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Sechzehntes Kapitel

Mein Gott, es ist wirklich zu – zu – zu fürchterlich, daß wir diese gräßliche Verhandlung erleben müssen. Daß wir unsere liebe, gute Hanna hier als Angeklagte wiedersehen sollen. Ist es nicht fürchterlich, Mutter?«

»Ja, Kind,« entgegnete Frau Kommerzienrat Hell auf Liselottes Frage mit immer unerschüttertem Gleichmut.

Die beiden Damen saßen eng eingekeilt in einer aufgeregt-neugierigen Menge von Zuhörern auf der Gallerie des großen Schwurgerichtssaales, in dem über Hanna Rainer das Urteil gesprochen werden sollte. Der Atem heißer Spannung wehte durch den Raum. Jeder Platz war besetzt; von der hinteren Eingangstüre her, zu der die Masse der nicht mit Eintrittskarten Versehenen sich hereindrängte, klangen die Stimmen scheltender Schutzleute. Sonst nur halblautes Reden, Fragen und Antworten, Umhersuchen gespannter Blicke, schnelles Aufrecken der Köpfe, wenn irgend ein Ton den Beginn der Verhandlung anzukündigen schien. Still und leer aber lag im Gegensatze zu dem gefüllten Zuschauerraume noch die Stätte des Gerichtes. Feierlich-ernsthaft stand unter schwerer grüner Decke der Richtertisch da; die Plätze der Geschworenen, des Anklagevertreters, der Sachverständigen, der Verteidiger waren unbesetzt wie die Bank der Zeugen unmittelbar vor dem Raume der Zuhörer.

Es war Spätherbst geworden, und hinter den großen Fenstern, die trüb-trauriges Licht in breiten Strömen hereinwarfen, fielen erste Schneeflocken langsam herab. Die schwere braune Täfelung, die sich an den Wänden hinzog und in der gleichfarbigen Decke fortsetzte, schien das wenige Licht in sich zu saugen und eine finstere, schwermütige Stimmung auszubreiten über den ernsten Raum. Das große Bild einer Justitia, die mit verbundenen Augen, aber ausgestreckt gehaltener Wage hoch über einer mittelalterlichen Stadt an der Wand hinter dem Richtertische thronte, verschwamm undeutlich in dem halben Licht. Es war nichts in dem ganzen Saale, was hell, hoffnungs- und verheißungsvoll erschien.

»Mutter, Mutter, es hat geklingelt, – jetzt geht es an,« rief Liselotte. Grell und scharf hatte wirklich der Ton einer elektrischen Glocke die Wolke der Spannung zerrissen, die den Raum überdeckte. Die hohe Tür zum Orte der Verhandlung hatte, von unsichtbaren Händen bewegt, ihre beiden breiten, braunen Flügel aufgetan, und nacheinander betraten die Leiter des Dramas, das hier gespielt werden sollte, die Bühne, die schon viele menschliche Tragödien gesehen hatte. Die Geschworenen kamen herein und gingen auf ihre Plätze seitlich vom Richtertische zu, manche von ihnen ungeschickt und schwerfällig, alle mit künstlich-feierlichen, ernsten Gesichtern. Sicherer, als gewohnte Herren dieses Raumes, traten Staatsanwalt, Richter und Verteidiger auf. Das Bild füllte sich mit ihren dunklen Gestalten; ihre langen schwarzen Talare, die schwarzen Barrets gaben ihm einen mittelalterlichen und kirchlichen Zug. In dieser Tracht hinter dem grünen Richtertische stehend eröffnete der Vorsitzende die Verhandlung, eine hohe, schlanke Figur mit klugem Juristenkopfe, schmalen Lippen und scharfen Augen.

Die nötigen Formalitäten, Auswahl und Vereidigung der Geschworenen, zogen sich zur Ermüdung des Publikums eine ganze Weile hin. Alle warteten mit kaum zu zügelnder Ungeduld auf das Erscheinen der Heldin dieses Trauerspiels, gegen deren Person die des Mitangeklagten Indiers Amaru weit in den Schatten trat. Aber Hanna Rainers gesellschaftliche Stellung, die Beziehung des Prozesses auf den von allen vergötterten Xaver Stieler, seine Herkunft aus der alten gräflichen Familie der Hersberg-Negenhofen, das alles hatte die Menschen mit einer fast krankhaften Spannung erfüllt. Man konnte meinen zu hören, wie die hier zusammengedrängte Menge mühsam, schmerzhaft nur Atem holte.

Liselotte Hell rückte voll ärgerlichen Eifers auf ihrem Stuhle hin und her. In die Formalitäten dort unten auf der Gerichtsbühne hinein flüsterte sie: »Mein Gott, womit sich diese Menschen immer noch aufhalten. Dies Warten muß für Hanna doch eine gräßliche Qual sein, das ist es ja für uns auch. Ob es denn wirklich wahr ist, Mutter, daß Hanna sich geweigert hat, einen Verteidiger zu nehmen, – im Gefühl ihrer Unschuld natürlich? Dann wäre der junge blonde Mensch dort neben dem Staatsanwalt wohl nur der ihr gegebene Pflichtverteidiger, von dem Vater sprach, nicht wahr?«

Frau Hell begann mit einem »Ja« die gewohnte Antwort, konnte sie jedoch nicht in üblicher Weise vollenden. Liselotte hatte sie mit schmerzender Heftigkeit am Arm ergriffen und rief mühsam leise: »Da kommt sie, da kommt sie!«

Seitlich vom Sitzungsraume war eine bisher noch nicht benutzte schmale Tür geöffnet worden, und Hanna Rainer war daraus hervorgetreten. Eine dumpf rauschende Bewegung wie beim Erscheinen eines großen Künstlers auf der Bühne ging durch die Menge; wie manchesmal hatte das gleiche seltsame Geräusch das Auftreten Xaver Stielers begrüßt. Und nun galt es ihr, die das Leben dieses Mannes gewaltsam ausgelöscht haben sollte.

Sie trug ein schwarzes, ganz einfaches Kleid; wachsbleich erhob sich darüber ihr Gesicht, vom schweren, dunklen, offenbar nur gleichgiltig aufgesteckten Haar umrahmt. Ihre Züge waren schlaff und müde geworden, langsam und automatenhaft bewegte sie sich; ein Künstler unter den Zuhörern meinte hinterher, sie hätte die Gretchen-Erscheinung im »Faust« in ihm wachgerufen, von der es heißt: »Sie scheint mit geschlossenen Füßen zu gehen«. So schritt sie zur Anklagebank hinüber; einmal nur hob sie den Blick und ließ ihn mit einer Halbkreisbewegung des Kopfes über den Verhandlungsraum hingehen; es war, als wenn sie nach jemandem suchte, den sie nicht fand. Von jetzt ab sah sie starr vor sich hin.

