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4. Neue Rätsel

Auf dem Wege zum Hotel Royal, wo selbst der Gaukler nebst zwei Dienern eine ganze Zimmerflucht bewohnte, erzählte Carter dem Detektiven noch einmal ganz ausführlich die Ereignisse des Abends.

Mister Wilkens hörte aufmerksam zu. »Wenn Timur diese Tat ausgeführt hat,« sagte er dann, »so ist es ganz unbegreiflich, daß er in seine Wohnung zurückkehrte. Jedenfalls haben wir es in ihm mit einem ganz geriebenen Gauner zu tun. Sie treten also in das Zimmer, in dem er sich befindet; schläft er, so wecken Sie ihn und schleudern ihm die Beschuldigung ins Gesicht. Ich begnüge mich vorläufig damit, den Eindruck Ihrer Worte zu beobachten.

Wahrhaftig, ein so merkwürdiger Fall ist mir noch nie vorgekommen.«

Nach kurzer Zeit hatten die Männer das Hotel erreicht; Carter bemerkte im Schatten der Häuser dunkle Gestalten – aufgestellte Posten. Der Detektiv zog die Hotelglocke, der Portier öffnete.

»Wohnt hier der Gaukler Mister Timur, der in der Alhambra Vorstellungen gibt?«

»Ja. Was wünschen Sie?«

»Ihn zu sprechen. Lassen Sie uns beide sofort nach seinem Zimmer führen.«

»Mister Timur ist erst seit kurzer Zeit aus einer privaten Vorstellung gekommen und will jetzt nicht gestört sein. Kommen Sie morgen am Tage wieder.«

Einige Worte des Detektivs genügten, den Portier seinen Entschluß ändern zu lassen. Ein herbeigerufener Kellner mußte die beiden Herren nach den Zimmern des Gauklers führen.

»Hier ist sein Schlafzimmer,« sagte der Kellner. »Es ist noch Licht darin. Wahrscheinlich arbeitet er noch.«

Auf Geheiß des Detektivs klopfte Carter an.

»Wer ist da?« fragte eine hohe quäkende Stimme.

Jetzt konnte Carter sich nicht mehr beherrschen, er klinkte, die Tür war offen, und schnell trat er ein. Doch er blieb bestürzt stehen.

Vor einem mit Papieren bedeckten Tisch saß ein in weite, indische Gewänder gehüllter Mann. Er war offenbar ein Indier, klein, mager und bartlos, aber sein Gesicht war ein anderes als das von Timur.

Carter überflog mit seinen Blicken das luxuriös ausgestattete Schlafzimmer, es war niemand weiter darin, und kurz entschlossen trat er auf den Indier zu.

Dieser hatte sich erhoben.

»Wer wagt es, in solcher Weise in mein Zimmer einzudringen?« rief er dem Eintretenden drohend entgegen und ergriff einen auf dem Tische liegenden Revolver.

»Wo ist Timur Dhar?« fragte Carter hastig welcher einen andern als den Gesuchten vor sich sah.

Als hätte der Schlag ihn getroffen, so brach der Indier plötzlich im Stuhle zusammen; seine Glieder zitterten wie Espenlaub, und die Carter anstarrenden Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen.

»Wo ist Timur Dhar?« wiederholte dieser.

»Ti–Timur – Dhar – Dhar!« stotterte der Indier unter hörbarem Zähneklappern. »Woher – kennen – Sie –« »Mensch, sprechen Sie!« rief Carter außer sich. »Wo ist er?«

»Halt,« sagte da der Detektiv und trat heran, den Inder scharf fixierend, »hier waltet ein Irrtum ob. Ich kenne diesen Herrn, es ist Mister Timur, welcher in der Alhambra spielt. Jedes Kind kennt ihn.«

Jetzt war es an Carter, vor Schrecken sprachlos zu werden. Er sah sich vor einer Reihe von furchtbaren Verwicklungen stehen.

