Ernst Kossak
Schweizerfahrten
Ernst Kossak

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5.
Thun.

Es war um die Stunde der höchsten Blüte des Markttags Sonnabend, als wir am andern Morgen mit zwei großen Postwagen voller Touristen in der Stadt Thun anlangten. Der Ort wimmelte von Soldaten der Republik, an denen das Herz eines monarchischen Militärs nur wenig Wohlgefallen gefunden hätte. Die wohlgenährten starkknochigen Leute hingen bequem in ihren Uniformen, und die blanken Knöpfe, die im europäischen Militärwesen eine so hervorragende Rolle spielen, schienen, wie aus den Röcken der schwäbischen Bauern, nur ihres glänzenden Selbst wegen da zu sein. Das Kriegerthum dieser Soldaten schmeckte ein wenig nach dem misvergnügten Dilettantismus der Bürgerwehr, und wol keiner der Tapfern auf Wache cultivirte so gern den Schießprügel als den Hirtenstab, den Zaum des Saumthieres, oder das Gepäck des ihm vertrauenden Reisenden. Als wir durch die Straßen voller brauner Holzhäuser, mit reizenden Gärtchen davor, auf den Marktplatz kamen, sahen wir uns von einer solchen Menge Käse umfangen, wie man sie sonst nur in den großen See- und Handelsstädten in fruchtbaren Niederungen erblickt. Die vorliegenden Schweizerkäse gehörten jedoch einem besondern Geschlecht von Giganten an, das erst geviertheilt werden mußte, ehe es sich in ein marktübliches Format schickte. Fast ebenso reich wie an Käse war der kleine köstliche Ort an einer ganz eigenthümlichen Sorte von Gebirgsstraßenjungen, wenn ich mir diesen Ausdruck erlauben darf. Sie umspielten uns in wahren Mückenschwärmen, erboten sich Führerdienste zu leisten, wo der Weg nach dem Dampfboot offen vor aller Augen lag, das Gepäck zu tragen, dessen Beförderung der 30 Post oblag; endlich bettelten sie so herzinnig und pechartig wie nur die Unterthanen eines kleinen italienischen Fürsten.

Ueber alle diese Miniaturen des schweizerischen Alltagslebens siegte der Anblick des Thunersees mit seiner erhabenen Umgebung. Das ewige Schneereich des Berner Oberlandes schüttet den Ueberfluß seiner Wasser in das Becken des Sees aus und die Aar bringt sie als Mitgift dem Rhein zu. Hier wo der Fuß des Reisenden vor der ersten Stufe des Hochgebirgs steht, entfaltet sich die ganze Harmonie einer schweizer Landschaft. Unser Dampfschifflein setzte seine Räder zur rechten Stunde in Bewegung. Die Wolkentrümmer einer wilden dunkeln Regennacht flohen vor dem frischen Nordwinde, der unsere Fahrt fröhlich förderte. Rollende Nebelballen, gemischt mit gräulichen Regenschauern, eilten in den hohen Versteck der Berge, und ein ragender Gipfel nach dem andern, umkränzt von saftiggrünen Alpenwiesen, tauchte aus der Verwirrung auf. An zackige Felsvorsprünge, an schroffe Nadeln suchte sich das geschlagene Unwetter zu klammern, aber der Wind zerriß seine flüchtigen Banner in Fetzen und unaufhaltsam drang unser kleiner Kaper hinterdrein. Die ganze Reisegesellschaft schwelgte, wie eine Heerde Füllen, in diesem Schauspiel, in dem mit aromatischem Tannenduft und Heugeruch gewürzten Lufthauch; nur ein englisches Ehepaar, er ganz schwarzer Anzug mit Gummitunke, sie ganz gelber flatternder Bast, nahm an dem Natur- und Menschenjubel keinen Antheil. Er glotzte stumpfsinnig in den Kesselraum oder las schläfrig im rotheingebundenen Murray, wie Tausende seiner reisenden Landsleute, und doch lebt in keiner andern Nation eine ähnliche Empfänglichkeit für die unartikulirten Geheimnisse der Natur, und Uebersetzungen der Berg- und Meeresdichtungen des Weltalls, wie Byron und Shelley sie geschrieben, kann kein anderes Volk aufweisen. Den 31 herrlichsten Gegensatz zu dem Stockfischpaar bildete eine kleine Schar von berner Pharmaceuten. Sie sahen aus wie die jüngern Söhne eines Hünengeschlechts. In Drillichkitteln, den Regenmantel von Gummizeug über den Arm gerollt, den niedrigen Hut unter dem Kinn fest zugebunden, die Füße mit schweren Nagelschuhen, die Fäuste mit hohen Alpstöcken bewehrt, rückten sie zu einer Gebirgspartie aus. Am Sonntagabend mußte Jeder wieder in seinem Geschäfte sein, und dazu hatten sie nicht weniger vor, als das Faulhorn vom Gießbach aus zu erklimmen, auf einem Pfade, den selbst alte Gemsen für keine leichte Promenade halten sollen. Ich traf die Schar wirklich am Sonntagnachmittag im Lauterbrunner Thal; das rüstige Volk sprang auf einem Richtweg längs der tobenden Lütschine über Felsblöcke und Baumstämme, und lachte heiter grüßend über den armen Wurm aus der Fläche, den ein geduldiger Brauner langsam im klappernden Wäglein den steilen Berg hinanschleppte.