Ihr folgte der Indier, eine klägliche, ganz in sich zusammengesunkene Gestalt. Er trug ein schwarzgerändertes Taschentuch in der Hand und hob es immer wieder an die von Tränen überströmenden Augen. Weinend nahm er auf der Anklagebank neben Hanna Platz.

Als der Vorsitzende die vorgeschriebenen Fragen über Geburt, Alter, Vorbestrafung an sie richtete, schien Hanna halb unbewußt nur Antwort zu geben; als aber die Frage kam, ob sie sich schuldig bekenne, Xaver Stieler getötet zu haben, da schwieg sie ganz und hob nur mit einer tödlich-matten, aber in dieser Todesmattigkeit gewaltig ausdrucksvollen Bewegung Schultern und Hände ganz wenig, um sie dann wieder schwer niedersinken zu lassen.

»Sie müssen deutlich antworten,« sagte der Vorsitzende mit einer Stimme, die dem Blicke seiner Augen gleich kam an Schärfe. »Gebärdensprache kann uns nicht genügen. Also, nein oder ja, – bekennen Sie sich schuldig?«

Nun öffnete sie die Lippen; ein leises »Nein« kam hervor, während ein Lächeln von grausamer Bitterkeit gleichzeitig um ihren Mund spielte.

»Sie bekennen sich also nicht schuldig. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung anzuführen?«

»Nichts,« kam es ebenso leise wie zuvor von ihren Lippen, während sie den Kopf kaum bemerkbar hin- und herbewegte.

»Haben Sie nichts, gar nichts auf die gegen Sie erhobene schwere Anklage zu sagen?«

Wieder die kaum bemerkbare, verneinende Bewegung des Kopfes, wieder das geflüsterte: »Nichts«.

»Vielleicht besinnen Sie sich, wenn wir Ihnen ein wenig Zeit lassen. Ueberlegen Sie sich einmal, ob es von Vorteil ist für Ihre Sache, sich eigensinnig in Schweigen zu hüllen. Zunächst also dann zu Ihnen, Herr Amaru.«

Der Indier fuhr sichtbar zusammen, ließ das Taschentuch fallen, hob es wieder auf und preßte das Tuch zwischen seinen Händen in einen Knäuel. Eine plötzliche Leidenschaft aber kam in ihn hinein, als er vom Präsidenten jetzt auch befragt wurde, ob er sich schuldig bekenne.

Da glommen seine schwarzen Augen auf, eine Blutwelle stieg in sein braunes Gesicht, er trat einen Schritt vor, breitete mit einer theatralischen Bewegung seine beiden Arme weit aus und rief: »Ich sein unschuldig, – unschuldig, so wahr Gott mir helfe!«

»Xaver Stieler ist nachweislich an einem indischen Gifte gestorben, das man den ›Glücklichen Tod‹ nennt. Sie befanden sich im Besitze solchen Giftes, nicht wahr?«

»Ja, ja, ich mich haben in ihm befunden. Aber ich es nicht haben eingegeben meinem guten Herrn Stieler.«

»Es ist nicht anzunehmen, daß außer Ihnen irgend jemand hier in der Stadt im Besitze dieses in Europa fast unbekannten Giftes war. Man muß also mit Notwendigkeit schließen, daß das Gift von Ihnen stammte. Sie müssen es persönlich angewandt oder irgend jemandem etwas davon abgegeben haben.«

»Oh nein, mir ist genommen worden davon, – aus das kleine Glas in mein Schrank.«

»Wer wußte denn außer Ihnen von dem Gift? Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen?«

»Ich mich selbst haben darüber gefragt sehr vielemale, haben mir zerbrochen das Kopf daran. Und es ist mir gewesen zuweilen, als wenn, – aber dann ist mir wieder gewesen, als wenn ich hätte geträumt, und es ist mir wieder gewesen weg.«

»Sie wollen sagen. Sie könnten vielleicht mit jemandem darüber gesprochen haben, erinnerten sich aber nicht mehr daran. Ich meine, so etwas vergißt man doch nicht. Uns hier aber interessiert hauptsächlich die Frage: Haben Sie jemals mit Fräulein Rainer über das Gift gesprochen?«

»Einmal ja, – einmal ich das haben getan.«

Wieder die leise rauschende Bewegung im Zuhörerraume, das Aufhorchen, sich Vorbeugen, das leise Rücken von Stühlen. Doch der Ton starb gleich wieder hin, als Amaru schnell hinzufügte: »Das ist gewesen aber viele Zeit nach Herrn Stielers Tod.«

»Sie sprechen von Ihrer Begegnung mit Fräulein Rainer im Café, wie mir scheint. Haben Sie nie vorher mit ihr über das Gift gesprochen?«

»Oh nein, – sicher, sicher, gewiß nicht! Ich mit ihr sonst überhaupt nie haben gesprochen allein.«

»Die Begegnung im Café hat Fräulein Rainer veranlaßt, nicht wahr? Sie hat Ihnen geschrieben?«

Amaru warf einen tränenfeuchten, um Verzeihung bittenden Blick auf Hanna, bevor er sagte: »Jawohl, das Fräulein Rainer haben getan.«

»Sie müssen danach doch in irgend welchen Beziehungen zu ihr gestanden haben. Welche waren das?«

»Keine Beziehungen, – oh nein. Und wenn ich haben gehofft, – oh, Fräulein Rainer mich hatte verzaubert ganz und gar.«

»Sie waren verliebt in Fräulein Rainer, wollen Sie sagen?«

»Oh, ›verliebt‹ ist kein richtige Wort für mein Gefühl. Ich habe gebetet an Fräulein Rainer, ich war nicht mehr, was ich gewesen war vorher.«

»Mir scheint, Sie waren der Dame gegenüber in einem Zustand von Willenlosigkeit, – Sie hätten wohl alles getan, was Fräulein Rainer von Ihnen gefordert hätte?«

»Ja, ja, das ich hätte mit viel Freuden getan.«

»Die Feststellung dieser Tatsache genügt mir zunächst. Wir wollen jetzt in die Zeugenvernehmung eintreten.«

So schloß die Befragung des Indiers mit einem für ihn gefährlichen Eindruck. Sein Verteidiger, der voll Eifer aufsprang, um durch allerlei Fragen an seinen Klienten das unvorsichtig Ausgesprochene wieder zu verwischen, konnte das Geschehene nicht auslöschen. Der Indier hatte das Gift besessen, er war in Hanna Rainer willenlos verliebt gewesen, er hatte selbst erklärt, er würde für sie getan haben, was von ihm verlangt worden wäre, – diese schwer belastenden Umstände lebten weiter im Gedächtnis der Hörer.