Des Indiers Aussehen wurde immer entsetzlicher, die untere Kinnlade hing herab, und doch stammelte er immer wieder: »Timur – Dhar – Dhar, wo–woher – kennen Sie ihn?«

»Und doch kann er es sein!«, rief Carter. »Diese Gaukler verstehen es, ihre Gesichtszüge zu ändern!«

»Das werden wir gleich sehen!« entgegnete Wilkens. »Mister Timur, wo sind Sie heute abend gewesen?«

Der, Indier antwortete nicht, nur die vorigen Worte stammelte er. Der Kellner hatte draußen gelauscht; er trat jetzt herein und übernahm die Antwort.

»Mister Timur war heute abend zu einer privaten Vorstellung bei Lord Gray, Regents Park Nummer 9, eingeladen. Dort liegt noch das Schreiben. Er verließ das Hotel um acht Uhr und kam erst vor einer Stunde zurück.«

»Gut,« sagte der Detektiv, »ich werde mich sofort überzeugen. Suchen Sie den Mann mit Hilfe des Kellners zum Bewußtsein zu bringen, ich komme gleich wieder!«

Der Kellner rieb den Kopf des Indier mit kaltem Wasser, Carter half dabei nur mechanisch.

»Ist dies wirklich Timur?« fragte er.

»Gewiß ist es Mister Timur; er wohnt ja hier im Hotel!«

»Wo sind seine Diener?«

»Sie schlafen nebenan, es sind zwei Chinesenjungen!«

Als der Detektiv nach fünf Minuten wieder eintrat, hatte sich der Inder etwas erholt, aber noch immer saß er wie gebrochen im Lehnstuhl und stierte den Baronet mit gläsernen Augen an.

Wilkens schickte den Kellner hinaus und setzte sich dem Inder gegenüber.

»Mister Timur, sind Sie fähig, mich zu verstehen und mir zu antworten?«

Der Inder nickte.

»Wo sind Sie heute abend gewesen?«

»Bei Lord Gray,« antwortete er mit schwacher Stimme.

»Nur dort?«

»Ja.«

»Sir Carter, wie nannte sich der Gaukler, der heute abend bei Ihnen spielte?«

»Timur Dhar, der König der Gaukler!« war die Antwort.

»Timur Dhar, er ist es!« schrie der Inder mit gellender Stimme, sprang auf, warf sich auf den Fußboden, zerriß seine Kleider und raufte sich die Haare. Dabei sprach er bald Englisch, bald einen fremden Dialekt, nannte sich einen unglücklichen Menschen, einen Narren, einen Dummkopf und so weiter.

Die beiden Männer wußten nicht, was sie dazu sagen sollten. Schließlich, als Timur sich ausgetobt hatte, gelang es ihnen, ihn wieder zur Vernunft zu bringen.

»Sie nennen sich nur Timur?« setzte Wilkens das Verhör fort.

»Ja!«

»Warum erschrecken Sie so, wenn Sie von Timur Dhar sprechen hören? Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Polizist bin, daß Sie Ihre Aussagen vor Gericht zu wiederholen und daß Sie dieselben zu beschwören haben! Also sprechen Sie die Wahrheit! Warum zittern Sie bei der Nennung des Namens Timur Dhar?«

Der Gaukler blieb lange die Antwort schuldig.

»Weil ich ihn fürchte!« stöhnte er endlich.

»Warum fürchten Sie ihn?«

»Timur Dhar war in Indien mein Lehrmeister. Als ich nach Europa ging, legte ich mir in törichter Eitelkeit seinen Namen bei. Ich wußte, daß er sich rächen würde, wenn er diesen Betrug erführe, aber ich glaubte, in Europa wäre ich sicher vor ihm!«

»Das sind Sie auch. Wer ist dieser Timur Dhar?«.

»Er ist der König der Gaukler, ich dagegen bin nichts weiter, als ein einfacher Taschenspieler!«

Das war ein offenes Bekenntnis, aber rätselhaft.

