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Vierzehntes Kapitel

In atemloser Aufregung, vorwärts gepeitscht von seinen angstvollen Gedanken, eilte Graf Stefan durch die Straßen. Er kannte das Maskenhaus, die Wohnung seiner Schwägerin, dieses Weibes, das über seine Braut solch furchtbares Unheil gebracht hatte. Hanna verhaftet! Wegen Mordverdachtes verhaftet! War es denn Wirklichkeit, was er nicht ausdenken konnte? Für ihn hatte Hanna so hocherhaben dagestanden, daß ihm auch fremder Verdacht gegen sie nicht möglich erschienen war. Es war ihm niemals in den Sinn gekommen, wie sehr sich die Vorgänge des Mordabends dort im Pavillon gegen sie konnten auslegen, ausnutzen lassen. Jetzt auf einmal überfiel ihn dieser Gedanke mit erstickender Angst. Und um seinetwillen war das alles geschehen, um seinetwillen mußte sie dies Gräßliche leiden. Ihm hatte sie wohltun, seinetwegen hatte sie feindliche Gegensätze versöhnen wollen, indem sie seinen Bruder zu sich lud!

Nie zuvor in seinem Leben hatte Stefan sich so sehr im Innersten erschüttert, sein ganzes Wesen aufgewühlt und umgewälzt gefühlt, wie jetzt in dieser grausamen Stunde. Das Tiefste, was ihn bisher bewegt hatte, war seine Liebe gewesen. Aber auch seine leidenschaftlichsten Augenblicke waren Frieden und Ruhe gewesen im Vergleich zu diesem Sturm. Ein dunkles Empfinden ging ahnungsvoll durch seine Seele, daß er als Knabe gleichsam gelebt hatte bis jetzt und nun erst Mann würde, mit harten, eisernen Schlägen dazu gehämmert. Er fühlte, wenn jemals ein Morgen kam nach dieser Nacht, ein Erwachen auf solchen wüsten Traum, daß er dann für immer ein anderer sein würde, gereift, verwandelt in dieser Not. Sein eigenes Erleben, der auf ihn selbst gefallene Verdacht hatten seinen heiteren Gleichmut nicht erschüttern können; das Gefühl seiner Unschuld war ihm ein Schild gewesen, an dem alle Pfeile wirkungslos abgeprallt waren. Was Hanna geschah, traf ihn mitten ins Herz. Er lernte zum erstenmal kennen, was Leiden war. Zugleich aber offenbarte sich ihm das eigene Lieben als etwas geheimnisvoll Großes, Hohes und Mächtiges, dessen Bedeutung für sein Leben zu Heil und Unheil jetzt erst völlig ihm aufging.

Zu den lachenden Masken hin trug er sein schmerzbeladenes Herz, als er aber die Haustür erreicht hatte, besiegte der Zorn über die Störerin seines Glückes die weicheren Regungen. Sein sonst so leichter, elastischer Schritt wurde hart und fest, als er die Treppe hinanstieg, und Rosa d'Otrantos redelustige Lippen verstummten schnell vor seiner gebieterischen Forderung, Frau Baratta zu sprechen.

Einen schüchternen Versuch, ihn abzuweisen, schob er mit energischem Wort beiseite: »Sagen Sie Frau Baratta, daß ich nicht gehe, bevor ich sie gesehen und gesprochen habe. Hier meine Karte.«

Der Name, den ihre zwinkernden Augen auf der Karte sahen, zeigte der verschrumpften Variété-Dame, daß hier kein Widerspruch möglich war. So ging sie nach leisem, rücksichtsvollem Anpochen zu Frau Baratta hinein, öffnete die Tür wieder kurz darauf und gab wortlos mit ausdrucksvoller Bühnengeste den Eingang frei.