Doktor Glaritz war der erste der Zeugen, der in den Saal gerufen und vereidigt wurde. Sein Gesicht war fast ebenso bleich wie das von Hanna; der schwarze Vollbart hob das gelbliche Weiß der Haut noch stärker hervor. Seine Blicke suchten Hanna mit einem angstvoll-verzweifelten Ausdruck, doch hob sie die gesenkten Lider nicht beim Klang seines Namens und seiner Stimme. Gewaltsam nahm er sich zusammen, richtete die Gestalt mit einer energischen Bewegung empor und suchte seinen Worten Festigkeit und Ruhe zu geben.

Seine Vernehmung bezog sich zunächst auf die Vorgänge bei Xaver Stielers Tod im Theater und auf seine beim ersten Anblick des Toten gestellte Diagnose von Herzschlag.

»Die Symptome wiesen darauf hin,« sagte Glaritz, »aber die gerichtliche Untersuchung hat einwandfrei das Gift festgestellt; mein Herr Kollege, der heute hier als Sachverständiger ist, hat Recht behalten.«

Er wandte sich bei den letzten Worten rechtshin, wo der Sachverständige vor der Bank der Angeklagten saß, aber seine Blicke hafteten für einen kurzen Moment nur auf dessen Gesicht, um rasch wieder das von Hanna zu suchen. Die Vernehmung richtete sich nun auf die Beobachtungen, die Glaritz am Abend vor Beginn des Theaters von seinem Zimmer aus gemacht hatte. Sie beschränkten sich nach seinen Angaben darauf, daß er, kurz vor acht Uhr ans Fenster tretend, Graf Stefan Hersberg auf der Straße vor dem Pavillon und kurz darauf Licht im Pavillon selbst bemerkt habe.

»Von seiner früheren Anwesenheit gegen Abend in der Villa Rainer wußten Sie nichts?«

»Nein.«

»Auch nichts vom Erscheinen der Frau Baratta, der Gattin Xaver Stielers, auf der Straße beim Pavillon dort?«

»Nein.«

»Auch nichts von dem Lichtschein, den der Schutzmann Hensel um halb acht Uhr im Pavillon wahrgenommen hat?«

»Nein. Ich war mit einer schriftlichen Arbeit beschäftigt und saß an meinem Schreibtisch, bis ich auf der Uhr sah, daß die Zeit fürs Theater gekommen war. Dann ging ich fort.«

»Und später, – haben Sie die Scherbe der Weinflasche, woran sich noch Spuren des Giftes befanden, durch Zufall neben dem Pavillon entdeckt?«

»Nicht ganz. Mich beschäftigte der Fall natürlich ungemein, und ich habe verschiedentlich den Schauplatz der Tat genau besichtigt. Aber die Scherbe lag so versteckt im Lichtschacht unter dem Gitter, ebenso war der Briefumschlag unter dem Grün des Hollunderstrauches dort so gut verborgen, daß ich erst nach einiger Zeit bei neuem Suchen die beiden Gegenstände hier fand.«

Er wies bei seinem »hier« mit einer Handbewegung auf die genannten Dinge hin, die zu deutlicher Schau weithin sichtbar auf einem besonderen kleinen Tischchen vor dem Richtertisch ausgestellt waren. Ein gieriges Bemühen, die zum Verbrechen in Beziehung stehenden Gegenstände deutlich zu sehen, kam in die Zuhörerschar bei seinen Worten. Er aber fuhr mit erhobener Stimme zu reden fort. »Als ich diesen Briefumschlag fand, gab er mir die Bestätigung eines Verdachtes, den ich gegen den Grafen Stefan Hersberg hegte. Der Graf hat, wie man sagt, ein Alibi nachgewiesen, das ihn entlastet, aber ich kann mir nicht helfen, ich hege den Verdacht gegen ihn immer noch und – –«

»Herr Doktor, haben Sie die Güte, sich in Ihren Aussagen auf Tatsachen zu beschränken. Die Folgerungen aus den Tatsachen werden vom Gerichte gezogen werden. Wir wollen den Grafen Hersberg selbst jetzt hören.«

Graf Stefan wurde hereingeführt; sein sonst so fröhliches Gesicht war gezeichnet von der Qual schlafloser Nächte. Seine Selbstvorwürfe wegen der Zweifel an Hanna waren in der letzten Zeit banger Spannung immer mächtiger geworden, in der ihr grausames Geschick täglich wachsendes Mitleid von ihm forderte. Beim Eintritt in den Saal suchten seine Blicke Hanna, wie die des vorigen Zeugen sie gesucht hatten, und er empfing Antwort auf seine Blicke. Doch nur einen Moment hob sie die Lider, um sie gleich wieder sinken zu lassen.

Graf Stefan sagte mit ruhiger Offenheit aus, was er zu sagen hatte. Seine schon so viel erörterten Familienverhältnisse wurden zur Pein des alten Grafen, der unter den Zuhörern in einem Winkel der Verhandlung folgte, noch einmal dargelegt, aber die Beantwortung der Fragen ließ keinen Verdacht auf Stefan selbst fallen. Dann wurden die Vorgänge des Mordabends insoweit klargelegt, als der Graf davon wußte: daß er gegen Abend vor sechs Uhr in der Villa Rainer gewesen war, um die Möglichkeit seines Nichterscheinens für die verabredete Zusammenkunft anzukündigen, daß er tatsächlich am Kommen durch dienstliche Tätigkeit verhindert worden und erst kurz vor acht Uhr noch einmal nach der Villa geeilt war, um zu sehen, ob er seinen Bruder nicht möglicherweise doch noch dort fände, daß er Hanna Rainer dann aber wirklich erst im Theater wiedergesehen hatte.

Stefan gab sich alle Mühe, seinen Worten Günstiges für sie beizufügen, aber die Wirkung wurde durch festgestellte Tatsachen jedesmal wieder abgeschwächt oder aufgehoben. War der Brief, der in seines Bruders Tasche gefunden worden, und von dem er behauptete, daß er an ihn selbst gerichtet sein müsse, jemals in seine Hände gelangt? – Nein. Hatte Hanna Rainer ihm vor der Unterredung in der Untersuchungshaft jemals etwas von diesem Briefe gesagt? – Nein. Hatte sie früher schon von ihrem persönlichen Besuch in seines Bruders Wohnung erzählt? – Nein. Er mußte die Fragen mit wundem Herzen verneinen und fühlte, wie das Netz des Verdachtes um Hanna sich enger und enger zog.