»Wieso ist Timur Dhar mehr als Sie?«

»Ihm gehorchen die Geister des Wassers, des Feuers, der Erde und der Luft, denn er besitzt den Geisterring.«

Die beiden Männer sahen sich erstaunt an. Was sollte man davon denken? Sie selbst glaubten nicht an einen mit übernatürlicher Macht begabten Menschen, aber dieser Inder tat es, und daraus erwuchsen ihnen unübersteigbare Hindernisse. Ein vernünftiges Gespräch scheiterte an diesem Aberglauben.

»Jetzt, Sir Carter, erzählen Sie die Vorfälle in Ihrem Hause, vergessen Sie nichts dabei!«

sagte Wilkens.

Carter begann zu erzählen; aber schon nach den ersten paar Worten sprang der Inder auf und wollte wieder zu rasen beginnen. Doch der Detektiv drückte ihn in den Stuhl zurück und gebot ihm schroff Ruhe. Dies wirkte.

»Timur Dhar ist hier, hier in London?« stöhnte er. »Ich bin verloren, ich muß mich töten!«

Es gelang wieder, ihn zu beruhigen, und Carter erzählte. Teilnahmslos hörte der Inder zu; nur ab und zu lief ein Zittern durch seine Glieder. »Was haben Sie dazu zu sagen?« fragte am Schlusse Wilkens.

»Nichts, gar nichts weiter, als daß ich unschuldig bin!«

»Ich habe noch einige Fragen zu stellen!« nahm Carter wieder das Wort und zog einen Brief hervor. »Haben Sie, Mister Timur, gestern einen Brief von mir erhalten, durch den ich Sie zu heute abend in mein Haus einlud?«

»Nein!«

»Nicht?. Das ist ja gar nicht möglich! Er trug die Unterschrift Frank Carter und war an Sie hierher adressiert!«

»Ich habe ihn nicht erhalten!«

»Haben Sie mir diesen Brief geschrieben?«

Er reichte ihm denselben hin.

Mit sichtlicher Scheu las der Indier das Schreiben, Schrecken spiegelte sich in seinem Antlitz wider.

»Es ist meine Handschrift, aber ich habe ihn nicht geschrieben!« ächzte er. »Auch steht hier als Unterschrift Timur Dhar, während ich mich nur mit Timur unterzeichne. Sehen Sie alle meine Papiere nach!«

»Haben Sie auch keine Fünfzigpfundnote von. mir erhalten?«

»Nein!«

Ein Mann trat ein und überreichte dem Detektiven ein Schreiben.

»Mister Timur hat die Wahrheit gesprochen!« sagte dieser nach dem Lesen. »Lord Gray hat trotz der späten Nachtstunde die Güte gehabt. selbst zu bescheinigen, daß Mister Timur sich heute abend bei ihm produziert hat, und zwar ist die Zeit dieselbe, während der Timur Dhar bei Ihnen war. Mister Timurs Alibi ist erwiesen, meine Rolle als Polizeiperson ist daher hier ausgespielt.«

»Wie? Sie geben die Sache auf?« rief Carter halb verzweifelt.

»Durchaus nicht! Wir wollen uns jetzt jedoch nicht mit dem Lösen von Rätseln abgeben, sondern daran denken, wie wir Ihr Kind wiederbekommen, denn das ist doch die Hauptsache.

Mister Timur wird so freundlich sein, uns dabei mit seinem Rat zu unterstützen.«

Der Detektiv hatte den Indier unbemerkt, aber scharf beobachtet, doch diesem war nicht das geringste anzusehen, daß der Beweis seiner Unschuld ihn beruhige.

»Wie soll ich Ihnen denn helfen?« fragte er kläglich.

»Es gilt, Timur Dhar aufzuspüren. Es ist schwerlich anzunehmen, daß er mit seinem Raube aus London herauskann, denn alle Land- und Wasserwege sind besetzt, jede Kiste, jedes Faß, jeder Koffer, die die Stadt verlassen, wird visitiert.«

Der Indier stieß ein kurzes Lachen aus. »Wie können Sie Timur Dhar fangen! Er fliegt durch die Luft. Heute ist er hier, morgen in Indien, er ist überall, aber man sieht ihn nicht – er ist Luft!«

Auf diese Weise konnte man mit dem Indier nichts anfangen.