Bei seinem Eintreten sah Stefan die Witwe seines Bruders in düsterer Trauerkleidung ausgestreckt auf dem Diwan liegen, von gewohntem Zigarettengewölk umwogt. Sie hob die Hand mit matter Bewegung und sagte mit gleich mattem Ton: »Ich wollte niemanden sehen, ich fühle mich krank. Aber Sie sind selbstverständlich ausgenommen, Sie sind ja der Bruder meines Xaver.«

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Aufklärung von Ihnen zu verlangen,« entgegnete Stefan, vergeblich bemüht, seiner Stimme ruhigen Klang zu geben. »Meine Braut, Fräulein Hanna Rainer, ist soeben verhaftet worden – –«

»Ihre Braut?« fiel ihm die Baratta mit einem grellen Auflachen ins Wort. »Sie wollen eine Mörderin heiraten?«

Stefan bezwang sich und sprach weiter, als wenn er ihre Worte nicht gehört hätte. »Sie sind heute morgen beim Untersuchungsrichter gewesen. Wegen einer von Ihnen gemachten Anzeige soll meine Braut verhaftet worden sein. Ich will wissen, ob die Sache sich so verhält.«

Ihren rechten Arm auf den Diwan stemmend, hob sich die schwarze Frauengestalt halb empor. Blitze zuckten unter zusammengezogenen Brauen in ihren Augen, Blitze wilden, triumphierenden Hasses.

»Jawohl, es ist, wie Sie sagen. Ich habe Licht hineingebracht in das Dunkel dieses Verbrechens, das mir den geliebtesten aller Menschen geraubt hat.«

»Was haben Sie dem Gerichte mitgeteilt, – womit haben Sie Hanna Rainer verleumdet?« Wider Willen, von ausbrechendem Zorn getrieben, tat er die zweite der Fragen.

Aufschnellend sprang die Baratta jetzt empor, trat mit ein paar großen Schritten dicht vor Stefan hin. Alle Schwäche war von ihr abgefallen, ihr Körper bebte wieder in Aufregung. »Oh, Sie sollen es wissen, was ich dem Richter gesagt habe. Mir ist es Bedürfnis und Wonne, zu sagen, – auch Ihnen, Xavers Bruder, – was ich entdeckt habe. Dann können Sie selbst entscheiden, ob es Verleumdung war, was ich sprach.«

»Reden Sie, – rasch!«

»Ich war niedergebrochen unter dem Furchtbaren, das über mich gekommen war, – sein Tod, meine Vernehmung, sein Begräbnis, es war zu viel für meine Kraft. In halber Ohnmacht und Geistesabwesenheit lag ich hier ein paar Tage lang. Dann erst fand ich die Stärke, seine Wohnung zu betreten, wo jedes kleinste Stück mich an mein zertrümmertes Glück erinnerte.«

»Lassen Sie das, – ich fordere keine Gefühle von Ihnen, weder echte, noch unechte; Tatsachen sind es, was ich von Ihnen verlange.«

»Wenn ich Ihnen einen Brief zeige, – nennen Sie das eine Tatsache?«

»Wenn er echt ist, – jawohl. Und nun sagen Sie mir, woher Sie diesen Brief haben und wer ihn geschrieben hat.«

»Geschrieben hat ihn die Dame, die Sie soeben Ihre Braut genannt haben. Und woher, – ja, das will ich Ihnen erzählen, woher ich den Brief habe. Dort in der Wohnung meines Mannes war es. Der Anblick seiner Sachen tat mir so weh, so weh, – vor allem der des Anzugs, den er am letzten Tage seines Lebens getragen hatte. Von der Wirtsfrau nachlässig hingeworfen, lagen die Kleider auf einem Stuhl. Meine Tränen brachen wieder aus bei diesem Anblick. Ich hob den Rock empor und preßte weinend meine Lippen darauf. Ein leises Geräusch überraschte mich, es war wie das Knistern von Papier. Ich tastete, suchte. Zuletzt fand ich in einer geschickt verborgenen Tasche, die Xaver sich hatte machen lassen, um Banknoten darin zu tragen, und von der ich wußte, das gesuchte Papier. Es war ein Brief, und in diesem Briefe der Beweis, wer meinen Xaver getötet hatte.«

»Zeigen Sie mir den Brief,« sagte Stefan mit rauher Stimme.