In seinem immer heißer aufquellendem Mitgefühl für sie ließ es ihn fast gleichgiltig, daß unmittelbar nach ihm sein Chef, zur Vernehmung aufgerufen, ihm ein unzweifelhaftes Alibi bis etwas nach dreiviertel acht Uhr bezeugte. Gleich darauf mußte die Frau Kübelmorgen, sehr gegen ihren Willen vor Gericht gezogen, aber doch mit ihrem schwarzen seidenen Sonntagskleid geschmückt, ihre Wahrnehmungen bekunden. Der Indier war zwischen sieben und halb acht Uhr in ihrem Laden gewesen, sie hatte gleich nach halb acht Uhr einen Mann den dunklen Weg nach dem Flusse hinunter gehen und etwas ins Wasser werfen sehen. Befragt, ob Amaru dieser Mann gewesen sei, mußte sie zugeben, daß er so groß ungefähr sei wie der Gesehene, daß es ihr der damals herrschenden Dunkelheit wegen aber unmöglich sei, Bestimmtes anzugeben.

Amaru selbst, noch einmal aufgerufen, gestand ein, daß er schon von sechs Uhr an ungefähr sich in der dortigen Gegend aufgehalten habe. Daß er den Weg zum Flusse hinunter gegangen sei, bestritt er zwar entschieden, doch war er nicht imstande, für die Zeit um halb acht Uhr ein bestimmtes Alibi für sich anzugeben. Demnach gestaltete sich die Lage so: Der Indier hatte sich schon vor dem Kommen Xaver Stielers bei der Villa Rainer aufgehalten, er konnte sehr wohl, entweder mit Hanna Rainer zusammen oder allein, auf deren Anstiften das Gift um diese Zeit in den Wein gemischt haben. Um halb acht Uhr war ein bis jetzt unerklärtes Licht im Pavillon gesehen worden, kurz danach war der Unbekannte zum Flusse hinuntergegangen. Es lag sehr nahe, daß Amaru das Licht entzündet und hinterher die beseitigten Zeugnisse des Verbrechens nach dem Flusse hinabgetragen hatte.

Rosa d'Otranto, deren Vernehmung unter krampfhaftem Augenzwinkern ihrerseits erfolgte, suchte den Aussagen eine möglichst günstige Färbung für »ihr Barattchen« zu geben, mußte daneben allerdings auch zugestehen, daß die Kinokünstlerin immer aufgeregt, nervös und schnell zur Eifersucht geneigt gewesen sei. Für die Schuldfrage selbst waren ihre Bekundungen ohne Bedeutung. Wichtiger war das Verhör des Dieners aus der Villa Rainer, der zwar offen eingestand, eine der zwei Weinflaschen heimlich ausgetrunken zu haben, die an den gelieferten fehlten, der aber auf eine Zwischenfrage vom Staatsanwalt auch zugestehen mußte, von Hanna, der er zuerst hierüber ein Geständnis gemacht hatte, dafür mit einem Geschenk von fünfzig Mark belohnt worden zu sein. Eine merkbare, der Angeklagten feindliche Bewegung entstand nach dieser Enthüllung unter den Zuhörern, und so bewirkte des Dieners Geständnis das Gegenteil von dem, was Hannas Freunde gehofft hatten.

Alles dies aber wurde vom Publikum rasch vergessen, als der Zeugenaufruf an Afra Baratta jetzt erging. Sie war fast ebenso bekannt und populär in der Stadt, wie Xaver Stieler es gewesen, der durch seinen Tod erst als ihr Mann enthüllt worden war. Mit einer leidenschaftlichen Hast, als wenn sie diesen Augenblick sehnsüchtig erwartet hätte, kam sie herein, weithin von ihren langen Trauerschleiern umwogt und umflogen, daß es den Anschein gewann, als wenn ein großer schwarzer Vogel in den Raum herein geflattert käme, der sich anscheinend am liebsten auf Hanna Rainer gestürzt hätte. Mit sicherem Blick hatte die Baratta sie sogleich aufgefunden und schoß noch ein paar Schritte weit über den Platz für die zu vernehmenden Zeugen hinaus auf sie zu, so daß Graf Hersberg unwillkürlich von der Zeugenbank aufsprang, um ihr den Weg zu verlegen. Aber schon war auch einer der Gerichtsdiener vorgetreten und wies ihr die Stelle, die sie einzunehmen hatte. Sie gehorchte mit ein paar halblaut gemurmelten Worten und stand nun hochaufgerichtet vor dem Gerichtshof, eine schwarze, finstere Gestalt vor den schwarzen, finsteren Gestalten am Richtertisch.

Eine Weile beherrschte sie die in ihr tobende Leidenschaft, als aber ihre Personalien festgestellt worden waren, und als der Vorsitzende sie mit beruhigender Freundlichkeit aufforderte, nun ihre Wahrnehmungen über etwaige Beziehungen zwischen ihrem Gatten und Hanna Rainer mitzuteilen, da hob sie den Körper zu voller, gespannter Größe, durchbohrte die Luft mit ihrer vorgeschnellten rechten Hand und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Hanna, während sie rief: »Alles, was ich zu sagen habe, liegt in den Worten: Da sitzt sie, die Mörderin meines Mannes!«

Eine Rüge des Vorsitzenden, der sachlich-ruhige Bekundung heischte, ging unter in der tumultuarischen Bewegung der durch diese Theaterszene furchtbar erschütterten, fieberhaft aufgeregten Zuhörer. Mochte kommen, was wollte, dieser Eindruck blieb. Gleich einer beleidigten Rachegöttin war die schwarze Frauengestalt vor sie hingetreten, gerechte Vergeltung fordernd für den Tod ihres gemordeten Gatten. Was an Sympathie für Hanna Rainer noch im Publikum vorhanden gewesen war, verflog und verwehte vor diesem unmittelbar mächtigen Eindruck. Hanna selbst hatte sich, als wenn ein Pfeil auf sie vom gespannten Bogen abgeschnellt worden wäre, rasch hintenüber an die Wand gelehnt und erwiderte mit starren, weitaufgerissenen Augen die Blicke der Feindin. Glaritz hatte die geballte Linke fest auf das Herz gepreßt.

Nachdem sie der Leidenschaft freien Lauf gelassen hatte, beruhigte sich die Baratta soweit, um die Fragen des Vorsitzenden sachlich zu beantworten. Sie verweilte mit besonderem Nachdruck auf der Begegnung mit Hanna Rainer in ihres Mannes Wohnung, unter der Behauptung, die beiden in zärtlicher Umarmung angetroffen und gesehen zu haben, wie sie voll Schrecken auseinandergefahren seien.