»Kennen Sie in Indien einen Mann namens Sirbhanga, einen Teehändler? Er war vor zwei Jahren hier in London, heiratete eine Engländerin namens Isabel Battinson und wollte diese Dame in seinen Harem nach Indien führen. Er war mohammedanischen Glaubens, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, klein, dick, häßlich und hinkte stark auf dem linken Fuße.«

»Ich kenne ihn nicht,« entgegnete der Indier kopfschüttelnd.

Carter staunte über diese Frage des Detektivs. Hier bekam er ein Beispiel dafür, wieviel sich die englische Polizei mit Familienverhältnissen beschäftigt. Allerdings war damals Sirbhanga als Spion verdächtig gewesen und nach ihm geforscht worden.

»Können Sie uns denn gar keinen Rat geben, wie wir uns dieses Kindesräubers bemächtigen können?«

»Suchen Sie eher den .Wind zu fangen, als Timur Dhar. Ich rate Ihnen, unterlassen Sie jede Verfolgung, sonst könnten Sie noch seine mächtige Hand zu fühlen bekommen.«

Geringschätzig lächelnd erhob sich der Detektiv, trostlos Frank Carter. Nach kurzer Entschuldigung gegen den Indier verließen sie das Hotel.

Auf der Straße blieb Wilkens stehen und atmete tief auf.

»Eine ungeheure Reihe von Rätseln sind zu lösen,« sagte er, »und ich will alle meine Kraft daransetzen. Verzagen Sie nicht, Sir Carter! Wenn wir nur erst eine Spur haben, dann ist schon viel erreicht. Ich bin zwar ein geschickter Detektiv, aber es gibt welche, die noch geschickter und erfahrener sind als ich. An diese wollen wir uns wenden, denn Selbstüberschätzung und Ehrsucht kenne ich nicht. Die Hauptsache ist, einen in Indien geborenen Mann zu finden, welcher Timur Dhar kennt, aber nicht an seine Allmacht glaubt, und ich denke, ich habe schon einen solchen.«

»Mein Kind! Verschaffen Sie mir nur mein Kind wieder!« bat der unglückliche Vater, in dessen Brust noch immer der erste Schmerz wühlte. »Verlangen Sie von mir jedes Opfer, ich will es bringen, wenn ich nur mein Kind wiederhabe!«

Mit tiefem Bedauern betrachtete der Detektiv den Mann an seiner Seite. Was hatte doch eine Stunde aus diesem gemacht! Vor einer Stunde noch ein heiterer Gesellschafter, ein glücklicher Familienvater, jetzt der Verzweiflung nahe.

»Verlassen Sie sich darauf, daß alles getan wird, den Kindesräuber zu fangen!« sagte er dann. »Die englische Polizei gebietet über mächtige Mittel, die nur selten versagen, und sie besitzt Diener, welche nicht so leicht zu überlisten sind. Nach dem, was wir schon erfahren haben, ist dieser Timur Dhar allerdings ein ganz geriebener Betrüger, doch mit Gottes Hilfe werden wir ihm sein Handwerk legen! Ich begebe mich jetzt zum Polizeidirektor, um ihm Bericht zu erstatten. Gehen Sie nach Hause und versuchen Sie zu schlafen, Sie bedürfen der Ruhe. Morgen bin ich beizeiten bei Ihnen, und wir sprechen weiter. Gute Nacht, Sir Carter, Gott sei mit Ihnen!«

Carter wurde zu Hause von Jeremy auf dem Korridor empfangen. Der treue Diener hielt ihm einen Brief entgegen, und er riß ihm denselben aus den Händen – er hatte die Handschrift Timurs erkannt. Der Brief lautete:

»Sir! – Seien Sie um das Leben Ihrer Tochter ohne Sorgen, sie befindet sich bereits in Indien. Die Gründe ihrer Entführung verschweige ich, denn Sie würden dieselben nicht verstehen oder daran zweifeln, ebenso wie an meiner übernatürlichen Kraft. Hundert Jahre nach der Schlacht bei Plassy werden Sie und Ihre Gemahlin Ihre Tochter wiedersehen; einstweilen nehmen Sie den indischen Knaben als Ersatz, er wird Ihre Gemahlin über den Verlust vollständig trösten.