»Der ist wohlaufgehoben in den Händen des Untersuchungsrichters.«

»Dann sagen Sie mir, was er enthielt.«

»Es war ein Brief ohne Umschlag, eilig oder nachlässig in die Tasche gesteckt.«

»Sie sagen, er war ohne Umschlag. War der Adressat im Briefe selbst genannt?«

»Nein. Aber ›Geliebter‹ hieß er für die Schreiberin, und in der Tasche meines Mannes fand ich den Brief.«

»Das ist kein Beweis, daß er an ihn gerichtet war. Vielleicht hat irgend ein Zufall – –«

Afra lachte laut auf. »Lesen Sie den Brief und reden Sie noch von Zufall. Abgeschrieben hab' ich ihn mir, bevor ich ihn aus den Händen gab. Sehen Sie, – da, – da, – hier ist er.«

Sie war mit ihren großen, sicheren Bühnenschritten an einen Schreibtisch getreten, hatte die mittlere seiner drei Schubladen aufgeschlossen, aufgerissen und in unordentlich hineingeworfenen Papieren wühlend ihre letzten Worte gesprochen. Jetzt hielt sie mit einem Ausdruck von grausamer Freude Stefan das Blatt entgegen.

Er nahm es nach einem augenblicklichen Widerstreben, wie der Mensch es fühlt bei wichtigster Entscheidung. Dann ergriff und las er den Brief. Er sagte dabei, mehr mit sich selbst, als mit Afra redend: »Er ist eine Woche vor meines Bruders Tod geschrieben worden.«

»Jawohl, eine Woche.«

Leise bewegten sich seine bebenden Lippen, während er nun den kurzen Inhalt las. »Geliebter!« hieß es wirklich als Ueberschrift; weiter kamen die Worte: »Das muß ich Dir doch gleich melden; mein Plan ist jetzt fertig. Du und ich, wir haben so viel hin und her überlegt, wie wir diesem Versteckenspielen, dieser ewigen Unsicherheit ein Ende machen könnten, – ich sehe jetzt einen Weg und hoffe, wir werden bald glücklich sein dürfen. Eine kurze Weile noch Heimlichkeit vor der Welt, aber dann ein sicheres, offenes Glück. In seinen Einzelheiten will ich dir nur mündlich meinen Plan auseinandersetzen. Wer nicht um sein Glück zu kämpfen weiß, wer nicht alle Hindernisse mit allen Mitteln aus dem Wege räumt, verdient in meinen Augen kein Glück. Bald für immer dein – Hanna.«

Stefan hob rasch den Kopf. »Der Brief ist an mich.«

Lauter, hysterisch greller noch als vorher lachte seine Schwägerin auf. »Das ist ein hübscher Einfall, – wirklich ein wunderhübscher Einfall. Aber dann sagen Sie mir, bitte, doch auch: wie kommt Ihr Brief in meines Mannes Tasche? Wie kommt er in diese sorgsam verborgene Tasche, die nur mir bekannt war?«

»Das weiß ich nicht, aber der Brief ist an mich.«

»Seit wann haben Sie die Handschrift meines Mannes? Jawohl, er selbst hat etwas auf diesen Brief geschrieben und ihn dadurch deutlich für sein Eigentum erklärt. Wenden Sie das Blatt um, – auf die Rückseite dort hat seine Hand geschrieben, was ich abgeschrieben habe.«

Stefan folgte schnell ihrer Weisung, und auf des Blattes Rückseite zeigten sich ihm Zeichen und Worte, die nur zum Teil verständlich waren. Ueber zwei senkrecht nebeneinander gestellten Zahlenreihen standen die Buchstaben St. und B. , unter die Zahlen war ein Strich gezogen, und sie waren zusammenaddiert worden, wie die hingeschriebenen Summen erwiesen. Ganz unten aber, etwas getrennt vom übrigen, fanden sich die Worte: »Nächste Zusammenkunft Mittwoch ½7«.

