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Neuntes Kapitel

Wortlos bewegte sich der kleine Zug durch den Garten. Der Lichtkegel, der aus der Lampe strahlend hervorkam, glitt über den Kies der Wege, das Grün des Rasens, das Laub des Gesträuchs dahin, holte sie für einen Augenblick aus der toten Dunkelheit hervor und ließ die rasch Auferweckten ebenso schnell wieder zurücksinken in das Grab der nächtlichen Finsternis, die dem geblendeten Auge jetzt noch um vieles tiefer schien. Am Wegesende kam zuletzt aus ihr der Pavillon hervor, ein heller Bau mit bescheidenem Barockornament an den Wänden und weit vorspringendem Dach, das den Boden um das kleine Gebäude her vor dem Regen schützte.

Der Kommerzienrat öffnete die Tür, sie war unverschlossen. Unter seiner Hand flammte das Licht im Innern auf; es floß aus ein paar zierlichen Glasblumen unter der Decke mit sanfter Helle von oben herab in den Raum. Ein kleines Fenster war in der Seitenwand rechts von der Tür; es ging in den Garten hinaus und war, gleich dem größeren Fenster nach der Straßenseite hin, durch einen zugezogenen weißlich-gelben Vorhang dicht verschlossen.

»Da steht ja, was wir suchen,« sagte Germelmann, der schnell an einen runden, von vier Stühlen umgebenen Tisch in der Mitte des Raumes getreten war. Dort stand in der Tat auf silbernem Tablett eine geöffnete Rotweinflasche, die noch bis weit hinauf gefüllt war, daneben vor zweien der Stühle zwei weiße Gläser, das eine mit Spuren von Wein auf dem Boden, das andere scheinbar unbenutzt.

»Burgunder,« sagte Germelmann, die Flasche hochhebend und betrachtend. »Sie pflegten diesen Wein zu trinken, Herr Kommerzienrat?«

»Allerdings, es ist mein Lieblingswein. Ich hatte gerade gestern eine neue Sendung davon bekommen.«

Der Untersuchungsrichter nahm den Kork mit silbernem Knopfe von der Flasche, roch an dem Inhalt, setzte sie dann wieder hin. Mit einer schnellen Bewegung ergriff er das anscheinend unbenutzte Glas, hob es empor und hielt es gegen das Licht.

»Ein paar Umstände müssen Sie mir noch erklären, die mir auffallen, gnädiges Fräulein. Wir haben hier zwei Gläser, doch ist offenbar nur das eine davon benutzt oder das andere nach der Benutzung wieder gereinigt worden. Wie können Sie mir das erklären?«

Der leichte Schatten eines Lächelns ging über Hannas Gesicht. »Sehr einfach. Ich trinke selbst niemals Wein, habe das andere Glas deshalb nur der gastlicheren Form wegen hingestellt.«

»Ich kann das bezeugen,« fügte Rainer schnell hinzu. »Wenigstens die Tatsache, daß meine Tochter keinen Wein trinkt. Sie hat seit ihrer Kindheit einen Widerwillen dagegen gehabt.«

»Gut, somit bliebe dies Glas außer Frage. Dagegen fällt mir noch etwas anderes auf. Der Graf Stefan Hersberg wurde ja doch auch erwartet. Warum haben Sie, gnädiges Fräulein, kein Glas für ihn mit hingestellt? Oder war dies leer gebliebene für ihn bestimmt?«

»Nein.« Hanna schüttelte den Kopf und ging rasch nach der fensterlosen Wand auf der linken Seite, wo sich ein kleiner, eichenbrauner Wandschrank von der mit weißem Stuck leuchtenden Mauer abhob. Seine Tür öffnend machte sie den Blick auf eine darin stehende schlankhalsige Weißweinflasche mit einem hellgrünen Glase daneben frei.

»Graf Stefan trank immer nur Weißwein,« sagte Hanna.