Nennen Sie ihn, wie ich schon andeutete, erst Eugenie, dann Eugen, und lassen Sie ihm eine ebenso gute Erziehung angedeihen, wie Ihre Tochter sie erhält.

Wenn er siebzehn Jahre alt ist, wird er Ihnen seinen Namen selbst nennen. Ob Sie mich verfolgen wollen oder nicht, steht in Ihrem Belieben, doch ich versichere Ihnen, daß alle Ihre Bemühungen, mich einzufangen, erfolglos sein werden.

Vergessen Sie nicht: Hundert Jahre nach der Schlacht bei Plassy werden Sie Ihre Tochter wiedersehen.

Timur Dhar.«

Mit einem heiseren Lachen steckte Carter den Brief ein, jetzt begannen sich fast seine Sinne zu verwirren. Er hielt das Schreiben für die Ausgeburt eines halb wahnsinnigen Gehirns, und doch war er andererseits nicht abgeneigt, an seinen Inhalt zu glauben.

»Wer brachte den Brief?« fragte er Jeremy.

»Herr Kapitän, das ist ein neues Rätsel!« entgegnete dieser niedergeschlagen. »Kaum war der Arzt gegangen, als ich das Schreiben plötzlich dort auf dem Tische fand.«

»Es ist niemand mehr zur Haustür hereingekommen?«

»Nein, die Türen waren verschlossen.«

»Dann steht jemand von meiner Dienerschaft mit diesem Schurken in Verbindung, murmelte Carter und begab sich in das Zimmer seiner Gemahlin.

Diese schlief sanft, eine Krankenwärterin wachte an ihrem Bett.

»Lady Carter befindet sich wohl,« empfing letztere den Eintretenden. »Sie scheint vollkommen heiter und gesund zu sein, sie spricht vernünftig, nur der letzten Vorfälle erinnert Sie sich gar nicht mehr.«

»Und das Kind?« fragte Carter leise.

»Wird von ihr als das ihrige betrachtete Sir, seien Sie darüber glücklich.«

Mit einem schweren Seufzer beugte Carter sich über sein Weib, das im Schlaf heiter lächelte, und küßte es. Er konnte diese gütige Fügung nicht anerkennen, er war gegen das grausame Schicksal mit unsäglicher Bitterkeit erfüllt.

»Sie wissen, ich bin Detektivin,« flüsterte ihm die noch jugendliche Krankenwärterin plötzlich zu. »Ich habe Ihre indische Dienerin stets in meiner Nähe gehabt und Sie beobachtet. Mit meiner Kunst ist es jedoch zu Ende, das Erscheinen des Briefes ist mir ein unlösbares Rätsel.«

Carter suchte sein Schlafzimmer auf, ohne das braune Kind noch einmal gesehen zu haben.

Er fürchtete seinen Anblick förmlich. So erregt sein Gemüt auch war, seine abgespannte Natur forderte doch ungestüm ihre Rechte, und er fand in einigen Stunden Schlaf ein wohltuendes Vergessen seines Schmerzes.

Am nächsten Morgen, sehr frühzeitig, verlangte der Detektiv Wilkens den Hausherrn zu sprechen.

