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Siebentes Kapitel

Hanna Rainer war allein in ihrem Zimmer. Es war ein Raum, der mit seinen ruhigen, dunklen Tönen der Möbel, der Tapete, der Stoffe behagliche, gesammelte Ruhe zu atmen schien, dessen Wirkung aber offenbar heute machtlos war auf die Bewohnerin. Sie hatte zu lesen versucht, jedoch das Buch sinken lassen und fortgelegt, weil sie fühlte, daß die Worte darin ungesehen und unverstanden an ihr vorüberglitten. Dann war sie mit einer schnellen, energischen Bewegung aufgestanden und hatte begonnen, gesenkten Blickes im Zimmer auf und nieder zu gehen. Das dauerte nun schon eine Viertelstunde lang, die nachmittägliche Herbstsonne, die zuerst noch schräg in das große Fenster hereingeschaut hatte, war weiter gewandert und hatte die tiefen Farben des Raumes durch ihr Scheiden plötzlich düsterer werden lassen, und immer noch bewegte sich die hohe Frauengestalt unablässig lautlos auf dem dicken, jeden Ton aufsaugenden Teppich hin und her.

Sie fuhr zusammen, als ein leises Klopfen an der Tür erklang; so sehr war sie vertieft gewesen in ihre Gedanken. Ruf ihr »Herein« erschien der Diener und meldete: »Herr Doktor Glaritz fragt nach dem gnädigen Fräulein.«

»In den kleinen Salon. Ich komme sofort.« Bei dem Namen, der gemeldet wurde, war ein leiser Schatten über ihr Gesicht geglitten, aber dann schnell – durch einen anderen Gedanken scheinbar vertrieben – wieder verschwunden. Jetzt war nur noch scharfe Spannung in ihren Zügen, in dem erwartungsvollen Zusammenziehen ihrer dunklen Augenbrauen.

Rasch ging sie hinaus und über den hellen Flur in den kleinen Salon, von dem sie gesprochen hatte. Hier war im Gegensatze zu Hannas eigenem Zimmer alles in einem lichten, freundlichen Blau gehalten, das in seinem Ton dem reinen Sommerhimmel verwandt war. Umso finsterer trat in dieser freundlichen Umgebung eine dunkle Gestalt hervor, die bisher am Fenster gestanden hatte, jetzt aber sich rasch umwendend auf die Hereingekommene zuging.

Lebhaft ergriff Hanna des Mannes dargebotene Hand. »Es ist schön, daß du zeitiger kommst als die anderen. Ich freue mich, daß du da bist.«

Ihre rasch gesprochenen Worte wirkten auf sein bleiches, düsteres Gesicht, als wenn sie den Schein eines hellen Lichtes darauf hätten fallen lassen. In seinen Augen, in seinem Lächeln war plötzlich ein aufleuchtender Glanz, der einen Widerschein auf den ganzen Menschen zu breiten schien. Aber dies war an ihm das einzig Helle. Schwarz und finster stand seine Gestalt vor Hanna, nur im Schnitt ihrer modernen Gesellschaftskleidung vom Geisterfürsten Hans Heiling unterschieden, mit dem die kleine Liselotte Hell den Doktor Glaritz verglichen hatte. Blick und Ausdruck waren von der gleichen sehnsuchtsvollen Schwermut wie die jenes vergeblich um Erdenliebe ringenden, in Menschengestalt leidenden Geistes, und nur Hannas freundliche Begrüßung ließ für einen Augenblick das helle Freudenlicht in seinen Zügen aufleuchten.

