Ernst Kossak
Schweizerfahrten
Ernst Kossak

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16.
Sonnenaufgang.

Die kurze Sommernacht verfloß sehr angenehm unter Gesängen Betrunkener im Mondschein, Brüllen von Kühen, Wiehern von Pferden und Trampeln im Hause. Ich schlief eben unendlich sanft ein, als ich durch einen heftigen Schlag 107 gegen die Thür geweckt wurde. Diese Faustschläge wiederholten sich in allen Stockwerken, und sofort erhob sich abermals der eben etwas beschwichtigte Tumult. Das ganze Haus wurde durch diesen vom Hausknecht hervorgebrachten Wirbel für den bevorstehenden Sonnenaufgang alarmirt. Geschrei nach Stiefeln, über Nacht gewaschenen Hemden, heißem Kaffee und gesattelten Pferden erschallte von allen Seiten, und ich beschleunigte meine Toilette, um nur aus dieser Arche, in welche nicht alle noch auf Erden vorhandenen Menschen, aber wol alle nur möglichen Spectakel gesperrt waren, befreit zu werden. Draußen war es noch ganz dunkel. Die Luft war klar, unbewegt und warm, wie ein italienischer Abend; der Mond neigte sich abwärts und schien sich vor den drohenden Bewegungen unserer Gesellschaft hinter den berner Schneebergen ängstlich verkriechen zu wollen. Aus allen Häuserwinkeln, Kuh- und Pferdeställen krabbelten jetzt verdrießlich Menschenhaufen hervor und zogen unter allerlei schnöden Bemerkungen den letzten Gipfel des Berges hinan. Ich ritt mitten unter ihnen auf dem unglücklichen Rozinante und genoß sämmtliche Vorbereitungen zu der poetischen Situation eines Sonnenaufgangs.

»Gib doch einmal der Kuh einen Rippenstoß mit deinem Alpstock!« sagte ein großer, höchst bäuerisch aussehender Mensch zu einem Bengel von kleinerm Format, und alsbald stieß der Bube einem am Abhange liegenden armen Thiere die Spitze so heftig in die Weichen, daß es erschrocken aus dem Schlafe auffuhr und beinahe ein paar Damen überrannte.

»Ich gäbe den ganzen Sonnenaufgang für eine Prise Taback!« seufzte der wiener Professor, und erhielt von einem meiner liebenswürdigen berliner Engroisten die gewünschten Atome Niesestoff, ohne daß dieser zwei Antheile am Sonnenaufgange beanspruchte.

108 »Der Deibel soll mir holen, wenn mir ein Mensch noch 'n mal um diese Zeit aus 'n Bett kriegt, Justeken!« stöhnte ein dicker Herr, dessen Art die Mütze mit einem Shawl unter dem Kinn festzubinden an den eleganten Geschmack des Publicums der »harmlosen Mühle« neben der Anhaltischen Eisenbahn erinnerte.

Noch vieles Geistreiche in deutschen Dialekten hörte ich und schriebe es gern nieder, wenn ich es verstanden hätte; allein einzelne Worte abgerechnet, bin ich über den Sinn der Reden noch heute ebenso im Unklaren als über die Abstammung der sie haltenden Reisenden. Man muß auf den Rigi steigen, um die richtige Vorstellung von der Größe des deutschen Vaterlandes zu erhalten. Es braucht wirklich nicht größer zu sein!

Unsere Gesellschaft von Pilgern bedurfte etwa einer halben Stunde, um den Rigikulm zu erreichen, wo wir bereits die ganze Besatzung im Freien auf den Beinen fanden. Die anwesende Menschenmenge vermochte wirklich zu imponiren. Ich schätzte sie etwa auf die Stärke eines preußischen Bataillons in Kriegsstärke, doch mögen eher einige Personen mehr denn weniger gewesen sein. Mit gen Osten gewandten Gesichtern saß die Versammlung auf der hölzernen Warte, auf Felskanten und einem großen Balkenhaufen, oder stand und wandelte umher. Endlich zeigte sich im Osten ein röthlicher Schimmer, ein Bursche tutete abscheulich auf einem Alphorn, und nun begannen der Reihe nach alle die elenden Witze und Bemerkungen, welche man an jedem Sonntage in Reiterbuden oder kleinen Theatern von den lieben Leuten auf der Galerie hören kann. Der Mensch bleibt in allen Landstrichen derselbe, ob man ihn am Meeresstrande oder hoch oben in der reinern Atmosphäre der Bergluft belauscht. Zum Glück vernahm der goldene Stern, an dem unser Planet, aller 109 Creaturen Leben und des armen Sterblichen gute und schöne Gedanken hängen, nicht die grenzenlosen Trivialitäten der flachen Buben und schnatternden Mägdlein; er ging aus und warf schweigend sein klares Auge auf die unermeßliche Landschaft, in welcher der Rigi so glücklich gelegen ist. Der Sonnenaufgang war nach den Behauptungen jener anwesenden Naturkritiker, die schon öfter den Berg bestiegen hatten, so vollendet wie nur möglich gewesen, nichtsdestoweniger hatte ich mir von dem Lichteffect, überhaupt von dem Charakter der ganzen Landschaft eine weit großartigere, mit viel lebhaftern Farben geschmückte Vorstellung gemacht. Fast muß ich fürchten die zahllosen Rigienthusiasten zu beleidigen, wenn ich meine persönliche Enttäuschung hier durch nähere Angabe der Motive begründe, und ich bitte deshalb, die folgenden Zeilen nur als die Aufzeichnungen eines meinetwegen grillenhaften und eigensinnigen Menschen zu halten.