Unter aneinandergezogenen Augenbrauen hervor schaute Stefan scharf auf das Papier. »Ich verstehe das nicht. Waren diese Zahlen und Worte wirklich von meines Bruders Hand geschrieben?«

»Ich kenne doch meines Mannes geliebte Handschrift unter Tausenden heraus! Mit Bleistift wie hier hatte Xaver geschrieben. Ihm also gehörte dieser Brief, an ihn war er gerichtet.«

»Auch dies ist kein Beweis, – ich glaube, daß der Brief an mich gerichtet war. Allerdings ist er niemals an mich gelangt. Solange weiter nichts meine Braut belastet – –«

»Ja, wenn der Brief alles wäre, was gegen sie zeugt! Aber ich habe daneben ein Zeugnis meiner eigenen Augen.«

»Was haben Sie gesehen, – vielmehr, was behaupten Sie gesehen zu haben?«

Sie fuhr auf, das böse Blitzen ihrer Augen verstärkte sich noch.

»Ich habe, – habe, – habe gesehen, daß dieses Fräulein Hanna Rainer meinen Mann geküßt hat. Und ich – –«

»Wann, wo soll das gewesen sein?«

»In seiner eigenen Wohnung, – es war kurze Zeit vor Xavers Tod. Unerwartet bin ich gekommen, ganz unerwartet, – und leise muß ich gewesen sein, daß keiner von den beiden mich hörte. Dann fuhren sie freilich auseinander gleich ertappten Verbrechern auf den Klang von der geschlossenen Tür.«

»Das ist gelogen, – das ist nicht wahr!«

»Ich habe das gerufen wie Sie, – dies: es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr! – als ich hörte, daß Xaver gestorben sei. Darum ist es doch gräßliche Wahrheit gewesen.«

»Aber warum, – Sie haben von dieser angeblichen Wahrnehmung meines Wissens bisher niemals etwas gesagt, – warum haben Sie diese ganze Zeit hindurch geschwiegen?«

»Weil ich mir selbst einredete, daß es eine Täuschung wäre, was ich gesehen hatte. Weil ich es selbst nicht glauben konnte, nicht glauben wollte. Bis dann dieser Brief als unumstößlicher, mir vom Schicksal selbst geschickter Beweis in meine Hände kam. Da bin ich zum Untersuchungsrichter hingestürzt und habe die Verführerin, die Heuchlerin, die meinen Xaver ins Verderben gestürzt hat, entlarvt.«

»Es ist nicht möglich, – ist nicht möglich, –« murmelte Stefan kaum hörbar vor sich hin.

»›Wer nicht alle Hindernisse, die dem Glück im Wege stehen, beiseite räumt‹, haben Sie's gelesen in dem Briefe da? Das Hindernis, von dem sie dort spricht, war ich. Der Plan, von dem sie schreibt, galt mir. Ich sollte beseitigt, getötet, vergiftet werden. Aber dieser Plan war erlogen. Sie belog und betrog auch Xaver, indem sie die Worte schrieb. Er sollte nur sicher gemacht und hingelockt werden, wo der Tod auf ihn selber wartete. Sie war falsch und verlogen in jedem Wort und in jeder Tat. Eine neue Lust war über sie gekommen, die gebüßt werden sollte, die Lust auf seinen eigenen Bruder. Um Sie besitzen zu können, hat sie gemordet. Mit ihr hat Xaver mich betrogen, er aber hat sterben müssen um Ihretwillen, Graf Stefan!«