Und rasch verlosch der flüchtige Glanz wieder vor Hannas nächsten Worten. »Ich hatte gehofft,« sagte sie schnell, »du kämest schon heute morgen, Vetter, ich wollte so gern von dir Näheres hören über den Tod von Xaver Stieler. Du warst ja doch auf der Bühne gestern abend, Haft alles aus nächster Nähe mit erlebt.«

Jetzt war Glaritz' Gesicht wieder so finster und farblos wie der ganze Mensch. Indem er mit halbgeschlossenen Augen und fest aufeinandergepreßten Lippen eine Sekunde lang schweigend ihr gegenüber stand, war es, als wenn er einen plötzlichen Schmerz mühsam hinunterzwingen müßte. Seine Stimme war kalt und hart, mit einem Anflug von Hohn, als er dann sprach.

»So, darum? Freilich, – dieser Xaver Stieler war ja der Bruder von Graf Stefan Hersberg.«

»Du weißt – –?«

»Jawohl, ich hörte gestern abend schon auf der Bühne diese große Neuigkeit, von der außerdem heute die Zeitungen voll sind. Ich muß dir mein Kompliment machen, Hanna, du bist eine große Schweigerin und hast wundervoll Komödie gespielt für deinen Freund.«

Auch ihr Gesicht verfinsterte sich. Mit einer stolzen, kurzen Bewegung warf sie den Kopf zurück. »Ich war gebeten worden, zu schweigen, und ich habe geschwiegen.«

»Sehr diskret, in der Tat.«

»Ach, laß doch das ruhen. Es gibt sehr viel wichtigere Dinge. Berichte mir von gestern abend, von dem so plötzlich Gestorbenen. Du hast ihn doch wohl schon früher persönlich gekannt von deiner ärztlichen Tätigkeit her?«

»Nein, er war niemals krank.«

»War er noch fähig zu sprechen, als du gestern auf die Bühne kamst? Man hat mir gesagt, – ich habe gehört, er sei vergiftet worden. Weiß man das wirklich gewiß?«

»Die Sache scheint sicher. Sie bedeutet für meinen Ruf als Arzt allerdings eine Blamage. Meine Diagnose ging dahin, daß Xaver Stieler an einem Schlaganfall gestorben wäre. Der kluge Herr Kollege, der zuerst von einer Vergiftung sprach, scheint aber doch im Rechte zu sein. Die Leichenuntersuchung soll ein indisches Gift, von dem ich wohl einmal gelesen hatte, dessen Wirkung mir aber hier in Deutschland nie vorgekommen war, zweifellos festgestellt haben.«

»Hat man keinen Verdacht?«

»Meines Wissens noch nicht. Ich habe den Untersuchungsrichter bisher nicht gesprochen.«

Glaritz hatte seine Darlegungen mit einer knappen, trockenen Sachlichkeit gemacht; nun schwieg er und sah mit Blicken, in denen ein verzehrendes Feuer brannte, auf Hanna. Doch hatte sie dafür keine Augen; sie schaute zu Boden und begann ihr stummes, nachdenkliches Hin- und Hergehen auch hier aufs neue.

Da sie dauernd schwieg, fing er wieder an zu sprechen. »Es ist mir natürlich nicht angenehm, daß ich mich geirrt habe. Doch solche Dinge können dem besten Arzt passieren. Ich war ja niemals in Indien, wie zufällig der Herr Kollege. Woher sollten mir die Symptome solch einer Vergiftung bekannt sein?«

Hanna bewegte Kopf und Oberkörper ungeduldig hin und her. »Deshalb reg' dich nicht auf. Xaver Stielers Tod an sich beschäftigt alle Menschen so sehr, daß diese Nebensachen dagegen verschwinden.«

Sie verstummte plötzlich. Die Tür zum Nebenzimmer war geöffnet worden und ein grauhaariger Herr mit einem klugen Kaufmannsgesicht, mit rasch und sorgsam beobachtenden Blicken und fest aufeinandergepreßten Lippen war hereingetreten.

»Du Vater?« fragte Hanna, sich nach ihm hinwendend.