Allerdings ist die Rundschau vom Rigi so weit umfassend, als es der Besitzer des besten Fernrohrs nur wünschen kann; allerdings stellen sich dem Auge so wenig Hindernisse als möglich entgegen; allein es fehlen dieser Fernsicht alle sanftern malerischen Vordergründe und Uebergänge, welche das Gemüth bei längerer Betrachtung erst harmonisch zu stimmen vermögen. Von den an den Fuß des Rigi grenzenden Landschaften treten eigentlich nur die nördlichen Seestrecken mit ihren grünen Ufern anmuthig hervor, allein die weite Entfernung stumpft auch ihre Färbung ab und verleiht ihnen, noch mehr aber dem weiten und unübersehbaren Gebiete der nördlichen Schweiz, etwas trocken Landkartenmäßiges. Man hält das Ganze unwillkürlich für einen Reliefplan nach dem größten Maßstabe. Einen trotz der beträchtlichen Höhenunterschiede ähnlichen Charakter trägt die Südseite der Rigiaussicht, deren Gipfel sie auch noch östlich und westlich umklammern. Wenn das 110 neugierige Auge den sich massenhaft vorlegenden sanft abschüssigen Rücken des Rigi durchmessen hat, stößt es auf die gewaltige Hecke aller nur irgend erheblichen Berge der Alpenlinien. Wen es erfreut, Tabellen durchzunehmen, der kann mehre Tage sehr angenehm mit dem Aufsuchen aller bemerkenswerthen Alpenhöhen zubringen, im Ganzen aber sind die Bergriesen so entfernt und dadurch ihrer charakteristischen individuellen Bildungen beraubt, so gleichförmig in Ansehen und Farbe, ja nach einer bekannten optischen Täuschung so klein, daß ich beim Ueberfliegen des Felsenpanoramas im Stillen an einen kolossalen, durch langen Gebrauch etwas beschädigten Kamm denken mußte. Das gesammte Berner Oberland gleicht einem beschneiten großen Pilz, und nur die nähergelegenen Felsbildungen, besonders der Pilatus bei Luzern, zeichnen sich durch mehre pittoreske Formationen aus. Jeder Berg gewinnt aber nur von seinem eigenen Fuß aus betrachtet ein poetisches Ansehen. Während ich die farblose und todte Monotonie der ausgedehnten Fernsicht sorgfältig im vollen warmen Sonnenschein betrachtete und die durch Gasthofsbesitzer mit großer Liebe verbreitete Ueberschätzung reichlich erwog, bildeten sich auf den Seen in der halben Höhe des Berges einige weiße Wolken, die unter uns in der Luft schwimmend, und zum Theil die Städte und Wälder, die Wasser und Schiffe der Tiefe verdeckend, wunderbare Wirkungen hervorbrachten. Sie verursachten mir die meiste Freude, und indem ich, nach einer guten Stunde Aussichtsarbeit in Gemeinschaft mit tausend andern Landschaftssträflingen, an der abschüssigen nördlichen Tiefe langsam bergabritt, kam es mir beim Anblick dieser zauberischen Nebelvögel und Wolkenschmetterlinge vor, als ob von allen einfachen und starren Dingen der mit dem Maßstab und dem Denken zu erforschenden weiten Welt den unglücklichen Menschen nichts mehr in der Tiefe seiner Seele 111 entzückt als die über dem Abgrunde seines Wesens schwebenden, von Stunde und Stimmung trügerisch beleuchteten geistigen Dunststreifen: die Illusionen, die räthselhafte Wiege unserer Thränen und unsers Lächelns, die süße Nahrung der Träume und der morsche Stab des wachen Lebens!

