Ernst Kossak
Schweizerfahrten
Ernst Kossak

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3.
Gebirgsstufen.

Die Eisenbahnindustrie bebt schon lange nicht mehr vor Bergen und Felsen zurück. Die Ueberwindung der Schwierigkeiten am Semmering hat den Ingenieuren Muth eingeflößt, und allerlei Schienenwege schleichen sich schon vom linken Ufer des Rhein nach den Alpen, und spüren heimtückisch nach Spalten und Lücken, um die noch von der Maschinenunverschämtheit unentweihte Majestät der Hochgebirge der Zweckmäßigkeit des Verkehrs zu beugen. Dem beschaulichen Gebirgswanderer braucht bisjetzt nicht bange zu sein vor dem Untergange seiner Poesie, allein über die Vorstufen der Schweiz wird man gewiß gar bald mit aller nöthigen Touristenhast hingepeitscht werden. Welche unumstößlichen Gründe sich auch für die Bewältigung der steinernen Länderscheiden und für Zeitersparniß anführen lassen: im Menschen lebt noch ein anderes Etwas, ein Zeitmaß des Geistes und Gemüths, das mit dem Prestissimo der Locomotiven nicht Schritt zu halten 17 versteht. Aber wie die Kanonen die ultima ratio der Könige sind, so die Eisenbahnen die der Völker; die Burgen des Mittelalters sind unter den Karthaunen eingestürzt; die Eisenbahnen werden im Laufe des Jahres noch mehr nivelliren als Völkergegensätze, Felskämme und Landschaftsgelüste poetischer Träumer.

Ein Hauptreiz der Schweiz ist die köstliche ästhetische Entwickelung ihrer Naturtotalität. Zu dem hohen Thron ihrer Alpen gelangt der Wanderer über eine Anzahl Stufen, deren jede in einem eigenthümlichen Schmucke prangt und für die nächsten vorbereitet und stimmt. Alle vom Rhein beginnenden Straßen führen durch ein reizendes Hügelland mit zerstreuten pittoresken Felsbildungen, durch fruchtbare Ebenen voller Fleiß und Wohlstand, durch imposante Mittelgebirge, bis endlich am Spiegel grüner Seen, von üppigen Thalsohlen aus, allmälig die Pfade zu den letzten Höhen des europäischen Erdtheils anheben. Um diese harmonische Entwickelung der künstlerischen Freude an der Natur werden uns die Eisenbahnen bringen. Wie nach Humboldt der Condor, wenn er aus seiner Höhe auf die Beute am Meeresstrande niederschießt, alle Klimata der Erde in wenigen Minuten durchfliegt, werden wir in kurzer Zeit durch eine Bilderreihe, die den Geist wochenlang zu beschäftigen und zu nähren pflegt, mit wüthender Hast uns hingerissen sehen, und wie die lebhaften Farben einer bemalten Scheibe bei rascher Umdrehung, so die schönsten Landschaften in gleichgültiger Mischung erblicken.

Die Eisenbahn von Basel aus beraubt heute bereits den Reisenden der Freude an den bewaldeten Bergen, die in südlicherer Färbung als der einförmige melancholische Schwarzwald den Uebergang bilden zur Terrainbildung der Juraformation und der paradiesischen Ebene von Solothurn bis 18 Bern, an deren Horizont in ihrer ewigen Uniform von blauen Dünsten die Berner Alpen schweigend Wache stehen.

Bis Liestal brachte uns in einer zweiten Classe, vor deren gegenüberliegenden Sitzen nur die Beine des einen, nicht aber die des vis-à-vis befindlichen Passagiers Platz haben, ein Eilzug, der sich sofort davonmachte, um seinen Ballen Passagiere mit Hülfe einiger Omnibus-Intermezzi an demselben Tage nach Luzern zu schaffen. Auf uns berner Fahrer wartete schon ein per Telegraph bestellter anständiger und bequemer Postwagen. Die Glücklichen, die Plätze im Coupé oder oben auf dem Wagen erobert hatten, kletterten vergnügt hinauf, da in der Schweiz jeder Genuß mit einigem Klettern erkauft werden muß; wir zu dem Dante'schen Höllenkreise des Inférieur Verurtheilten fügten uns gelassen in das Unvermeidliche. Die Sorge für Malwinens Koffer und Schachteln beschäftigte mich wenigstens lange genug im Freien, da ich einen obensitzenden Schweizersoldaten erst durch eine schöne, aber angreifende Beweisführung überzeugen mußte, daß die Schachtel mit dem Rosahütchen kein geeigneter Schemel für seine mit Randsohlen versehenen Schuhe sei. Unser Zustand im Innern des Wagens war bis auf Weiteres erträglich, da nur drei Personen sich in den Raum zu theilen hatten.