»Ja, Kind, bewundere mich einmal. Ich habe mich tatsächlich für euch freigemacht. Es kommen doch auch wirklich nur Hells?«

»Nur Hells, gewiß.«

»Und hier unser Heinz natürlich?«

»Gewiß, auch Vetter Glaritz.«

Er klopfte den Arzt freundlich auf die Schulter. »Daß du schon vor der Zeit gekommen bist, ist nett von dir, Heinz. Wir stehen einander durch Verwandtschaft so nahe, wir wohnen einander jetzt so nahe, – du könntest uns ja in die Fenster sehen von deiner neuen Wohnung aus, wenn die Gartenbäume nicht wären, – daß wir auch wirklich gute Nachbarschaft halten müssen. Du könntest ruhig öfter einmal herüberkommen.«

Ein düsterer Blick flog aus Glaritz' Augen zu Hanna hinüber. »Ich weiß nicht, ob ich immer willkommen bin.«

»Aber selbstverständlich!« rief der Kommerzienrat, nachdem ein rasches Hinschauen ihm gezeigt hatte, daß die Lippen seiner Tochter fest geschlossen blieben. »Du bist immer willkommen, zu jeder Stunde. Mir und Hanna, – selbstverständlich auch Hanna. Jetzt aber muß ich euch allein lassen für fünf Minuten, muß mich rasch noch in meinen Smoking stürzen. Unterhaltet euch gut, – bald werden Hells wohl antreten.«

Der Kommerzienrat ging mit einem freundlichen Kopfnicken für Glaritz hinaus. Er hatte die sichere Haltung, die festen, raschen Schritte des Mannes, der das Fundament eines großen Vermögens unter den Füßen fühlt.

Ein Schweigen trat ein, als die beiden anderen allein geblieben waren. Hanna schritt immer noch unruhig auf und ab; die Glut in Glaritz' Augen verstärkte sich mehr und mehr im Anschauen ihrer hohen, schön bewegten Gestalt, und er mußte die Lippen öffnen, um Atem schöpfen zu können. Er war es, der das tiefe Schweigen zuletzt unterbrach.

»Ich wäre gestern abend übrigens beinahe noch herübergekommen.«

»Nach dem Theater?«

»Nein, vorher. Ich sah Licht im Pavillon hinten, – meine Zimmerfenster sind ja gerade gegenüber. Es fiel mir auf, – ihr benutzt euren Pavillon so selten.«

Die Brauen über Hannas Augen zogen sich noch fester zusammen. »Er liegt ein wenig weit ab vom Hause. Mit solchen Bauten geht es wie mit den Balkons, – man will sie haben, und hinterher benutzt man sie fast niemals.«

»Aber du warest gestern dort, nicht wahr? Ich meinte deinen Schatten einmal auf dem Vorhang zu sehen. Auch ein anderer Schatten wurde sichtbar für einen Augenblick, der Schatten einer männlichen Person. Ich kann mich getäuscht haben, aber ich meinte, den Grafen Stefan Hersberg darin zu erkennen.«

»Graf Stefan war nicht bei mir,« entgegnete Hanna rasch, ein wenig atemlos.

Wieder das tiefe Schweigen von vorhin, und wieder war es Glaritz, der es beendete, nachdem er eine Weile stumm vor sich niedergeblickt hatte. »Merkwürdig ist es, daß jetzt auf einmal soviele Leute von der wahren Herkunft Xaver Stielers gewußt haben wollen. Bisher hat mir niemals ein Mensch davon gesprochen, daß er ein Graf Hersberg wäre. Mir selbst war angesichts deiner Schweigsamkeit ja die Sache bis jetzt auch vollkommen unbekannt. Und heute sind mir schon zwei Leute begegnet und haben mich darauf angeredet. Einer davon war der Kollege Richards.«

»Der unangenehme Schwätzer?«

»Ja, derselbe. Das ist für den Grafen Stefan Hersberg nicht angenehm, daß der die Sache, nach seiner Art ausgemalt, in der Stadt herumträgt.«

