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Zehntes Kapitel

Germelmann ging in seinem Amtsraum gedankenvoll auf und ab. Es war am Vormittag nach seinem amtlichen Besuch in der Villa Rainer. Der Morgen war von ihm bereits eifrig benutzt worden, um tunlichst weiter zu kommen in der Untersuchung, die der Fall Stieler ihm gebracht hatte. Kommissar Bauer war nach einer kurzen Besprechung zwischen den beiden Beamten von ihm beauftragt worden, das gestern unbefragt gelassene Dienstpersonal in der Villa des Kommerzienrats nachträglich einzuvernehmen, er selbst hatte telephonisch den Grafen Hersberg noch einmal vorgeladen, um zu hören, was er zu Hannas und Glaritz' Mitteilungen zu sagen hatte.

Das Verhalten Stefans war es, was ihn jetzt vornehmlich beschäftigte, während er ungeduldig auf Bauers Wiederkommen wartete. Der Amtsgerichtsrat hatte sich in ein paar schlaflosen Stunden der Nacht mehr und mehr in einen starken Verdacht auf den jungen Grafen hineingearbeitet gehabt, war aber durch dessen Benehmen fast entwaffnet worden. Stefans lässiges, leicht humoristisch gefärbtes Wesen hatte so gar nicht stimmen wollen zu dem Bild eines heimlichen Giftmischers und Brudermörders! So sprach und betrug sich nur ein Unschuldiger, – dieser Eindruck blieb in dem Untersuchungsrichter lebendig, solange Stefans Bild noch lebhaft vor ihm stand, solange der Klang seiner weichen, warmen Stimme noch in seinem Ohre nachzitterte.

Glaritz' Angabe, daß der Graf am vorletzten Abend gegen acht Uhr ein zweitesmal auf der Straße beim Pavillon gewesen und von dort in den Garten eingetreten sei, wurde von Stefan ohne weiteres bestätigt. Er sei nach Abschluß der dienstlichen Tätigkeit bei seinem Chef in aller Eile wieder zur Villa Rainer gegangen in der Hoffnung, doch vielleicht seinen Bruder noch dort im Pavillon zu treffen. Und wenn ihm das bereits verdunkelte Fenster auch schon gesagt hatte, daß diese Hoffnung vergeblich war, so sei er doch noch in den Garten und für einen Augenblick auch in den Pavillon selbst eingetreten, um dort nach irgend einem Anzeichen zu schauen, ob sein Bruder wirklich dagewesen sei. Das benutzte Weinglas habe die Frage bejaht. Er sei dann auf dem kürzesten Wege, der durch den Garten am Hause vorübergeführt habe, zum vorderen Ausgang und von da zum Theater gegangen.

Die von Germelmann gestellte Frage, wie denn die merkwürdige Tatsache zu deuten sei, daß Hanna Rainer von dieser seiner zweiten Anwesenheit nichts gewußt oder wenigstens nichts ausgesagt habe, war von Stefan mit einem leichten Auflachen beantwortet worden. Und er hatte hinzugefügt: »Ja, Herr Amtsgerichtsrat, was jemand nicht weiß, kann er auch nicht sagen. Ich habe nämlich ganz vergessen, Fräulein Rainer davon zu erzählen. Im Theater war es mir nur möglich, ein paar Worte mit ihr zu sprechen, und hinterher kam dann die traurige Sache mit meinem Bruder, die mich auf die Bühne rief und mich an alle die gleichgiltigen Dinge nicht mehr denken ließ.«

»Gleichgiltige Dinge!« – Diese Worte klangen in der Seele des Untersuchungsrichters nach. Er meinte durch Uebung und Erfahrung den Ton der Wahrheit aus den Reden der Menschen heraushören zu können, und er glaubte, diesen untrüglichen Ton hier vernommen zu haben. Aber mancherlei Verdachtsgründe sprachen dagegen, und seine Gedanken arbeiteten sich ab in einem Netze von Widersprüchen. Um so froher war er, als Bauer laut atmend vor Eifer und Wichtigkeit, wieder ins Zimmer trat.

»Nun, was haben Sie ausgerichtet, mein lieber Herr Kommissar?«

»Ich bringe verschiedenes Neue. Das wichtigste zuerst: In Glas und Flasche, die wir aus dem Pavillon der Villa Rainer mitgenommen haben, ist ebensowenig eine Spur von Gift gefunden worden, wie gestern in denen aus dem Theater.«

»Das überrascht mich nicht,« sagte Germelmann ruhig. »Ein Mensch, der zwölf bis vierzehn Stunden Zeit hat, um die Spuren von seinem Verbrechen zu verwischen, ist ein Esel, wenn er es unterläßt. Und wir haben es in diesem Fall offenbar nicht mit einem Esel zu tun.«

»Herr Amtsgerichtsrat meinen?« – –

»Ich meine, daß es für den Täter – wenn es dort wirklich einen Täter gab – eine leichte Sache war, unbemerkt in den Pavillon einzudringen, die Weinflasche mit einer anderen, in gleicher Höhe gefüllten zu vertauschen, das benutzte Glas gründlich zu reinigen und ihm aufs Neue den Anschein des Benutztseins zu geben. Das Nichtvorhandensein von Gift ist also kein Beweis, daß die Tat nicht im Pavillon verübt worden ist. Allerdings hätte der Schurke den direkten Beweis von seiner Schuld uns damit genommen. Wir müßten den indirekten versuchen.«