Der Troß meiner Gefährten von Rigistaffel folgte mir aber zu rasch auf dem Fuße, und war obenein zu kaffeewüthend gestimmt, um melancholischen Gleichnissen länger nachzuhängen. Unser Geschwader warf sich mit Macht in den Speisesaal, der jetzt in einen großen Frühstückssalon verwandelt war, und statt mit Flaschen voll sauren Weines, Kartoffeln in der Schale und Haselnüssen, mit großen Kaffeekannen, Milchtöpfen, Honigschalen, Butter, Zucker und nüchternem alten Brote bedeckt war. Das Frühstück besaß, wenn ich mich recht erinnere, eben keinen gemüthlichen Charakter, es hatte etwas von dem übereilten Déjeûner einer Truppe von Belagerern einer Stadt, die noch die Lasten einer großen Plünderung vor sich haben und deshalb rasch die aufgefundenen Bissen hinunterschlingen. Den sich seinen abgeschabten Rücken an der Thür reibenden Kellner erfreute ungemein der hastige Appetit seiner Gastfreunde. Er fand über dieser angenehmen Empfindung selbst nicht soviel Zeit, die Reisenden zu bedienen, sondern lachte von Herzen und schrie nur, wenn in den verschiedenen Zonen der ungeheuern Tafeln ein Mangel an Frühstückslebensmitteln eintrat, in die Küche hinaus: Kaffee! Brot! Milch! worauf starkknochige Schweizernymphen das Verlangte herbeibrachten. Am Ende stand der Bursche nur an der Thür, um das Entwischen irgendeines leichtfertigen Gastes zu verhindern, denn der mannhafte Gastgeber saß einige Schritte von seinem Posten in einem kleinen Gemach am Pulte, schrieb Rechnungen und händigte sie jedem Reisenden aus, sobald er die Nummer seines Zimmers genannt hatte.

112 Als ich nach beseitigtem Kaffee mich ihm vorstellte, erhielt ich folgendes wortgetreu abgedruckte Document über meinen nächtlichen Aufenthalt:

Hôtel et Pension G. Z. Schreiber. Propriétaire. Chambre 15. Mois Augst. Jour. 16. 17. 1 Hemt' geleint 50 Cent. 1 Soupers 2 Fr. 50  Cent. ½ Boutel Bojiles 1 Fr. 50 Cent. Lugement 1 Fr. 50 Cent. Früstück 1 Fr. 20 Cent. Serwiß 50 Cent. – Francs 7, 70 Cent.

Das »geleinte Hemt« war eine reine Improvisation des Hôtel. Es war vermuthlich von der Rechnung eines Fußwanderers, der über Nacht hatte waschen lassen, auf mein Conto gerathen, wollte aber nicht von demselben weichen. Sonst bemerke ich nur noch für neugierige Sprachforscher, daß »Bojiles« ein poetischer Titel für den auf der Weinkarte stehenden »Beaujolais« war. Aus den Klagen hartnäckigerer Reisenden entnahm ich zugleich, daß sich fast auf jeder Rechnung irgendeine Phantasieausgeburt von angeblich geleisteten Naturallieferungen befand. Der schülerhafte Wirth mochte auf diese Weise wol Einiges als Ueberschuß profitiren wollen, da er sich fürchtete, die Preise für seine schlechten Waaren noch mehr zu erhöhen. Nachdem diese zahlreichen, aber unbedeutenden Zwiste um einen halben bis 1½ Francs geschlichtet waren, ging es in hellen Haufen wieder denselben Weg bergab.

Englische Gentlemen mit ihren Familien, deutsche Professoren und Studenten, schweizerische Spießbürger mit ihren großfüßigen Töchtern, französische Schwätzer und italienische Sänger hüpften, gingen oder hinkten den Berg hinab und wurden am Kaltbade von der dort befindlichen Wasch- und Badegenossenschaft empfangen. Leider sah ich mich vergeblich nach dem sich zu Nacht rasirenden Herrn um, wahrscheinlich thronte er jetzt, nach seiner melancholischen Gemüthsverfassung 113 zu schließen, in einem Sitzbade von 4°Réaumur und philosophirte über die Annehmlichkeiten eines schweizerischen einsam gelegenen Badeorts. Weiter unten kamen uns kräftige Männer mit Körben auf dem Rücken, in welchen sich die Fourrage für den begonnenen Tag befand, entgegen, und ihre starke Reserve bildeten natürlich mehre Bursche mit großen Kartoffelsäcken. Es war eine Wonne, dieses blühende Berggeschäft zu beobachten, nur verbitterte mir Rozinante häufig diesen Genuß. Trotzdem der weise Greis aus Wäggis ihn vorsichtig führte, glitt er so oft über glatten Felsplatten aus, oder stolperte über hervorstehenden Steinen, daß mir zuweilen angst und bange wurde. Endlich unterhalb der Kapelle kam mir mein liebenswürdiger Doctor in Begleitung des Vaters meines Führers entgegen. Ich war höchst gespannt, dieses alte Möbel kennenzulernen, und erwartete eine neuere Auflage des edeln Attinghausen zu finden, sah aber nur einen ziemlich stupiden Graukopf, den man für den ältern Bruder meines Führers halten konnte, und der mit einem von langer Uebung herrührenden Anstande einen Franc als Trinkgeld für die Mühe der Bergbesteigung entgegennahm. Ein wenig weiter abwärts weigerte sich Rozinante standhaft, mich fernerhin zu tragen, und aus Achtung vor dem untrüglichen Instinct der Thiere stieg ich ab und hinkte geduldig in das freundliche Doctorhaus, wo mich die blühenden Oleandersträuche, die prachtvollen Hortensien und das erfrischende grüne Seewasser wie einen alten Freund begrüßten. 114


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