»Was weiß er darüber?«

»Allerlei Details, die für den Bruder des Toten nicht gerade günstig sind. Er will wissen, daß der ältere Bruder – Xaver Stieler also – sich mit seinem Vater, der ihn enterbt hatte, versöhnt und von ihm nach seinem Abgang vom Theater in alle Rechte wieder hätte eingesetzt werden sollen.«

»Wieso sollte das ungünstig sein für den Grafen Stefan?«

»Das liegt wohl ziemlich nahe. Besonders wenn es wahr ist, was Kollege Richards noch außerdem behauptet. Nach seiner Darstellung soll der alte Graf gegen den jüngeren Sohn wegen seines – auch von dir – wohl kaum anzuzweifelnden, leichtsinnigen Lebenswandels arg aufgebracht gewesen sein. Er soll beabsichtigt haben, ihn ebenso streng zu behandeln wie seinerzeit seinen älteren Sohn, ihm also nun an dessen Stelle sein Erbe zu kürzen.«

»Das kann ja möglich sein, aber – –«

»Nun, daraufhin machen sich böswillige Menschen das Vergnügen, das Wort aus der ›Maria Stuart‹ auf den Grafen Stefan umzumünzen: ›Dieser Mortimer starb ihm sehr gelegen.‹ Denn das ist eine Tatsache, die niemand anzweifeln kann. Der junge, schwerverschuldete Graf stand vor einem Zusammenbruch seiner Existenz, wenn der Bruder am Leben blieb und sich versöhnte mit seinem Vater, – es gab für ihn kein günstigeres Ereignis als diesen plötzlichen Tod seines Bruders.«

»Was wollen die Leute damit sagen?« Hanna war plötzlich stehengeblieben und funkelte Glaritz an mit ihren schwarzen Augen, in denen weiße Blitze drohend aufzuckten.

Vorsichtig und langsam antwortete Glaritz. »Das wird nach Temperament und Anschauung der Leute verschieden sein. Einige werden vielleicht keine weiteren Folgerungen aus dieser tatsächlichen Feststellung ziehen. Andere werden einen Schritt weiter gehen, und sie sind es, die dem Grafen am gefährlichsten werden können.«

»Wieso?«

»Sie werden sagen, – vielleicht wenigstens, – daß man bei jedem Verbrechen fragen soll, wer den größten Vorteil davon hat, wenn man den Täter herausbringen will. Xaver Stieler ist nachgewiesenermaßen vergiftet worden, Graf Stefan hat ohne Frage den größten Vorteil von seinem Tod – also – –«

»Also hat Stefan seinen Bruder vergiftet, nicht wahr? So lautet wohl die logische Folgerung? Und von dir muß ich das hören, der du weißt, Graf Stefan ist mein Freund! Aber bilde dir nur nicht ein, lieber Vetter, daß du mich durch solche Zuträgereien jemals irre machen wirst in dem Glauben: Graf Stefan ist unschuldig an diesem Verbrechen, – unschuldig wie du selbst!«

Ein ganz leises Lächeln ging über Glaritz' Gesicht, um gleich wieder zu verschwinden. War es ein Lächeln des Triumphs, daß er das Gift eines Verdachtes in die Seele Hannas geträufelt hatte, war es nur das unbewußte Zucken erregter Nerven? Dunkler noch aber legte sich der gewohnte Schatten schwermütigen Ernstes auf seine Züge nach dem kurzen Aufleuchten dieses Lächelns, und er sagte mit einem tiefen Seufzer: »Ich bilde mir das nicht ein, Hanna, denn ich weiß, es wäre das falsche Mittel, um den Weg zu deinem Herzen zu finden. Wenn ich ein solches Mittel wüßte –«