»Genug, genug, – ich will nichts weiter hören!«

»Oh, wenn ich sie hier hätte, die mir das getan hat! Ich könnte das Weib in Stücke reißen, Glied für Glied. Aber Gott hat mir die Rache gegeben. Sie soll büßen und leiden, – leiden durch mich. Mein Zeugnis wird ihr Todesurteil sein. Ich werde beschwören mit heiligen Eiden, was ich gesehen habe damals in der Wohnung meines Mannes, und meine Worte werden dem Briefe von ihr ein Gewicht geben, das die Verbrecherin hinunterzieht in die Tiefe. Wenn sie versucht – –«

»Sie sind wahnsinnig, – wahnsinnig, – lassen Sie mich hinaus!«

Er stieß Afra beiseite, die wild im Zimmer umhertobend vor die Tür getreten war, und stürzte fort. Ihr grelles, tolles Lachen klang hinter ihm her.

Er hatte geglaubt, Aufregung und Angst in ihm könnten sich nicht mehr steigern, – er hatte sich getäuscht. Sein Gefühl auf dem Hinwege zu seiner Schwägerin erschien ihm fast ruhevoll und friedlich im Vergleich zu dem, das jetzt in ihm tobte. Sein felsenfestes Vertrauen zu Hanna, der sichere Grund, auf dem er gestanden hatte, war durch die Worte der Baratta zum erstenmal ins Wanken geraten. Sie wollte gesehen haben, daß Hanna seinen Bruder geküßt hatte, wollte diese Tatsache beschwören vor Gericht! Er wehrte sich mit aller Kraft seiner tiefen Liebe gegen das widerwärtig-schmerzliche Gefühl des Mißtrauens, das in seinem Herzen bohrte, gegen den grausamen Zweifel am geliebtesten Wesen. Aber wenn er sich auch hundertmal sagte, daß Haß und Wahnsinn allein aus Afra gesprochen hatten, ein wundes, feindliches Gefühl blieb unbesiegbar in seinem Herzen. Sein früheres Dasein erschien ihm fremd und ausgelöscht, und es war ihm, als wenn er aus dem Reiche des Glückes und Friedens ausgestoßen wäre für immer.

Unempfindlich gegen alles um ihn her ging er durch die belebten Straßen; wie halb nur sichtbare, hinter einem dichten Schleier vorübergleitende Schatten erschienen ihm die Menschen um ihn her. Ein paarmal entging er mit Not nur der Gefahr des Ueberfahrenwerdens durch der Wagenführer Achtsamkeit, ohne daß er ein Gefühl des Erschreckens hatte bei der Erkenntnis der ihm so nahe gewesenen Todesgefahr. Sein Blick war nur nach innen gerichtet, und er sah mit Grausen in sich selbst eine wirre, häßliche Mischung von widerstreitenden Gefühlen, unter denen ein bohrender, nagender Schmerz das herrschende war und blieb.

In dem Nebel halber Geistesabwesenheit war es ihm einmal unbestimmt, als wenn ein paar Augen ihn scharf gemustert, eine Hand sich zum Gruße für ihn erhoben hätte. Das trieb ihn, sich umzuwenden, und er sah nun, daß ein Herr stehen geblieben war gleich ihm und gespannt nach ihm herschaute. Dann schien es ihm, als wenn ein weiterer Schleier fortgezogen würde vor seinen Augen, und er erkannte jetzt in dem anderen Hannas Vetter, den Doktor Glaritz.

Hannas Vetter! Von diesem Gedanken allein vorwärts gezogen, ging er schnell die paar Schritte zurück, die sie trennten. Sich überstürzend, kamen die Worte von seinen Lippen: »Sie sind es, Herr Doktor, – wissen Sie schon, was geschehen ist?«

Glaritz wich mit seinem Oberkörper ein wenig vor Stefan zurück; er las wohl etwas Furchtbares in seinen Augen.

»Was geschehen ist, – nein, – ich – –«

»Ihre Cousine Hanna Rainer ist vor einer halben Stunde verhaftet worden.«

»Verhaftet?« Kaum hörbar kamen die Worte von des Arztes Lippen; seine Stimme klang, als wenn eine feste Hand sich erstickend um seine Kehle gelegt hätte.