Der Amtsgerichtsrat holte beides hervor, murmelte lesend: »Liebfrauenmilch« und hob auch dieses Glas gegen das Licht, um es dann mit einem Achselzucken auf den Tisch zu stellen. »Die Flasche hier ist anscheinend überhaupt nicht geöffnet worden, das Glas unbenutzt. Immerhin muß ich Sie bitten, Herr Kommissar, beide Flaschen und beide Gläser mit sich zu nehmen zur Untersuchung.«

»Zur Untersuchung?« rief der Kommerzienrat, und sein volles Gesicht wurde noch um ein paar Töne röter. »Sie wollen doch nicht behaupten – –?«

»Ich will nur meine Pflicht erfüllen, weiter nichts. Und Sie werden die Notwendigkeit meines Handelns verstehen, wenn ich Sie darauf hinweise, daß Xaver Stieler vergiftet worden ist und ein paar Stunden vor seinem Tode hier ein Glas Wein getrunken hat; somit muß unter allen Umständen dies von ihm benützte Glas untersucht werden, ebenso die zugehörige Flasche. Gestatten Sie mir aber zunächst noch eine Frage: wurde dieser Pavillon hier verschlossen gehalten oder nicht?«

»Nein, er war immer offen, bei Tag und bei Nacht.«

»Haben Sie, gnädiges Fräulein, etwa gestern die Tür verschlossen? Sie haben doch den Wein schon vor Abend hierher gebracht. Immerhin war dies Tablett ein Gegenstand von Wert – –«

»Nein. Der Gedanke daran ist mir überhaupt nicht gekommen.«

»Bitte, sagen Sie mir noch genau die Zeit, wann Sie die Sachen hierher getragen haben.«

»Es war gleich, nachdem ich von der ›Salome‹-Probe nach Hause gekommen war. Ungefähr um halb sechs muß es gewesen sein.«

»Und wann war die Begegnung mit Xaver Stieler?«

»Um halb sieben. Er kam pünktlich auf die Minute.«

»Demnach hat also der Wein hier ungefähr eine Stunde lang unbeaufsichtigt gestanden, bevor der Besucher kam?«

»Gewiß.«

»Und ebenso war der Pavillon nach dem Abschluß Ihres Gespräches mit Xaver Stieler für jedermann zugänglich?«

»Doch nur für jemanden, der sich im Garten befand.«

»Gewiß. Aber der Garten hat eine Pforte nach der Straße dahinter, nicht wahr? Wurde sie verschlossen gehalten oder nicht?«

»Nur bei Nacht. Gegen zehn Uhr hatte sie der Gärtner abzuschließen.«

»So war es also gestern am Nachmittag bis um halb sieben und am Abend von halb acht Uhr an, – so lange hat Ihr Gespräch doch wohl gedauert?«

»Nicht ganz, aber beinahe.«

»Sagen wir also von ein Viertel auf acht bis gegen zehn und ebenso heute den ganzen Tag über war es möglich, daß irgend jemand in den Pavillon eindrang und sich an dem Wein zu schaffen machte?«

»Heute?« fragte Rainer, dessen Gesicht sich aufgehellt hatte, seit er den Untersuchungsrichter diesen Gedankenweg einschlagen sah. »Xaver Stieler ist ja doch gestern schon gestorben. Was könnte der heutige Tag damit noch zu schaffen haben?«

»Die Spuren von einem Verbrechen zu beseitigen, ist für den Täter ebenso wichtig wie die Vorbereitung. Ich fragte das alles aber nur, um ein vollkommen klares Bild von der Sachlage zu haben.«

Germelmann ließ die Blicke noch einmal prüfend und suchend über den Raum dahin gehen, um sie dann mit schneller Wendung des Kopfes wieder auf Hanna zu heften.