Hanna fiel ihm hastig ins Wort. »Ich glaube, da sind Hells, – es hat geläutet.«

Sie ging rasch zur Tür, die sich im selben Augenblick auftat. Mit gewohnter Lebhaftigkeit betrat Liselotte vor ihrer langsam folgenden Mutter den Raum und begrüßte Hanna mit flüchtiger Umarmung. »Da sind wir, – guten Tag, Hanna. Wir sind aber doch nicht mehr die Ersten, wie ich sehe –« Damit machte sie vor Glaritz einen tiefen Knix und sang mit hübscher, wohlgeschulter Stimme: »›Meister Heiling, Meister Heiling, guten Morgen!‹ So heißen Sie nämlich bei mir, seit ich das letzte Mal in der Oper war. Früher waren Sie der fliegende Holländer, jetzt sind Sie Meister Heiling, und vielleicht können Sie's auch noch bis zum Vampyr bringen, wenn ich den erst einmal gehört habe. Leider wird er so selten gegeben. Aber Hans Heiling ist auch ein prachtvoller Name für Sie. Dabei noch Anna, – Hanna, das paßt ja ganz großartig.«

»Liselotte!«, sagte Hanna mit ärgerlicher Mahnung.

»Ich bin schon still. Wenigstens von der Oper und Meister Heiling. Ueberhaupt sollte man eigentlich heute von gar nichts anderem reden, als von dem armen, unglücklichen Xaver Stieler. Die hellen Tränen sind mir aus den Augen gelaufen, als ich in der Morgenzeitung las, daß er wirklich tot ist. Es ist ja zu furchtbar traurig um diesen göttlichen, himmlischen, göttlichen Menschen! Ich konnte nicht anders, ich habe mich schwarz angezogen, – wie bei Hoftrauer, und Mutter hat wenigstens auch Halbtrauer anlegen müssen, aber es hat Mühe gekostet, bis ich sie dazu brachte, nicht wahr, Mutter?«

»Ja, Kind,« antwortete die Frau Kommerzienrat und ein die Worte durchklingender Seufzer gab der gewohnten Redensart ausnahmsweise Farbe.

»Wißt ihr denn auch schon, daß er vergiftet worden ist?« fuhr Liselotte fort. »Aber natürlich, der Herr Theaterarzt muß es ja wissen. Kennen Sie denn dies indische Gift, Meister Heiling? Ach, furchtbar interessant ist ja doch die ganze Geschichte. Der indische Zauberkünstler soll ihn umgebracht haben.«

»Woher weiß man das?« Rasch, beinahe heftig tat Hanna die Frage.

»Die Leute sagen es, aber ich weiß nicht, ob es wahr ist. Vielleicht nur, weil sie meinen, daß er allein dies indische Gift hierhergebracht haben könnte. Merkwürdig ist es ja freilich, daß dieser Indier gerade mit Xaver Stieler zusammen engagiert war. Aber wenn man bedenkt, – ah, – guten Tag, Onkel Rainer.«

Sie hatte sich unterbrochen und war mit ihren schnellen, zierlichen Schritten dem eben eingetretenen Kommerzienrat entgegengegangen, den sie schon lange zum Adoptivonkel gemacht hatte, obwohl gar keine Verwandtschaft zwischen ihnen bestand. Er nahm freundlich ihre Hand und sagte mit einem behaglichen Lächeln: »Guten Tag, kleine Hexe.« Während er dann auch ihre Mutter begrüßte, drang Liselotte mit hastigen Fragen auf ihn ein: »Haben Sie nichts Neues mit nach Hause gebracht, Onkel Rainer? Haben Sie nichts Näheres gehört über den Tod von Xaver Stieler? Unser Herr Theaterarzt hier hüllt sich amtlich in Schweigen – –«

»Und ich tue das außeramtlich,« sagte Rainer mit jenem gemütlichen Lachen, das in den vier Wänden seines Hauses den fest und berechnend geschlossenen Mund freundlich öffnen konnte. »Man wird ja noch verrückt über diesen unglücklichen Xaver Stieler. Wohin ich heute gekommen bin, spricht man von gar nichts anderem. In der Fabrik, im Büro, auf der Straße, nichts als immer wieder dieser eine Name. Heute nachmittag wird nun aber nicht mehr von ihm geredet, ich bitte mir das aus. Ich richte sonst eine Strafkasse ein, in die jeder zehn Mark zahlen muß, der von ihm spricht.«

»Ich werde dann wahrscheinlich bankerott werden, Onkel Rainer,« sagte Liselotte, halb lachend, halb seufzend.