»Ich habe eine schlaflose Nacht gehabt,« begann er, »es haben sich weitere wichtige Vorfälle ereignet. Timur hat diese Nacht, kurz nach unserer Entfernung einen Fluchtversuch gemacht.«

»Dann ist er auch schuldig!« fuhr Carter auf. »Er ist doch nicht entkommen?«

»Nein, er wurde dabei gefaßt, und ich habe ihn in Haft genommen. Auf seinem Schreibtisch ist ein an Sie adressierter Brief gefunden worden; die Verhältnisse zwangen mich, ihn zu erbrechen. Hier ist er.«

In dem Schreiben versicherte der Gaukler, er sei an dem Kindesraub vollkommen unschuldig, er müsse aber fliehen, um der Rache Timur Dhars zu entgehen. Unterzeichnet war das Schreiben nicht mehr mit Timur, sondern mit Sinkolin. Eine Untersuchung seiner Briefschaften hatte ergeben, daß dies der wahre Name des Gauklers war, Timur hatte er sich erst nach Eintritt seiner europäischen Gastreise genannt.

»Und er ist doch schuldig!« rief Carter.

»Nein, er hat seine Unschuld noch deutlicher bewiesen. Bei seiner Verhaftung benahm sich Timur oder Sinkolin wieder schrecklich, er raufte sich das Haar, verfluchte sich und sprach von Timur Dhar wie von seinem bösen Dämon. Nachdem er in einer Zelle untergebracht worden war, hatte ich eine Unterredung mit dem Polizeidirektor. Timur sollte sofort zum Verhör vorgeführt werden, aber als ich zu ihm zurückkehrte, fand ich ihn leblos am Boden liegen – er hatte seine Zunge verschluckt.«

»Tot?« rief Carter erschrocken.

Die indischen Fakire sind religiöse Schwärmer, die Priester und die Gaukler verstehen es, durch ein seltsames Zusammenrollen der Zunge sich selbst die Luft abzuschneiden, sie können sie sogar hinunterschlucken und sich so töten. Merkwürdigerweise kommt das Verschlucken der Zunge auch bei einigen Negerstämmen vor, besonders gefesselte Sklaven gebrauchen es als Mittel, durch Selbstmord dem Sklavenleben zu entgehen.

»Er war tot, die ärztliche Untersuchung ergab es,« fuhr der Detektiv fort. »Und an die Kalkwand hatte er mit einem Nagel die Worte eingekratzt: Ich bin an dem Kindesraub unschuldig, ich töte mich, weil sonst Timur Dhar mich töten würde.«

»So glauben Sie jetzt an seine völlige Unschuld?«

»Unbedingt!«

»Und was nun?«

Der Detektiv blieb vorläufig die Antwort schuldig.

»Ich glaube natürlich nicht an eine Allmacht des Gauklers,« sagte er nach langem Überlegen, »aber fast will es mir scheinen, als ob es Timur Dhar doch gelungen sei, zu entfliehen. Derselben Ansicht ist der Polizeidirektor.«

Carter überreichte Wilkens den Brief von gestern abend. Mit unerschütterlicher Ruhe las dieser ihn, man wußte nicht, was in ihm vorging.

»Dies bestätigt meine Ansicht, daß Timur Dhar sich nach Indien begibt.«

»Wie? Merken Sie nicht, daß dies nur eine Falle ist, um uns auf eine falsche Spur zu lenken? Timur Dhar befindet sich noch hier; wir aber sollen glauben, er sei schon in Indien, und ihn dort suchen.«

»Daß er schon dort ist, ist unmöglich, oder wir, das heißt, der Polizeidirektor, ich und alle meine Kollegen, welche ich darüber gesprochen habe, sind der unumstößlichen Überzeugung, daß Timur Dhar sich nach Indien begibt, weil nämlich Isabel, die Schwester Ihrer Gemahlin, auf alle Falle die Hand bei dem Kindesraube im Spiele hat. Dieser Brief befestigt noch mehr meine Ansicht. Um Ihnen die Erklärung dafür zu geben, müßte ich eine lange Reihe von Kombinationen anführen. Wir sind eben in derartigen Sachen erfahren, und ich bitte Sie, sich unserer Ansicht anzuschließen. In Indien müssen die hauptsächlichsten Nachforschungen nach ihrer Tochter gehalten werden; jetzt gilt es, Sirbhanga und Isabel nachzuspüren; deshalb kann indes auch in der ganzen Welt gesucht werden.«

»So gehe ich selbst nach Indien,« rief Carter, von der Wahrheit der Worte des Detektivs überzeugt.