Die Schiffsglocke erschallte, der Dampfer machte eine Wendung und legte bei Neuhaus an, dem Hafen von Interlaken. Am Ufer stand schon außer einem Haufen von Omnibus, Fiakern und Karren, der Phalanx der Pensionäre von Unterseen und Interlaken, geschlossen wie die Lästerallee zu Helgoland. Den Toiletten nach konnte man sich in das Bois de Boulogne bei Paris, oder die Cascinen bei Florenz versetzt glauben, nur blickte die große Natur etwas ernsthafter auf die gelangweilten und kranken Menschlein drein. Jetzt war Malwine in ihrem Esse. Mit der Lorgnette auf der Nase musterte sie die Gruppen und stieß jedesmal einen anmuthigen Freudenruf aus, wenn sie in dieser Wildniß von Felsen, Wellen, Bäumen und Fremdlingen ein unverkennbares berliner Antlitz entdeckte. Das Schicksal bescherte ihr dieses Nationalvergnügen nicht spärlich, da wol die kleinere Hälfte 32 der Wartenden aus der großen Hauptstadt einer Provinz stammte, die bei Freienwalde auch eine »Schweiz« besitzt. Nachdem diesmal Oskar den täglichen Kampf mit dem Gepäck ausgefochten hatte, rollten wir im Postomnibus auf einer unvergleichlichen Chaussee nach Interlaken. Für mich war hinlänglich gesorgt, ein liebenswürdiger Freund theilte sofort sein Zimmer mit mir; das arme Ehepaar mußte noch eine lange Kreuz- und Querfahrt aushalten, ehe es ihm gelang, in dem überfüllten Orte ein leidliches Unterkommen zu finden.

Was Pensionen für Kinder sind, wissen alle Aeltern, die sich ihrer Kleinen, ganz oder halb, wie der Kunstausdruck besagt, entäußert haben; um die Pensionen für Erwachsene kennenzulernen, kann man sich an keinen bessern Ort als in das über alle Begriffe herrliche Schweizerthal zwischen dem Thuner und Brienzersee begeben. Wer durch die Leiden und Schwächen unsers Culturlebens körperlich und geistig soweit heruntergekommen ist, daß die gewöhnlichen großstädtischen Heil- und Erziehungsmittel bei ihm nicht mehr anschlagen, wird weise handeln, sich selber dort in Pension zu thun. Zwar gibt man sich mit seinen Gebrechen daselbst keine sonderliche Mühe, und die dortigen Aerzte erheben sich kaum über die wissenschaftliche Bildung unserer Barbiergesellen; zwar sind die Molken sauer wie Weinessig; zwar ist die Apotheke so schlecht, daß jeder Blutegel aus Thun zu Schiff geholt werden muß; allein es ist eben dadurch gesorgt, daß der Natur Niemand in das Handwerk pfusche. Die schweizer Behörde, in ihrer tiefen Auffassung der Besonderheit ihres Vaterlandes, hat sich feierlich dagegen erklärt, aus Interlaken einen entschiedenen Curort zu machen. Es soll eine Art landschaftlichen Sommersalons für die Elite aus allen Welttheilen bleiben, und die Schwächlichen, wenn sie der schweizer Behörde zum Trotz sich unterstehen krank zu werden, mögen sehen, wo sie 33 bleiben, nur nicht in – Interlaken. Davon abgesehen, sind alle Bedingungen vorhanden, die Seele, und mittels ihrer Regeneration auch den siechen Leib von den Gebrechen der entmenschenden Uebercivilisation zu reinigen. Ein schöner Tag in diesem Thale muß einen Maler zu dem Gemälde des Paradieses, einen Musiker zu einer Symphonie begeistern; der Poet legt sich an einem Bergabhange in die süßduftenden Kräuter und saugt träumend neue Einbildungskraft ein.