Die Tür zum nebenan gelegenen Teezimmer wurde vom Diener in diesem Augenblick weit aufgemacht, und Hanna lud ihre Gäste mit stummer Handbewegung dorthin ein. Bald saßen die fünf Menschen um einen runden, mit leuchtendem Gedeck und schwerem Silbergeschirr gezierten Tisch, während auf einem Luthertischchen daneben ein silberner Teekessel über freundlich lodernder Spiritusflamme seine kleinen weißen Dampfwölkchen in die Höhe sandte. Hanna selbst bereitete den Tee, füllte die Tassen und versorgte die Gäste. Doch blieb sie still und in sich gekehrt, und auch sonst wollte kein rechtes Gespräch sich entfalten. Der Kommerzienrat scherzte freilich mit Liselotte, die nichts an schlagfertigen Antworten schuldig blieb, aber ihre Mutter widmete sich in gewohntem Schweigen mit Ausdauer nur dem vortrefflichen Pflaumenkuchen, und Glaritz redete mehr mit Blicken zu Hanna hinüber als mit Worten. So war es wohl angebracht, als Liselotte schließlich rief: »Onkel Rainer hat uns allen die Zunge gelähmt mit seinem Schweigegebot über Xaver Stieler. Deshalb will ich einen Vorschlag machen: Sie singen uns etwas vor, Herr Doktor. Nein, – keine Müdigkeit vorschützen, wir alle schwärmen für Ihren schönen Bariton. Der paßt auch für den Heiling, und aus dem ›Hans Heiling‹ müssen Sie singen, dagegen gibt es keinen Widerspruch.«

Glaritz blickte still eine Sekunde lang vor sich nieder, warf dann einen fragenden Blick auf Hanna, stand aber, da sie stumm blieb, mit einer energischen Bewegung auf. »Gut, ich werde singen.« Es klang etwas wie Troß in seiner Stimme.

Hinten in der Ecke des Raumes neben dem Fenster stand ein blanker, schwarzer Flügel, so daß der Platz für den Spielenden hell beleuchtet war, während matte Dämmerung den Körper des Instruments umhüllte. »Wer begleitet mich?« fragte Glaritz, während er den Flügel öffnete.

Jetzt war es Liselotte, die mit einem Blick zu Hanna hinüber eine Frage tat, als jedoch auch er unbeantwortet blieb, sprang sie geschäftig auf. »Ich werde so frei sein, Meister Heiling, wenn ich würdig dafür befunden werde.«

»Bitte, – Sie sind sehr liebenswürdig.«

Sie suchte sich hastig aus einem Notenhaufen den Klavierauszug heraus und setzte sich an den Flügel.

»So, jetzt kann es losgehen. Die große Arie natürlich, nicht wahr?«

Glaritz neigte nur stumm den Kopf, indem er ein wenig zurücktrat in die Dämmerung der tiefen Zimmerecke. Zwischen den beiden Schattenflächen, die dort aneinanderstießen, erschien sein Gesicht in der Umrahmung des dunklen Bartes noch bleicher als vorher, – man konnte wirklich an den schmerzgequälten Geisterfürsten denken, dem Erdenliebe für immer versagt bleiben sollte. Hochaufgerichtet stand Glaritz da, die Blicke mit einer tiefen, beinahe drohenden Glut auf Hanna gerichtet. Er bedurfte keiner Noten, die Musik war ihm offenbar genau vertraut. Und so, mit einer Hand auf den Flügel gestützt, begann er zu singen; von einer schönen, weichen, vibrierenden Stimme gebildet, erklangen die Worte der Oper in den Raum hinein:

An jenem Tag, da du mir Treue versprochen,
Als ich in Wonn' und Schmerz zu deinen Füßen rang,
Da, ja da, da ist in meiner Brust der Morgen angebrochen,
Gestillt, gestillt zum ersten Mal war meiner Seele Drang.