»Sie sagten doch, gnädiges Fräulein, der Graf Stefan sei gestern hier gewesen, um Ihnen seine wahrscheinliche Verhinderung für die geplante Zusammenkunft anzukündigen. Sie gaben die Zeit seines Hierseins auf kurz vor sechs Uhr an. Er traf Sie demnach nicht mehr im Pavillon, sondern im Hause.«

»Jawohl, im Hause.«

Stirn und Augenbrauen des Fragenden zogen sich scharf zusammen, so daß ein finsterer, drohender Ausdruck in sein meist so freundliches Gesicht kam. »Können Sie mir sagen, ob er das Haus durch den Haupteingang betrat oder ob er durch den Garten gekommen ist?«

»Ich weiß es nicht. Meistens ging er durch den Garten, weil ihm das von seiner Wohnung aus näher und bequemer war.«

»So.« Kurz und hart, wie der Klang eines einschnappenden Schlosses war der dieses Wortes. Nach einem augenblicklichen Schweigen setzte Germelmann hinzu: »Graf Stefan Hersberg war also vermutlich hier im Garten zu der Zeit, als der Pavillon unbeaufsichtigt war.«

Verständnislos blickte Hanna zuerst auf den Untersuchungsrichter. Dann aber packte sie plötzlich ein jähes Entsetzen. Sie versuchte zu sprechen, öffnete den Mund, aber die Lippen gehorchten ihr nicht, sie blieb stumm und stand so vor dem Richter, von fassungslosem Grausen gelähmt.

Er sah den bedeutsamen Ausdruck auf ihrem Gesicht und hob mit leiser Beruhigung die Hand.

»Ich muß immer wiederholen, gnädiges Fräulein, ich stelle nur Tatsachen fest. Alles andere muß die Zukunft lehren. Und ich glaube, daß ich Sie für heute nicht mehr zu belästigen brauche.«

Hanna blieb auch jetzt noch stumm, der Kommerzienrat entzündete seine Taschenlampe wieder, um den beiden unwillkommenen Besuchern durch den Garten zu leuchten. Bauer hatte die Gläser und Flaschen inzwischen bereits in einem großen Papier geborgen, das er aus der Tasche zog, und wandte sich nun gleich Germelmann zur Tür.

Beinahe hatten die Herren sie schon erreicht, als eine leise, heisere Stimme sie wieder Halt machen ließ.

»Herr Amtsgerichtsrat!«

Es war Glaritz, der gesprochen hatte. Schwer atmend stand er neben dem Tische; das von oben schräg auf ihn fallende Licht ließ durch tiefe Schatten in den Augenhöhlen sein Gesicht noch geheimnis- und schmerzvoller wirken als gewöhnlich.

»Sie haben mir auch etwas mitzuteilen?«

Glaritz holte wieder tief Atem. »Ja, – so schwer es mir wird. Ich möchte nicht gern jemanden verdächtigen, aber ich fürchte, daß ich es tue, wenn ich spreche.«

»Das darf Sie nicht abhalten, reden Sie.«

»Graf Stefan Hersberg ist gestern am Nachmittag hier im Garten gewesen, das wissen Sie. Diesem Hiersein ist aber noch ein zweites gefolgt.«

»Ein zweites?«

»Jawohl. Der Graf ist gestern abend kurz vor acht Uhr noch einmal hier gewesen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich wohne hier ganz in der Nähe. Die Fenster meiner Wohnung, die sich an der Straße hinter diesem Garten befindet, liegen im ersten Stockwerk des Hauses fast genau dem Pavillon gegenüber. Wenn die Vorhänge nicht geschlossen sind, kann ich von oben in diesen Raum hineinsehen.«

»Aber sie waren gestern geschlossen.«

»Allerdings. Ich habe den Grafen Stefan Hersberg auch nur auf der Straße gesehen.«

»Von Ihrem Fenster aus?«

»Jawohl. Es war Zeit für mich, ins Theater zu gehen zu meinem Dienst, und ich hatte das Licht im Zimmer schon gelöscht. Aber ich trat noch einmal ans Fenster, um zu sehen, ob das Wetter sich nicht geändert hätte. Dabei fiel mein Blick auf die Gestalt eines Herrn. Er stand mitten auf dem Fahrdamm, so daß kein Schatten von den Bäumen ihn traf, und schaute zu dem Fenster dieses Pavillons hinüber. Ich erkannte den Grafen ganz deutlich. Gleich darauf ging er fort.«

»Wohin ging er?«

Ein Zaudern, kürzer als ein Atemholen, ein Blick auf Hanna, dann sprach Glaritz weiter. »Zur Pforte dieses Gartens und in den Garten hinein.«

Ein dumpfer Laut kam aus Hannas Brust; er klang mehr nach Zorn als nach Angst. Aber die leise, von Erregung heisere Stimme sprach weiter.

