubte, während er sich in Schmutz und Kot herumwälzte.

Die Gruppen der Herren und Mädchen wechselten fortwährend. Aus den Türen kamen immer neue Paare, andere verschwanden.

»Ist dies denn in diesem Vergnügungsetablissement erlaubt?« fragte er den Franzosen.

»Wo kein Ankläger ist, ist auch kein Richter.«

»Aber die Sittenpolizei?«

»Die kommt nur, wenn sie gerufen wird. Und wer sollte dies tun? Aber selbst da kommt sie nur ungern, denn es handelt sich dann um die Verhaftung von angesehenen Persönlichkeiten. Lieber nehmen die Beamten einige Goldstücke und drücken beide Augen zu. Englische Polizei – bah!«

»Ich möchte gehen,« sagte Oskar dann, nach der Uhr sehend.

»Nur fünf Minuten noch, dann muß sie kommen.«

Giraud hatte die Worte noch nicht gesprochen, als ein Mädchen auf ihn zukam, ihn beiseite zog und leise mit ihm sprach. Dann kehrte er zu Oskar zurück.

»Mirzi erwartet Sie bereits.«

»War sie das?«

»Nein, diese brachte nur die Nachricht, daß Mirzi im Nebenzimmer ist. Kommen Sie!«

»Im Nebenzimmer?« fragte Oskar mißtrauisch.

»Sie kann Sie doch nicht hier sprechen!«

Oskar erhob sich und folgte dem Franzosen, der ihn in eins der Seitengemächer führte.

Eine Gasflamme unter rotem Licht verbreitete ein schwaches Licht und ließ die luxuriöse Einrichtung erkennen. Im Hintergrund befand sich eine Tür.

Mirzi war nicht hier.

»Warten Sie, das Mädchen muß bald kommen, »sagte Giraud. »Ich bleibe einstweilen im Saale.«

Oskar wollte den Franzosen zum Bleiben nötigen, doch schon eilte dieser hinaus.


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