»Ja, ja, verhaftet unter der Anklage, Xaver Stieler vergiftet zu haben.«

»Das ist nicht wahr, – das hat sie nicht getan!«

Jetzt hatte Glaritz die würgende Hand abgeschüttelt von seiner Kehle; schreiend fast rief er die Worte, die Hannas Unschuld verteidigten.

»Meines Bruders Witwe will beschwören, daß ihn Hanna vor ihren Augen geküßt hat.«

»Das ist alles, alles gelogen. Unschuldig ist sie, so wahr ich lebe! Sie hat es nicht getan, – sie hat es nicht getan!«

»Herr Doktor!« Laut und hart gleich einem Befehle klang Stefans Ausruf. Ein seltsames, blitzartig aufzuckendes Gefühl war über ihn gekommen.

»Sie wissen mehr von der Sache! – Herr Doktor, – Sie wissen, wer es getan hat!«

»Sie täuschen sich,« fiel ihm Glaritz mit auffallender Heftigkeit ins Wort, um dann ein wenig ruhiger hinzuzufügen: »Was ich tun kann, um Hanna zu retten, das wird geschehen. Verlassen Sie sich darauf.«

Er hob grüßend seinen Hut, wandte sich schnell um, das Gespräch kurz abschneidend, und ging rasch davon.

Stefan stand und schaute mit weit offenen, erstaunten Augen auf die sich hastig entfernende, schnell hinter einer Hausecke verschwindende Gestalt. Was bedeutete dies gewaltsame Abbrechen ihres Gespräches, diese hastige Flucht? Er fühlte sich durch die plötzlich erwachte, gleich wieder getötete Hoffnung auf Klarheit und Wahrheit noch verworrener gemacht. Wo fand er Gewißheit und Wahrheit? Langsam, ohne Ziel ging er weiter, tief in sein schmerzliches Grübeln versunken.

Aber ein Gedanke tauchte schließlich auf aus dem Chaos in seiner Seele, ließ ihn umherschauen, wo er sich befand. Graberts Name war ihm in den Sinn gekommen. Er hatte den liebenswürdigen, frischen Offizier gekannt und wußte, welche Rolle der neue Detektiv in dieser traurigen Sache gespielt hatte. Vielleicht fand er dort Aufklärung und Rat, vernahm von ihm ein tröstliches Wort. Graberts frühere Wohnung war ihm bekannt, – er wollte gleich den Versuch machen, ob er ihn dort noch antraf.

Das Glück war ihm günstig; auf sein Fragen vernahm er, daß Grabert vor kurzem nach Hause gekommen sei.

Mit einem freundlich überraschten: »Sie, Graf Hersberg?« empfing ihn der ehemalige Offizier.

»Sie werden sich denken können, weshalb ich komme,« stieß Graf Stefan hastig hervor: »Fräulein Rainer ist meine Braut, und Sie wissen jedenfalls, daß man sie heute verhaftet hat.«

»Ich weiß es.«

»Dann sagen Sie mir, wie das alles möglich war. Ich komme hierher zu Ihnen in tiefer Not und Qual und bitte Sie, geben Sie mir Klarheit.«

Grabert war aufgestanden und ging mit gesenktem Kopf im Zimmer auf und ab. Dann blieb er stehen, sein Gesicht war tief ernst geworden. »Es wäre mir wirklich eine große Freude, Graf Hersberg, wenn ich Ihnen mit ein paar Worten die Last vom Herzen herunternehmen könnte, die darauf liegt. Aber ich darf Sie nicht mit Illusionen trösten. Die Sache steht nicht gut für Fräulein Rainer.«

»Sie halten sie für schuldig?«

»Man wäre zur Verhaftung einer Dame von solcher gesellschaftlichen Stellung jedenfalls nicht geschritten, wenn man es hätte vermeiden können. Es lagen sehr zwingende Verdachtsgründe vor.«

»Können Sie mir sagen –?« Stefan verstummte, seine Stimme gehorchte nicht mehr.