Bei den Worten von der ihm versprochenen Treue ging wieder das merkwürdige flüchtige Lächeln von vorhin über sein Gesicht, nur, daß diesmal ein Ausdruck tiefer Wehmut in ihm deutlich wurde. Darauf erklang der Ton flehenden Bittens, grenzenloser Hingebung in dem »O, laß die Treue niemals wanken,« in dem beschwörenden: »In dir nur lebe ich.« Dann aber kamen Verzweiflung und wilde Drohung: »Schon bei dem Gedanken fassen mich die finsteren Gewalten, treiben zu gräßlicher Rache mich an!« Seine Stimme hob sich zu furchtbarer Gewalt; von der in ihr wogenden, verzehrenden Leidenschaft schienen die Wände zu klingen, als wenn sie zerspringen sollten vor dem Ansturm eines übermächtigen Gefühls. Unwillkürlich beugte sich Hanna zurück an die Lehne von ihrem Sessel; sie schien körperlich zu fühlen, wie sich ein alle Schranken überflutendes Empfinden auf sie herandrängte. Denn ihr allein galten die Worte des finsteren Mannes dort am Flügel, auf ihr allein hasteten seine Blicke, für sie nur sang er zuletzt sein demütiges, Erbarmen heischendes Wort: »So lieb ich dich!«, in dem alles Drohen hinschmolz in willenloses Hingegebensein.

Keiner sprach, als er geendet hatte, selbst Liselottes geschwätziger Mund war stumm geworden vor dieses gesungenen Bekenntnisses Allgewalt. Langsam und lautlos ging der Sänger zu seinem Platze zurück, doch bevor er sich noch niedersetzen konnte, schrillte vom Flur her der Klang einer elektrischen Glocke herein, doppelt grell in der tiefen Stille der Ergriffenheit. Hanna fuhr zusammen und wandte die Blicke fragend nach der Tür.

Gleich erschien auch der Diener, trat mit etwas unbeholfener Behutsamkeit neben Rainer und übergab ihm eine Visitenkarte. »Der Herr wünscht Herrn Kommerzienrat in dringender Sache zu sprechen.«

Rainer schüttelte den Kopf, indem er die Karte las. »Wer ist, – was will denn der von mir? Nun, ich bitte mich ein paar Minuten zu entschuldigen.«

Er ging rasch hinaus, vom Diener gefolgt. Liselotte tat ein paar Fragen unbefriedigter Verwunderung, doch hätte niemand ihr Auskunft geben können. Alle schienen bedrückt von einem Gefühl, das der Ausdruck auf Rainers Gesichte geweckt hatte. Gleich einer drohenden Wolke lag noch gestaltlos und unerkennbar nahendes Unheil über dem Hause.

Mit einer nervösen Bewegung erhob Hanna die Hand nach der vom Beleuchtungskörper herabhängenden Glockenbirne, deren Knopf sie drückte. Der leise, feine Ton, der draußen erklang, rief schnell den eben hinausgegangenen Diener wieder herein.

»Wer war draußen, Johann?« fragte Hanna. »Wer ist bei Vater?«

»Zwei Herren, gnädiges Fräulein. Der eine, von dem ich die Karte hereinbrachte, heißt Amtsgerichtsrat Germelmann.«

Glaritz wandte den Kopf mit lebhafter Bewegung nach Hanna hin. »Germelmann?« Das ist ja der Untersuchungsrichter im Falle Xaver Stieler.«

»Was will er nur? Was kann er hier wollen?« fragte Hanna tonlos, während Liselotte mit einem erfolglosen Versuch zu gewohntem Scherz lachend ausrief: »Da wird Onkel Rainer nun doch über Xaver Stieler sprechen müssen.«


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