Auch als der Vorsitzende sie mahnend auf die maßgebende Bedeutung dieser Aussage noch einmal hinwies, als er die Merkwürdigkeit ihres langen Schweigens über den wichtigen Punkt noch einmal hervorhob, gab es für sie kein Zaudern und Ueberlegen; sie wiederholte die Worte des vorher abgelegten Eides mit wieder ausbrechender wilder Leidenschaft und rief mit hocherhobener Stimme: »So wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort, ich habe dies Weib in den Armen meines Mannes gesehen!«

Hannas Verteidiger sprang empor und protestierte gegen die weitere Vernehmung einer offenbar hysterisch überreizten, ihrer Sinne kaum noch mächtigen und offenbar an Theaterszenen gewöhnten Zeugin, aber seine Worte konnten den gewaltigen Eindruck ihres Auftretens auf die Hörer nicht abschwächen. Unter seiner Nachwirkung erschien es ihnen glaubhaft und wahrscheinlich, daß der in Stielers Tasche gefundene Brief Hannas mit seiner Ueberschrift »Geliebter« wirklich an ihn selbst gerichtet gewesen war, daß eine neue Leidenschaft sie veranlaßt hatte, ihren bisherigen Geliebten aus dem Wege zu räumen. Das Urteil der Angeklagten schien bereits gefällt nach dieser vernichtenden Aussage von den Lippen der Witwe des Ermordeten.

In der hierdurch aufgewühlten Erregung fanden die nächsten Gerichtsverhandlungen kaum Beachtung. Die Darlegungen Graberts über seine Beobachtung des Indiers, die Vernehmung des einen absonderlichen Lichtschein im Pavillon um halb acht Uhr bekundenden Schutzmanns Hensel, des Theaterdirektors, der über die Beziehungen zwischen Stieler und Amaru befragt wurde, die Feststellungen der Sachverständigen über das Ergebnis der Obduktion gingen fast ungehört vorüber. Nur Liselotte flüsterte bei Graberts Vernehmung ihrer Mutter zu: »Wenn der greuliche Mensch nur nicht so hübsch und so nett wäre!«

Gespannt horchte das Publikum erst wieder auf, als nach der Frage des Vorsitzenden, ob Hanna sich noch immer nicht eingehender äußern wolle zu der gegen sie erhobenen Anklage, sie wieder nur ihr stumpfes, mutloses »Nein« zur Antwort gab, und als darauf eine kleine, bewegte Zwischenszene folgte. Graf Stefan gab Hannas Verteidiger ein Zeichen, der dann für ihn das Wort noch einmal erbat. Und nun sprach Stefan in einer tiefen, von heißem Gefühl erfüllten Bewegung: »Ich kann dem Gericht erklären, was meine Braut, Fräulein Hanna Rainer, dazu veranlaßt hat, kein Wort für ihre Verteidigung zu sprechen. Sie schweigt im Gefühl ihrer Unschuld und wegen einer Schuld von mir. Meine Schuld, meine große, schwere Schuld war es, daß ich an meiner Braut gezweifelt habe. Das hat sie tödlich verletzt. Nun setzt sie diese starre Gleichgiltigkeit allem entgegen, was mit ihr geschieht. Aber ich zweifle trotz dieser grausamen Gerichtsverhandlung und ihrer scheinbaren Ergebnisse jetzt nicht mehr an ihrer Unschuld, ich kann ihr sagen, daß ich – –«

Hier unterbrach ihn der Vorsitzende: Graf Hersbergs Versuch, für die Braut einzutreten, sei vom menschlichen Standpunkt aus ehrenwert und schön, aber das Gericht müsse sich, wie schon einmal betont, an Tatsachen und nicht an Gefühle halten. Der Herr Staatsanwalt habe nunmehr das Wort.

Zorn und getäuschte Hoffnung in den Zügen, setzte Stefan sich nieder. Aber als er den Blick dann auf Hanna richtete, kam ihm von dort eine Freudenbotschaft. Wenn das Gericht seine Worte verwarf, er sah, für sie waren sie nicht umsonst gesprochen gewesen. Die gleichgiltige Schlaffheit war plötzlich von ihr abgefallen, sie hatte den Kopf stolz und fest erhoben, ein sanftes Erglühen der Freude war auf ihrem Gesichte. Mit heißem Glücksgefühl erblickte Stefan diese Zeichen, die wie das Wiederaufblühen einer verdursteten Blume waren, aber auch noch ein anderer sah die Verwandlung. Es war Glaritz, dessen Kraft und Fassung hinzuwelken schienen in gleichem Maße, wie die von Hanna neu erstarkten. Durch ein Beben wie vor Frost wurde sein Körper ein paarmal geschüttelt, er stützte den Kopf auf seine linke Hand, um ihn dann mit einer mechanischen, unbewußten Bewegung immerfort in ihr hin- und herzuschieben.

Der Staatsanwalt hielt eine Rede voll von hohem sittlichem Pathos. Er brandmarkte das unerhörte, mit seltenem Raffinement erdachte, mit gemeiner Tücke vollführte Verbrechen, dem ein in seiner Art großer, von allen geliebter und bewunderter Künstler zum Opfer gefallen sei. Der Anblick seiner tiefgebeugten Gattin hier in ihrer Trauerkleidung, die Spuren eines unauslöschlichen Schmerzes auf ihrem Gesichte müßten einen jeden im Innersten erschüttern, der noch menschliches Gefühl im Herzen trüge. So groß aber wie das Mitleid für die so schwer, man könne fast sagen: auch tötlich Getroffene sei der Abscheu vor der Täterin, der Schuldigen. Daß in der Angeklagten diese Schuldige zu erblicken sei, daran könne nur Blindheit oder Böswilligkeit im Geringsten zweifeln. Die Beweise gegen sie seien erdrückend, so sehr, daß er sich kurz fassen dürfe, wenn er sie noch einmal zusammenstelle, damit ihr ganzes Gewicht voll in die Wage der Gerechtigkeit falle.

Bei den letzten Worten hob er die Hand und wies auf das Wandbild über dem Richtertische, wo die blinde Justitia die Wage hielt, und ein leises Erschauern beleidigten Rechtsgefühls ging durch den Saal. Dann begann der Staatsanwalt seine Zusammenfassung aller Momente, die gegen Hanna zu sprechen schienen. Er ging aus von ihrem Besuch in Xaver Stielers Wohnung, – wie häufig mochte sie dort schon insgeheim gewesen sein! – wo sie von der Gattin des Künstlers in dessen Armen überrascht worden sei. Und nicht genug am Ehebruch, wozu sie den Vielumworbenen verführt habe, sie sei bereits mit ihrem schwarzen Plan in der Seele dorthin gekommen, um Stieler sicher zu machen, ihn zu sich zu locken dorthin, wo sicherer Tod auf ihn wartete. Während sie den einen so mit ihren Zärtlichkeiten umgarnte, verführte sie gleichzeitig einen anderen, ihr als Werkzeug für ihr Verbrechen zu dienen. Die Beziehungen zwischen Hanna Rainer und Amaru seien unzweifelhaft, er habe das Gift besessen, von ihm nur könne sie das Todesmittel bekommen haben.