»Graf Stefan ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier im Pavillon gewesen.«

»Wahrhaftig?«

»Wenigstens wurde ganz kurz nach seinem Eintritt in den Garten das Fenster dort hell, es war Licht gemacht worden in diesem Raum. Auch der Schatten einer männlichen Figur glitt einmal an dem Vorhang vorüber. Ob es der des Grafen gewesen ist, kann ich natürlich nicht behaupten, aber die Vermutung liegt nahe.«

»Selbstverständlich. Wie lange blieb er hier im Pavillon?«

»Ganz kurze Zeit nur. Dann erlosch das Licht.«

»Kam er wieder auf die Straße hinaus?«

»Nein. Soviel ich gesehen habe, nicht. Ich blieb noch einen Augenblick am Fenster stehen, mußte dann aber fort und ging aus dem Hause.«

»Es ist sehr interessant, Herr Doktor, sehr bemerkenswert, was der Zufall Sie da hat beobachten lassen. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Mitteilung, – und ich freue mich darüber auch in Ihrem Interesse, gnädiges Fräulein.«

Hanna schien seine Worte kaum zu hören und erwiderte nur mechanisch in halber Geistesabwesenheit seinen Gruß, womit er Abschied nahm. Als aber die beiden Herren mit ihrem Vater den Pavillon verlassen hatten, da fühlte Glaritz, der ihnen folgen wollte, sich plötzlich am Arm ergriffen, und ein hartes, befehlendes »Bleib!« klang an sein Ohr. Hanna stand neben ihm, ein wildes, funkensprühendes Feuer war in ihren Augen. Und bevor er noch etwas erwidern konnte, sprach sie weiter auf ihn ein mit einem dumpfen Grollen in ihrer Stimme, das an fernen Donner gemahnte.

»Du mußt es hören: Daß du das gesagt hast, war gemein. Du konntest schweigen, dich hatte niemand gefragt. Und es mußte dir so deutlich sein wie mir, daß du Stefan durch deine Worte verdächtigtest.«

»Mein Gewissen, Hanna – – –«

»Dein Gewissen! Du hast es nur deshalb getan, weil er dir im Wege steht! Jawohl, ich weiß ganz genau, was der Zweck war von deinen Worten. Du wolltest mich Stefan damit entfremden. Selbstsucht, Neid, Haß und Eifersucht allein haben dich regiert, als du sprachest.«

»Eifersucht, – Hanna! Wenn du davon sprichst, – – du weißt also, – – du weißt also, daß ich dich liebe, wenn du von Eifersucht redest?«

Sein Atem flog, seine Nasenflügel bebten, der ganze Mensch war ein Bild von angstvoll-verzweifelter Spannung.

»Ich bin ja nicht blind. Aber wenn ich sonst ein Gefühl von Trauer und Mitleid hatte, wenn ich deine vergebliche Liebe sah, – vergeblich für immer, das vergiß niemals! – du hast heute dies Gefühl getötet in meinem Herzen.«

»Du liebst ihn, – du liebst ihn!« Schreiend beinahe rief er die Worte, die den Tod seiner Hoffnung bedeuteten.

»Jawohl, ich liebe Stefan. Er ist mein Glück, meine Zukunft, mein Alles. Er ist mir mehr wert, als mein eigenes Leben. Ich könnte für ihn sündigen und sterben. Wer ihn verfolgt, sagt sich von mir los für immer. Sein Feind ist mein Feind, und es gibt bei mir für ihn kein Erbarmen und keine Verzeihung.«

Wie gepackt und fortgerissen von einem gewaltigen Sturm, von diesem aus ihr selbst hervorbrechenden Sturmwind ihrer Leidenschaft stürzte sie hinaus. Glaritz blieb allein zurück, bebend, wie von Fieberschauern geschüttelt, und starrte dorthin, wo sie noch eben gestanden hatte, drohend und gewaltig in ihrem Zorn, aber mit ihren blitzesprühenden Augen so schön in diesem Zorn, wie noch nie zuvor.


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