Auf dem Ehrenplatze saß ein uralter Neufchâteler, links von ihm eine Witwe vom Genfersee. An dem Neufchâteler zeugte Alles von der verheerenden Gewalt der Zeit; er war so alt, daß seine Existenz und äußere Erscheinung wieder etwas Jugendlichverschämtes angenommen hatte und die Gegenwart ihres langen Aufenthalts wegen um Entschuldigung zu bitten schien. Seine um den rothen Regenschirm gerollte Landkarte stammte noch aus dem vorigen Jahrhundert, sein in tausend Fältchen gekniffener Busenstreif kam dagegen wieder in die Mode, und der Mantel mit 50 Kragen war eine wehmüthige 19 Erinnerung an die Zehnerjahre. Auf seinen Augenbrauen und einigen Warzen neben der Nase wuchs ein deutliches Moos, und die Haut der Hände bestand in dem besten Pergament. Er unterhielt sich lebhaft mit mir und der Witwe, mußte aber oft einige Minuten stillschweigen, bis er wieder soviel Kräfte gesammelt hatte, den widerspänstig niedersinkenden Unterkiefer mit seinem Bruder zu vereinigen. Alles athmete an ihm Ehrfurcht und Vergangenheit, und erst Nachmittags sollte sein moderner und jugendlicher Theil überraschend zutage kommen. An der Witwe war nur Eins merkwürdig, und dieses war ihr Kropf. Nicht Witwe, aber Frau zu werden mit diesem Liebesapfel, das blieb mir das Räthsel ihres Daseins.

Die Reisegefährten im Coupé und in der Banquette hatten jedoch auch keine leichten Räthsel zu lösen. Sie litten an einer alten französischen Mamsell, die von dem Streben beseelt war, auf jeder Station den Wagen zu verlassen und den Moment der Abfahrt zu versäumen. Wenn wir hundert Schritte weit gefahren waren, zeigte es sich jedesmal, daß die alte Mamsell fehlte, und der Conducteur mußte regelmäßig halten lassen und die athemlos Nachtrabende aufnehmen, wobei er nie versäumte, den betreffenden Paragraphen aus dem Passagierbillet zu wiederholen, daß jeder »instructionswidrige Aufenthalt« ihn bei der Postbehörde strafbar mache. Von einer entgegengesetzten wichtigern Instruction, welche die alte Mamsell von der unerschöpflichen Natur erhalten hatte, wollte er sich schlechterdings nicht überzeugen lassen.

So trabten wir gemüthlich zwischen Bergen, Wäldern und Bächlein dahin, erquickt von einer urfrischen Luft, die noch nie zwischen Mauern, Straßen und Fabriken gefangengesessen hatte, und wie ein muthwilliger Schmetterling durch die großen offenen Wagenfenster flatterte. Solche Luft gibt dem Menschen 20 gute sanfte Gedanken. Sie ist das freigeborene Kind der hohen Berghalden, die Morgenkühle hat sie gesäugt, der Nebel unzugänglicher Felsen getauft, die Sonne mit einem goldenen Duft ausgestattet, und der beklagenswerthe Sohn der Fläche athmet sie ein wie der Gefangene den Hauch seiner täglichen einzigen Spazierstunde, halb mit Entzücken, halb mit Kummer, wenn er an den Dunst des gewöhnlichen Kerkers zurückdenkt.