»Dies alles in seiner gräßlichen Folgerichtigkeit berechtigt, nein, zwingt uns,« fuhr der Staatsanwalt mit erhobener Stimme fort, »voll tiefster sittlicher Empörung auszurufen, was die Gattin des grausam in seiner Blüte Hingemordeten vorhin beim Eintritt in diesen Saal, hingerissen von Schmerz, Verzweiflung und Empörung ausrufen mußte: ›Dort sitzt sie, die Mörderin!‹«

Er schwieg zur Erhöhung der Wirkung ein paar Sekunden, und in die tiefe Stille der allgemeinen Ergriffenheit klang ein leises Aufstöhnen hinein. Es kam aus Glaritz' Brust; er hatte die stützende Hand jetzt von seinem Kinn entfernt, machte damit eine sonderbare, suchende Bewegung auf seiner Brust und hob sie dann wieder bis an den Mund empor. Nun reckte der Staatsanwalt – er war ein wenig klein für eindrucksvolle, pathetische Reden – seine Figur mit aller Macht empor und rief: »Wenn man auch noch zweifeln wollte nach all' diesen Beweisen, man brauchte nur die beiden Gestalten auf der Anklagebank anzuschauen, um die Schuld abzulesen von ihren Gesichtern. Sehen Sie diesen Indier Amaru, der mit jeder Träne, die sein Gesicht überströmt, seine klägliche Widerstandslosigkeit einer stärkeren Verbrechernatur gegenüber beweint! Sehen Sie die Verbrecherin selber an, die verirrte, verlorene Tochter eines hochachtbaren Hauses, wie sie dasitzt, völlig zusammengebrochen unter der Last ihrer gräßlichen Schuld, gerichtet schon durch die noch nicht ganz erstorbene Stimme des Gewissens in ihrer Brust, bevor wir hier noch – –«

Mitten in seine Rede hinein klang ein jäher Laut wie von einem zu Tode getroffenen Tiere, dann ein Ruf, ein Schreien: »Es ist genug!«

Glaritz war es, von dem der Schrei gekommen war. Er stand aufrecht, mit weitausgestreckten, zuckenden Händen. »Schweigen Sie,« rief er mit greller, kreischender Stimme. »Sehen Sie hierher, – sehen Sie mich an. Ich – ich – ich habe Xaver Stieler vergiftet!«

Nur für einer Sekunde Dauer folgte der furchtbaren Selbstanklage die tiefe Stille höchster Betroffenheit. Gleich darauf aber ging es durch den Saal wie das Lärmen plötzlich ausbrechenden Gewittersturmes. Rufe der Wut, laut hinausgeschriene Flüche, Lachen, Weinen, Aufkreischen von Frauenstimmen, das Fallen umgeworfener Stühle, der dumpfe Laut vorwärtsdrängender Füße, das alles mischte sich zu wildem Durcheinander, dem Toben der entfesselten Elemente verwandt.

Aber auf einmal erstarb der Lärm wieder in gespanntem Aufhorchen, als Glaritz aufs neue seine Stimme gegen sich selbst erhob. »Hier sehen Sie den elenden, verworfenen, lächerlichen Mörder. Lächerlich, lächerlich, – einen Mörder aus Versehen, aus Irrtum, aus Verwechslung. Ich habe den Mann hier neben mir töten wollen, und habe seinen Bruder getötet.«

Er hatte die Hand, auf den Grafen Stefan weisend, erhoben, der – aufgesprungen gleich allen übrigen – jetzt neben ihm stand. Ein leiser Schrei von Hannas Lippen ging unter in einem neuen Ausbruch des Gewittersturmes im Saal, der ungehemmt jetzt eine Weile tobte, bis der Präsident gewaltsam Ruhe schuf.

Er selbst war zuerst wie versteinert gewesen von dem plötzlichen Geständnis, jetzt nahm er sein Amt energisch wieder auf und herrschte Glaritz an: »Wenn kein plötzlicher Wahnsinn Sie zum Reden treibt, beweisen, begründen Sie die Worte, die Sie gesprochen haben.«

»Ich habe kein größeres Verlangen als das. Es hat mich erwürgt und erstickt, seit ich hier sitze. Die Liebe zu Hanna Rainer hat mich toll gemacht. Ich hatte gehofft, sie zu besitzen, bis der Mann hier mir in den Weg trat. Ich mußte mit ansehen, wie sie mir entglitt mehr und mehr, und ich ertrug es nicht. Wenn Haß und Eifersucht wahnsinnig machen können, dann war ich wahnsinnig. Ein Zufall spielte mir das Gift in die Hand. Ich wurde zu dem Indier Amaru gerufen, – als Arzt, – er war krank. Er lag in hohem Fieber, in halber Bewußtlosigkeit. In einem Zustand, in dem er selbst nicht wußte, wovon er sprach, hat er mir von dem Gift erzählt. Er wollte sich töten damit, wenn er nicht wieder gesund werden könnte.«

Wie wenn ein Wehr vor einem gestauten Wasser aufgezogen wird, so gewaltsam waren Glaritz' Worte hervorgebrochen. Jetzt aber klang in sie hinein die laute Stimme des Indiers: »Ja, ja, nun es mir fällt wieder ein. Das ich haben gesagt, aber ich haben ganz vergessen, weil ich hatte gesprochen im Fieber.«

Glaritz hob die Hand, um dem anderen Schweigen zu gebieten. Seine Seele verlangte nach Offenbarung ihrer Schuld.