Im Thalgrunde wechseln blumige Wiesen mit uralten Wallnußbäumen, reizende Chalets im Oberlandgeschmack mit niedern Hütten, zwei ewige Mauern von himmelhohen, oben bröckelig-morschem Gestein, schützen das Thal vor dem Nordwind und dem Sirocco; nach Süden erschließt sich die Mauer, und über den kleinen Rugen, den Abendberg und die Ausläufer der Schwalmern hinweg, blickt das Schnee- und Eisgebirge der Jungfrau. Vor diesem Altar sitzen früh und spät die Kenner und Dilettanten der Natur. Der atmosphärische Zustand des Prospects auf die Jungfrau entscheidet über die Stimmung aller Pensionäre. Hat sich eine Wolkenwand zwischen das Thal und den Berg gebaut, so lassen Alle die Flügel hängen; zerreißen die Nebel, blickt bald ein Schneefeld, bald ein Gletscher hervor, lagert sich endlich der volle warme Sonnenschein auf diese weißen Riesenmassen, so bequem und üppig, daß die Augen fast erblinden, so ist gute Zeit in Interlaken. Gleich Bienen fliegen sie aus allen Chalets ihrer Pensionen ins Freie, und sammeln süßen Honig unverfänglicher Thatsachen, aus denen hernach das bittere Gift der Klatscherei bereitet wird. Noch dürfen wir nicht aus der Schule schwatzen; das Interlaken der Pensionäre werden wir erst später kennenlernen.

Die Lebensfristung in den Pensionen ist dem harmlosen Zweck entsprechend und billig. Der Einzelne zahlt täglich 34 5 Francs für Wohnung und Unterhalt, für Bedienung 10 Centimes. Dafür erhält er in dem allgemeinen Speisesaal: Morgens zu beliebiger Zeit von sieben bis zehn Uhr Kaffee nach Schweizerart, mit allem Zubehör von Milch, Butter, Honig, Zucker, Brot und Kuchen; Mittags um 2 oder 4 Uhr ein reichliches, nach Landessitte etwas fade gekochtes, sonst gesundes Mittagsessen, und Abends um 8 Uhr kalte Küche und Thee, oder Milch und Erdbeeren. Gelüstet einen Schwelger nach Wein und Nachmittagskaffee, so erhält er beides extra zu billigen Preisen. Ueberall sind die Wohnungen trocken, reinlich und freundlich, die Möbel neu, die Gänge mit Strohmatten bedeckt, und die Dienstboten heiter und zuvorkommend, aber langsam. Die Schweiz ist in vielen Dingen ein wenig hinter dem Zeitalter zurückgeblieben.

Eine That des Uebermuthes in Baccho, einen energischen Diätfehler zu begehen, gehört zu den Unmöglichkeiten. Es fehlt an einem tonangebenden Restaurant, an einem Weinlocal, und sogar Prinzen und Lords können ihre Billardleidenschaft nur in einer mehr als mittelmäßigen Bierkneipe an der untern Brücke über die Aar befriedigen. Nicht minder unmöglich ist eine Ueberladung des Geistes durch Studium und Lectüre. Fehlen die Hülfsmittel für ersteres gänzlich, so bestehen die Unterhaltungsbücher nur in solchen, welche der Tourist bereits in seinen Jugendjahren auswendig wußte. Zeitungen sind in einem Leseschuppen zwar vorhanden, gehen aber so schwer aus einer Hand in die andere über, und sind so lange vorher mündlich bei den Kunden abonnirt, daß Jeder nur das Blatt lesen kann, welches ihm aus seiner Heimat nachgesandt wird.

Es ist wirklich ein Paradies der Unschuld in allen Einrichtungen – dieses Interlaken. 35


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