Nach einigen Stunden hatten wir den Paß des Jura überwunden, der sich hinter dem hübschen Orte Ballstall der Straße trotzig entgegenstemmt, und ließen nur seine kahle graublaue Zackenwand zur Rechten liegen, bis uns halb gebraten von der aufsteigenden Sonne das alte gastliche Solothurn aufnahm. Hier am Ufer der gleich einem aufgethauten Smaragd durchsichtig grün dem Rhein zueilenden Aar liegt das Herz eines tapfern Mannes auf einem kleinen Gottesacker begraben. Die Gebeine des edeln Kosciuszko haben zwischen den beiden andern Tapfersten Polonias, Poniatowski und Sobieski, zu Krakau ihre Stätte gefunden; sein Herz hat sein letzter Zufluchtsort auf Erden als Faustpfand der Freiheit einbehalten. Wenn aber aus eines Menschen Asche, aus dem einst nimmer Ruhenden, jetzt Heimgegangenen, noch ein Etwas emporblickt, so schaut dieses stille Auge von seines Grabes Bett aus jene Vesten, deren Freiheit die Natur mit eigener Hand in Schutz genommen hat, auf die Hochalpen, die eisgepanzerten Citadellen, wo wilde Orkane und Lavinen die nüchterne Zweckmäßigkeit und die kurzsichtige Willkür der Menschen zu Thal scheuchen.

Wir hatten nur spärliche Zeit zu phantasiren; das Mittagsmahl dampfte auf dem Tische und der Conducteur rühmte es als vortrefflich. Dieses Lob verdiente es auch vollkommen, wenn die Kürze unter allen Umständen eine der löblichsten 21 Eigenschaften der menschlichen Dinge genannt werden kann. Rasch nahmen wir wieder Platz im Wagen und hatten bald das malerische Solothurn mit seinen wohlerhaltenen weißgrauen Wachtthürmchen hinter uns. Wir erreichten schnell die Grenzen des Cantons Bern, und von hier aus war es mit unserer Wagenidylle zu Ende. Zuerst stieg ein reicher Bauer von einem Format ein, in dem wol nur noch die Schweiz eine Creatur herausgibt. Die rasche Verwandlung des Jupiter in einen Stier wurde mir sofort durch diesen Mann anschaulich gemacht, denn die Charakteristik eines Vaters der Heerde sprach sich in unserm Giganten mit göttlicher Klarheit aus. Nur ein paar Hörner fehlten ihm, und ich hätte geglaubt, der rothe Regenschirm des Neufchâtelers müßte ihn in blinde Wuth versetzen. Wir wurden beim Einsteigen des gewaltigen Mannes auch sofort instinctiv mäuschenstill und regten uns erst wieder, als seine langsamen tiefen Athemzüge uns verkündeten, die ungeheure Masse sei sanft entschlafen. Bald darauf gesellten sich zwei freundliche Bauermädchen in nicht zu jugendlichen Jahren zu uns, und nun ereignete sich etwas ganz Unerwartetes. Wenn der Greis aus Neufchâtel nach Tische in einen Zustand von mattem Scheinleben versunken war und gleich einer Dampfmaschine, solange Sonntags die Fabrik feiert, nur innerlich leise ein wenig brodelte, wurde er bei Ankunft der Mädchen munter wie ein jähriger Hänfling und machte verliebte Courbetten, die leider 70 Jahre zu spät adressirt wurden. Das bemooste Ungeheuer wollte den verlegenen Schönen die Hände drücken und rückte ihnen so nahe, daß die am meisten Verfolgte auf der nächsten Station ihren Platz mit der Kropfwitwe wechseln mußte. Zur rechten Zeit wachte der Stiermensch auf. Wir befanden uns eben an einer Stelle, wo die Eisenbahn von Basel nach Bern in Angriff genommen war, und der College der Ungeheuer aus 22 den Ruinen von Ninive begann eine Eisenbahnrede, von der ich leider nicht angeben kann, ob sie für oder wider gehalten wurde. Ebenso fruchtlos hätte mir ein Recke aus den Nibelungen specielle Auskunft über die Stelle geben können, wo der Hort versenkt sei; der Dialekt seines Deutsch war mir so unverständlich wie den Laien jenes Gedicht im Original. Die Rede dauerte noch fort, als wir in Bern einfuhren, sie übertönte das Rollen des schweren Gefährts auf dem Pflaster; sie verstummte erst mit dem stillhaltenden Postwagen. Ohne Maßen froh, dieses letzte Aufgebot von Contrabaß überstanden zu haben, wollte ich nun mein Leben genießen, als mich plötzlich etwas am Aermel zupfte und eine menschliche Pickelflöte wieder die alte Melodie anhub: »Bringen Sie endlich mein Gepäck?«

Malwine im Reisecostüm, aber höchst misvergnügt am Arme des Gemahls hängend, stand vor mir.


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