»Ich glaube, daß ich Ihnen ruhig sagen kann, was ich über diese Verdachtsgründe weiß. Leider – ich sage dies ›Leider‹ aus meinem tief teilnehmenden Gefühl für Sie heraus – bin ich selbst bestimmt gewesen, Belastendes gegen Fräulein Rainer aufzufinden. Mir war die Beobachtung des indischen Zauberkünstlers Amaru zugeteilt worden. Ich habe jeden seiner Schritte diese Zeit hindurch verfolgt und habe den bestimmten Beweis gewonnen, daß irgend eine Beziehung zwischen dem Indier und Fräulein Rainer besteht. Er hat sich, namentlich abends, mehrfach in der Nähe der Villa Rainer herumgetrieben, hat von der Straße nach dem Hause hinübergegrüßt und hat einen Gegengruß, vielleicht auch sonstige Zeichen von der Dame, die dort am Fenster stand, empfangen. Und mehr als das: er ist mit ihr öffentlich in einem Kaffee zusammengetroffen – –«

»Hanna mit Amaru, – das kann ja nicht wahr sein!«

»Ich habe sie zusammen dort mit meinen eigenen Augen gesehen, ein Zweifel ist absolut ausgeschlossen. Es ist mir auch gelungen, ein paar Worte von ihrem Gespräch aufzufangen, – es war die Rede von dem Gifte, dem Ihr armer Bruder zum Opfer gefallen ist. Amaru war vermutlich in der Stadt hier der einzige Mensch, der dies in Deutschland kaum bekannte Gift besaß, er ist am Abend, an dem der Mord geschah, nahe bei der Villa Rainer gesehen worden, man hat auch, – Sie werden das ja schon wissen, – kurz nach halb acht Uhr einen Mann beobachtet auf dem zum Flusse führenden Wege, hat gesehen, daß er etwas dort ins Wasser geworfen hat. Sie werden selbst sagen müssen, wenn man alle diese Punkte zusammenfaßt, besteht ein stark begründeter Verdacht gegen Fräulein Rainer, die Tat im Verein mit Amaru geplant und ausgeführt zu haben.«

Ein Aufstöhnen Stefans ließ Grabert seine Hand freundlich auf des Grafen Arm legen. »Es war Ihr Wille, das alles von mir zu hören. Mir wird es furchtbar schwer, daß ich Ihnen keine tröstlichere Nachricht geben kann. Aber das Hineinspielen des Indiers, dieses Besitzers jenes fremden Giftes, in die Geschichte scheint mir das Allerverfänglichste bei der Sache. Trotzdem hat sich auch auf diese Verdachtsgründe hin das Gericht immer noch gesträubt, gegen Fräulein Rainer vorzugehen. Erst nachdem die Frau Baratta heute Morgen beim Untersuchungsrichter war und einen Brief gebracht hat – –«

»Ich weiß, – davon weiß ich.«

»Und sie will unter Eid einen Beweis liefern, daß nahe, zärtliche Beziehungen zwischen Hanna Rainer und Xaver Stieler bestanden haben – –«

»Das alles ist Wahnsinn. Die beiden haben sich einander ja kaum gekannt.«

»Ein Eid soll das Gegenteil beweisen, und vor Gericht wiegt ein Eid schwerer als alles andere. Daraufhin erst hat sich der Untersuchungsrichter schweren Herzens entschlossen, Fräulein Rainer verhaften zu lassen.«

»Aber mein Gott, warum, – warum in aller Welt soll denn Hanna das gräßliche Verbrechen begangen haben?«

Eine noch stärkere und wärmere Teilnahme sprach aus Graberts Augen, als er antwortete: »Das einzig mögliche Motiv zu solch einer unglaublichen Tat könnte gewesen sein: eine neue Liebe zu Ihnen, der Wunsch, sich von anderen Beziehungen frei zu machen für Sie.«