»Mir kam ein Gedanke, – halb war es Mord, halb Selbstmord, was ich dachte. Dem Kranken gab ich eine Morphiumeinspritzung, bald lag er in tiefem Schlaf. Da nahm ich mir von dem Gift. Und ich spielte weiter mit Mord und Selbstmord in meiner Seele. Noch war ich im Ungewissen, wie Graf Hersberg und Hanna miteinander standen. Da fand ich einen Brief. Er lag im Flur ihres Hauses auf dem Tische, wohin die Briefe gelegt wurden, die der Diener mitnehmen sollte. Graf Hersbergs Name stand auf dem Brief. Ich war allein, meine Verwandten waren ausgegangen. Ich konnte den Brief an mich nehmen, vorsichtig öffnen, lesen, wieder schließen und auf den Tisch zurücklegen. Was ich las, machte mich rasend. Ich sah, die beiden waren einig miteinander. Hanna bestellte den Grafen Stefan für einen der nächsten Abende zum Stelldichein in den Pavillon ihres Gartens. Nur von ihm war die Rede, nicht von seinem Bruder. Nur von Hanna, Stefan und ihrem Glück. Ich konnte das Wort nicht hören, es trieb mich zum Wahnsinn.«

Einen Augenblick schwieg er atemschöpfend, aber dann brach die Flut seiner Worte wieder los: »Als der Abend gekommen war, lag ich auf der Lauer an meinem Fenster, schaute nach dem Pavillon hinüber, lange schon vor der Zeit. Ich konnte von oben hineinsehen in den Pavillon, die Vorhänge waren zu der Zeit noch offen. Ich sah Hanna dort. Sie trug eine Weinflasche, setzte sie auf den Tisch. Ich sah nur die eine, – von der anderen, die sie wohl vorher schon in den Schrank in der Wand gestellt hatte, sah ich nichts. Dann zog sie den Vorhang am Fenster zu, löschte das Licht und ging wieder fort. In dem Augenblick entstand mein Plan, in wenigen Minuten war er ausgeführt. Ich schlich mich über die Straße hinüber in den Garten und in den Pavillon. Es war noch nicht ganz dunkel, ich konnte die Flasche dort auf dem Tische deutlich erkennen, auch die Sorte des Weines. Die Flasche war schon geöffnet, ich brauchte nur von dem Gift hineinzuschütten. Ungesehen kam ich in meine Wohnung zurück, legte mich wieder auf die Lauer. Kurz vor halb sieben wurde wieder Licht gemacht im Pavillon, gleich darauf erschien eine Männergestalt auf der Straße, wurde von Hanna, deren Gestalt ich auch undeutlich erkannte, hineingelassen in den Garten. Ich hielt meinen Plan für gelungen, fühlte keine Furcht, keine Reue. Hanna trank niemals einen Tropfen Wein, ihr konnte nichts geschehen. Mich selbst hielt ich für völlig sicher. Wer sollte von diesem fremden Gifte wissen, wer auf den Gedanken daran kommen?«

»Trotzdem ist es geschehen,« rief der Vorsitzende mit erhobener, mächtiger Stimme. »Gottes Gericht geht sicherer als Menschengericht. Von ihm sind Sie getroffen und niedergeworfen worden.«

»Ein Gottesgericht, – es mag sein. Jener Abend hat für mich den Beginn der Höllenqualen bedeutet. Es machte mich schon verwirrt, als ich eine Frau der Männergestalt auf der Straße nachfolgen und hinüberdrohen sah zum Pavillon. Aber ich ahnte nicht, wer es war, und ging eilig daran, die Spuren meiner Tat fortzuschaffen, als der Pavillon wieder dunkel und leer war. Ich schlich mich noch einmal hinüber, leuchtete mir drinnen mit meiner Taschenlampe. Von dem Wein war ein Glas getrunken worden. Ich hatte mir dieselbe Sorte gehalten, die mein Onkel trank, und eine frische Flasche davon mit hinübergenommen, um sie zu vertauschen gegen die vergiftete. Das benutzte Weinglas wurde von mir ausgespült mit reinem Wein und ausgewischt mit einem Papier, das am Boden lag. So war es vollbracht. Aber draußen geschah mir ein Unglück. Die vergiftete Flasche fiel mir aus der Hand und ging in Scherben. In meinem Schrecken schob ich sie zunächst in das dichte Gesträuch beim Pavillon, ebenso das Papier. Dabei muß der Flaschenboden in den Lichtschacht gefallen sein. Dann schien mir der Versteck nicht sicher genug, ich kniete nieder und suchte die Scherben im Dunkeln wieder zusammen, trug sie hinterher über die Straße hinüber und in den Fluß.«

»Also Sie waren der Mann, der auf dem dunklen Wege von unserer Zeugin gesehen worden ist.«

Ohne die Worte des Vorsitzenden zu beachten, sprach Glaritz weiter. »Dann das Theater. Oben in der Loge saß Hanna. Meine Blicke wollten von dieser Stelle nicht fort. Kam er auch, – und wenn er kam, zeigten sich an ihm schon die Spuren des Giftes? Ich saß und wartete, wartete. Dann kam er wirklich, anscheinend frisch und gesund. Nun trat sein Bruder auf, und je länger er auf der Bühne stand, umso mehr erschienen an ihm die Zeichen der Vergiftung, die meine Blicke vergeblich am Grafen Stefan suchten. Unklar, unfaßbar noch ging ein geheimer Zusammenhang mir auf. Eine Wahnsinnsangst, Verzweiflung, Wut rissen an meinem Herzen. Xaver Stieler sank um und starb, und ich wußte, daß ich diesen Menschen, den ich nicht kannte, der mir niemals ein Leid getan hatte, wider Willen vergiftet hatte. Jawohl, es war eine tolle, tolle Tragikomödie!«

Wildes, wahnsinniges Lachen kam von seinen Lippen, und wie das Echo dem Schall, so gab ein anderes, gleich wahnsinniges Lachen ihm Antwort. Es brach aus Afra Barattas Brust hervor, verwandelte sich in Weinen, in Schreien, durchbebte den Körper mit erschütternder Gewalt und ließ ihn zuletzt in Zuckungen zu Boden stürzen.

Zwei von den anwesenden Aerzten und Personal des Gerichtes eilten herbei, zogen die Tobende vom Boden empor und brachten sie fort aus dem Saal.

Im Hinausgehen sagte der eine der Sachverständigen zum anderen: »Unglaublich, daß man diese kranke Person überhaupt hat schwören lassen.«

Als drinnen im Saal der neue Sturm von Aufregung sich etwas beruhigt hatte, sagte der Vorsitzende zu Glaritz: »Beenden Sie nun Ihr furchtbares Geständnis.«