»Ja, das wird das beste sein. Der Polizeidirektor wird Ihnen einen Mann zur Verfügung stellen, dessen Rat Ihnen sehr wertvoll sein wird. Ihre Vaterliebe soll die Triebfeder sein, durch welche die Tatkraft und der Scharfsinn dieses Mannes, eines äußerst schlauen Burschen, aufs äußerste angespannt werden. Sind Sie bereit, mit mir zum Polizeidirektor zu fahren?«

Nach einer halben Stunde standen beide vor dem alten, grauhaarigen Mann, nach dessen Winken die gewaltige Maschinerie der Londoner Polizei arbeitete. So wichtig diese Sache auch für Carter, eine so angesehene Person. Er auch war, der Polizeidirektor gewährte ihm nur zehn Minuten, denn draußen harrten schon unzählige Menschen, welche ihn sprechen wollten.

Der Beamte empfing zuerst den Brief von gestern abend.

»In der Schlacht bei Plassy wurden die Indier von den Engländern geschlagen,« sagte er, »Indien kam unter englische Hoheit. Seitdem sind zweiundachtzig Jahre vergangen. Also sollten Sie Ihre Tochter in achtzehn Jahren wiedersehen. Was mit der Selbstnennung des indischen Knaben nach siebzehn Jahren gemeint, ist mir unerklärlich. Sir Carter, aus Mister Wilkens Munde haben Sie meine Meinung gehört, und daß Sie selbst nach Indien gehen wollen, heiße ich gut. Sie bekommen als Begleiter einen chinesischen Jungen mit, in Indien unter Gauklern aufgewachsen, listig, mutig und treu.«

»Einen Jungen?« fragte Carter verwundert. »Er ist sechzehn Jahre alt und vor zwei Jahren nach London gekommen, wo man ihn zum Detektiven ausbildete. Er eignet sich sehr gut dazu, besonders weil jeder Chinese dem andern ungemein ähnlich sieht und diese Zopfträger in London keine auffällige Erscheinung sind.«

»Nur wir Europäer können die Chinesen nicht voneinander unterscheiden, wohl aber die Bewohner jener Länder.«

»Trotzdem eignet er sich wie kein zweiter für unseren Zweck. Besprechen Sie sich mit Kiong Jang im Beisein Mister Wilkens, daß dieser mir Bericht erstatten kann. Sobald Sie Ihre Vorbereitungen getroffen haben, bitte ich um Ihren Besuch. Bis dahin werde ich Ihnen Vollmachten für die englische Polizei in Indien, Schutzbriefe und so weiter, ausstellen lassen.«

Sir Carter mußte sich verabschieden, auch den Chinesen konnte er heute nicht sprechen.

Wilkens tröstete ihn deshalb. Der Polizeidirektor konnte sich unmöglich mit seiner Sache länger befassen, die Einzelheiten mußten dem Personal überlassen bleiben, und der Detektiv versicherte nochmals, daß nichts unversucht bleiben würde, das geraubte Kind wieder zubekommen.

Carter wurde in seinem Hause von einem Herrn erwartet, der sich ihm als königlicher Kurier legitimierte und ihm den Befehl brachte, sich sofort dem Minister des Auswärtigen vorzustellen.

Mit Bestürzung las Carter diese Aufforderung.

»Haben Sie keine Ahnung, was ich dort soll?«

»Doch! Ich würde sonst natürlich nicht gesprochen haben, da ich aber von Ihrem Unglücke gehört habe und Sie nicht in erneuter Unruhe verlassen möchte, will ich mein Schweigen brechen. Sie sind auserwählt, mit geheimen Depeschen nach Indien zu gehen.«

Carter war angenehm überrascht, diese Mission begünstigte seine Unternehmung. Hätte er geahnt, daß jetzt erst sein Unglück besiegelt war!


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