Mit Entsetzen vernahm Stefan von diesem unbeteiligten, wohlwollenden Menschen dieselbe Deutung für Hannas Tat wie von der haßerfüllten Baratta. Doch er wehrte sich immer noch verzweifelt gegen diesen Gedanken. »Liebe zu mir? Dies Unfaßbare, Furchtbare sollte für mich als Liebesbeweis gelten? Meinetwegen ein heimtückischer Mord? Oh, das wäre ja das Furchtbarste von allem! Da wäre der feindlichste Haß mir willkommener als eine solche Liebe.«

»Das alles kann ich nachfühlen. Und ich muß auch selbst sagen: das psychologisch Unwahrscheinliche der Tat läßt mich immer noch an eine Wendung zum Guten glauben, so schwer die Verdachtsmomente wiegen mögen. Also verlieren auch Sie die Hoffnung nicht ganz – –«

»Hoffnung, – woher sollte sie noch kommen?«

»Aus dem Vertrauen auf die Beweiskraft Ihres Gefühls, das Ihnen Ihrer Braut Unschuld verbürgt.

»Mein Gott, ich kämpfe ja mit allen Kräften darum, dies Gefühl mir zu erhalten. Aber die Zweifel haben sich eingeschlichen in mein Herz, einer nach dem anderen, ganz leise, leise, – haben Hannas Bild in mir so dunkel und undeutlich werden lassen, daß ich es mir kaum noch vorstellen kann, und ich schäme mich zugleich unbeschreiblich vor mir selber, daß es nicht anders ist. Auch Sie haben mir nicht helfen können trotz Ihres guten Willens, – haben Sie Dank für ihn und leben Sie wohl.«

Eilig ging er aus der Tür. Grabert hob die Hand, als wenn er ihn halten wollte, doch ließ er sie wieder sinken und machte keinen Versuch mehr, Stefan zurückzurufen.

In jagender Hast, ohne zu sehen, was ihn umgab, aber mit nachtwandlerischer Sicherheit seinen Weg findend, eilte Graf Hersberg nach Hause. Der Wunsch, sich irgendwo zu verkriechen, zu verbergen, am liebsten auch vor sich selbst, leitete jetzt seine Schritte. Das Gefühl, als wenn alles fremd und verwandelt wäre, kam gewaltsam über ihn auch beim Betreten seiner Wohnung, weil er selbst ein anderer geworden war in wenigen Stunden. Er setzte sich nieder, schaute verstört umher und sprang wieder auf, die körperliche Ruhe nicht ertragend. Seine Zimmer durchirrend bei geöffneten Türen von einem zum anderen rief er jedes von den wechselnden Gefühlen wieder wach, die der furchtbare Tag ihm gebracht hatte. Schrecken, Vertrauen, Zweifel, Scham, Verdacht kämpften in seinem Herzen einen wilden Kampf.

Er suchte sich Hannas Bild vor die Seele zu rufen, wie sonst es in seinem Herzen gelebt hatte, doch es wollte nicht kommen. Es verschwamm und verblaßte hinter undurchsichtigem Schleier. Ihre Photographie selbst auf seinem Schreibtisch erschien ihm verändert und fremd. Wenn er sie selbst hätte sehen, ihre Stimme hören können, – das wäre vielleicht Erlösung von allem Zweifel gewesen.

Er klammerte sich mehr und mehr an diesen Gedanken, – der Wunsch wurde für ihn allmählich zum Entschluß. Er wollte versuchen, was möglich war, um sie sehen und sprechen zu können. Und mit solchem Vorsatz kam endlich wohltätige Beruhigung in sein Herz, gliederlösende Schlaffheit überfiel ihn, er konnte sich niederlegen und schlafen, als die Nacht gekommen war nach dem dunkelsten Tage seines Lebens.


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