»Halb noch mich selbst belügend, gab ich mein Gutachten ab auf Tod infolge von Herzschlag. Aber da, – jawohl, da brach das Gottesgericht herein, von dem Sie gesprochen haben. Der einzige Mann, der außer dem Indier und mir in dieser Stadt von dem fremden Gift und seinen Wirkungen wußte, war im Theater gewesen, stand jetzt neben mir auf der Bühne. Das Gift wurde festgestellt, alle die Schrecklichkeiten dieses Prozesses nahmen ihren Anfang. Ich konnte nichts tun, als den Verdacht ablenken von Hanna – das war mein Hauptbestreben – und hinlenken auf den Mann, den ich hatte töten wollen. Ich ging zum Pavillon, ich holte die Scherbe, das Papier, trug sie zum Gericht, um den Grafen Stefan zu verderben. Aber alles ist mir fehlgeschlagen, alles hat sich gegen mich gekehrt. Ich habe miterleben müssen, daß man Hanna verhaftete, sie hierher vor Gericht schleppte. Wenn ich noch versucht habe, dies furchtbare Schauspiel mitanzusehen, so tat ich es, weil ich hoffte, sie würde freigesprochen werden. Aber weil ich – ich das hoffte, darum hat sich auch hier alles für sie zum Bösen gekehrt, bis ich es nicht mehr ansehen, hören, ertragen konnte. Nun ist es gesagt, und ich will zur Ruhe gehen.«

»Mit Ihrem Wollen ist es vorbei,« rief der Präsident ihm zu. »Jetzt gehören Sie uns.«

»Nein, einem anderen, der mächtiger ist als Gericht und Gesetz: dem Tod. Ich trage den Tod in mir. Das Gift, womit ich getötet habe, tötet jetzt mich. Genug dafür behielt ich weise zurück, es übt nun seine Wirkung bereits an mir. Ein Gegenmittel gegen dieses Gift gibt es nicht, Ihrer Macht bin ich entzogen.«

»Aber ein Höherer wird Sie richten,« rief der Präsident. Gleichzeitig gab er zwei Schutzleuten einen Wink; sie nahmen Glaritz in ihre Mitte, führten ihn fort aus dem Saal. Er warf einen Blick noch zurück auf die Frau, die sein Verhängnis geworden war, dann ging er hinaus mit niedersinkendem Kopf, offenbar unempfindlich für den im Saale wieder ausgebrochenen Tumult. Rufe, Pfiffe, Flüche gegen den Verbrecher schrillten durch den Raum, es kostete Mühe, die wütend Heranstürmenden von ihm fern zu halten.

Jetzt aber war er verschwunden, und nun veränderten sich plötzlich Stimmung und Bild. Freudenjubel trat an die Stelle von Empörung und Entsetzen. Alles drängte heran, die Gerettete, Befreite zu beglückwünschen, zu begrüßen. Rascher aber als alle die anderen stand Stefan vor ihr, streckte die Hände bittend und sehnsuchtsvoll nach ihr aus und sagte leise mit einer Stimme, die Reue, Demut, Hoffnung bebend in sich faßte: »Verzeihung, Hanna, – Verzeihung, Vergebung!«

Und sie faßte seine Hände, zog ihn an sich und rief: »Stefan, – dich hat er morden wollen. Gott sei Dank, daß du lebst!«

Wie durch goldhelle Wolken sahen die Neuvereinten die Menschen, die sich glückwünschend um sie drängten, wie von ferner, heiterer Musik begleitet hörten sie die Worte der kleinen Liselotte, die zwischen Lachen und Weinen jubelnd rief: »Meine gute, gute Hanna, – wie glücklich, glücklich bin ich über dich!« Auch der Präsident kam heran und sprach freundliche Worte der Teilnahme, der Entschuldigung. Der Staatsanwalt ging still, mit seinen Akten unter dem Arm, hinaus.

Dann zog Stefan seine Braut leise mit sich fort, von einem freiwilligen Gefolge froher, aufgeregter Menschen begleitet. Langsam leerte sich der Saal, die herbe Spätherbstluft umspielte mit beruhigender Frische die glühenden Köpfe, die heißen Wangen. Liselotte war eben bis an die Türe gelangt, während ihre Mutter mit Hannas Vater voranging, als ein schlanker Herr mit freundlichem Gruße vor sie hintrat. Gleich war sie nun wieder kampfbereit und richtete die kleine Figur hoch auf.

»Sie sind es, Herr Detektiv? Ja, woher nehmen Sie denn den Mut, Sie gräßlicher, gräßlicher Mensch, sich überhaupt noch vor mir sehen zu lassen?«

»Das weiß ich selber nicht. Aber ich muß Ihnen etwas noch sagen, bevor ich für immer verschwinde. Daß ich nämlich nicht länger Detektiv bleiben werde.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Der heutige Tag hat mir den Geschmack an dem Berufe gründlich verdorben. Ich wäre um ein Haar an einem Justizmord mitschuldig geworden, da spiel' ich nicht mehr mit. Mag Verbrecher fangen, wer will, – es gibt hübschere Tätigkeiten. Wer arbeiten mag, – und ich habe gar nichts gegen das Arbeiten einzuwenden, – findet auch schon einen Platz, wo man ihn braucht.«

»Sehen Sie, das gefällt mir. Da kann ich Ihnen doch vielleicht noch wieder einigermaßen gut werden.«

»Das ist herrlich. Nur um eins tut es mir leid.«

»Um was?«

»Wir hatten doch einmal von einem Kompagniegeschäft gesprochen. Das geht jetzt nicht mehr. Schade.«

»Schade, – ja.«

»Wenigstens nicht als Detektive.«

»Nein, – wenigstens nicht als Detektive.«

»Aber ich meine, bevor wir das Geschäft ganz liquidieren, könnten wir doch noch zusammen eine letzte Detektivtätigkeit unternehmen.«

»Wozu denn?«

»Ich möchte so furchtbar gern etwas erforschen.«

»Wieder ein Verbrechen?«

»Oh nein, – durchaus nichts Verbrecherisches.«

»Ja, was denn?«

»Ihr Herz, Fräulein Liselotte.«

»Ach, – mein Herz?«

»Jawohl, ich wüßte nichts auf der Welt lieber, als ob dies kleine Herz ein wenig, – es darf aber auch mehr sein – ein wenig Zuneigung für einen gewissen Menschen fühlt.«

»Für einen gewissen?«

»Ja, der mir ziemlich ähnlich sieht.«

»Ich glaube,« – sie sprach jetzt leise, vor sich niederblickend, – »wir brauchen dafür keinen Detektiv mehr.«

»Nein, – wahrhaftig nicht? Hurra, dann bin ich der glücklichste Mensch unter der Sonne. Liselotte, – nicht wahr, ich darf doch jetzt meine Liselotte sagen?«

Sie nickte mit einem kleinen, reizenden Lächeln. »Ich erlaube es dir schon.«

»Ach, jetzt hab' ich ein Ziel!« rief er in hellem Jubel, »jetzt will ich mir schon einen Platz verschaffen im Leben. Ich will arbeiten, arbeiten – –«

»Aber nicht gar zu viel. Erst wollen wir doch etwas von einander haben. Und – unter uns gesagt – meiner Mutter Schwiegersohn braucht gar nicht so furchtbar viel zu arbeiten.«

 

Ende

 


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