»Aber wie?«

»Wenn die Flasche wirklich mit einer anderen vertauscht worden ist, wird auch die zweite der gleichen Sorte vermutlich aus dem Rainerschen Keller stammen. Es wäre so wenigstens am bequemsten gewesen.«

»Allerdings auch unvorsichtig.«

»In einem Punkte sind ja die Verbrecher das meistens, – Gott sei Dank! Es wäre jedenfalls gut, wenn Sie der Sache nachgingen. Der Kommerzienrat sagte, wie Sie sich erinnern werden, daß er gerade vorgestern eine neue Sendung von dem Burgunder bekommen hätte. War nichts mehr von dem alten Bestand vorhanden, so ließe sich leicht feststellen, ob an der Zahl der vorgestern gelieferten Flaschen eine fehlt oder zwei.«

»Schade!«

»Schade, – wieso?«

»Weil ich das leicht schon heute früh hätte mit abmachen können. Ich komme ja gerade von der Villa Rainer her und von der Vernehmung des Dienstpersonals.«

»Was haben Sie dort erfahren?«

»Zunächst nur die Bestätigung dessen, was Doktor Glaritz und Graf Stefan Hersberg ausgesagt haben. Der Diener – Johann Lütjen heißt er – hat gestern abend gegen acht Uhr aus dem Fenster des Portierzimmers neben der Haustür hinausgeschaut und hat gesehen, daß der Graf aus dem Garten gekommen und auf die Straße hinausgegangen ist. Also stimmt, was er selbst angegeben hat.«

»Gut. Aber der Vorgang im Pavillon ist wichtiger. Haben Sie den Gärtner befragt?«

»Gewiß. Und er hat auch bestätigt, was Doktor Glaritz uns gestern erzählt hat. Im Pavillon ist gegen acht Uhr wirklich für kurze Zeit Licht gewesen.«

»Hat er den Grafen dort gesehen?«

»Das nicht. Er hat sich überhaupt nicht weiter darum gekümmert.«

»Hat er über die Zeit Bestimmtes ausgesagt?«

»Er weiß, daß es genau fünf Minuten vor acht Uhr gewesen ist. Es war sein um acht beginnender Skatabend, und er hatte nach der Uhr gesehen, bevor er vom Hause fortging.«

»Also viel Neues bringen Sie doch nicht.«

»In dieser Hinsicht, nein. Aber ich habe noch ein Uebriges getan.«

»Und was?«

»Ich habe den Schutzmann, der um die fragliche Zeit in der Gegend Patrouille ging, zur Sicherheit auch befragt. Es war der Schutzmann Hensel. Er ist kein Licht, aber ein ordentlicher, zuverlässiger Mensch. Und er sagt mit Bestimmtheit aus, er hat auch eine halbe Stunde früher schon auf den Glockenschlag halb acht – gerade hat nämlich die Turmuhr von Sankt Kilian geschlagen – in dem sonst nur selten beleuchteten Pavillon Licht gesehen.«

»Das wird Fräulein Rainer selbst noch gewesen sein.«

Bauer lehnte mit lebhafter Handbewegung ab. »Nein, das ist ausgeschlossen, Herr Amtsgerichtsrat.«

»Warum? Wieso?«

Germelmann hatte dem Bericht anfangs mit großer Gemütsruhe zugehört, jetzt hob er den Kopf gleich einem witternden Jagdhund.

»Weil Hensel um das ganze Häuserquartier die Runde gemacht hatte, zu dem die Villa Rainer gehört. So war er auch auf deren Vorderseite gekommen und hatte gerade gesehen, wie Fräulein Rainer ein Auto bestieg, um ins Theater zu fahren, – er hatte die Weisung an den Chauffeur gehört.«

»War denn das vorher? Bevor er den ersten Lichtschein, den um halb acht Uhr, im Pavillon sah?«

»Jawohl, ganz genau.«

»Das ist eine sonderbare, – sonderbare Sache. Hat er noch weiter dort patrouilliert?«

»Er ist noch zweimal auf und ab gegangen in der Heidingerstraße. Der Pavillon ist finster gewesen, als er das erstemal wieder daran vorbeikam, aber beim zweitenmal ist es abermals hell darin gewesen. Das war kurz vor acht Uhr, kurz vor dem Ende seines Dienstes. Hier hat sich's demnach um das von den beiden anderen Beobachtern auch gesehene Licht gehandelt, während Hensel allein das frühere wahrgenommen hat. Und bei diesem ersten Lichtschein ist ihm aufgefallen, daß er der sonstigen Beleuchtung des Pavillons nicht entsprach. Der Schein war nach seiner Darstellung beweglich wie von einer elektrischen Taschenlampe, so daß er nur ein paarmal am Vorhang des Fensters vorüberglitt.«

»Warum ist er nicht hineingegangen, der Mensch?«

»Er hat wohl dazu keinen Anlaß gesehen.«

»Das ist jammerschade!«

Germelmann, der die ganze Zeit im Zimmer auf und ab gegangen war, senkte den Kopf in schweigendem Nachdenken. Dann blieb er vor Bauer stehen. »Mein lieber Herr Kommissar, jetzt wollen wir einmal die Tatsachen zusammenstellen. Wir haben einstweilen drei Personen, die für die Täterschaft in Betracht kommen können: den Grafen Hersberg, das Fräulein Rainer, die Frau von Xaver Stieler.«

»Ich kann mir nicht helfen, Herr Amtsgerichtsrat, aber mein Verdacht richtet sich in erster Linie gegen die Frau, gegen die Baratta.«

Germelmann hob die Schultern in zweifelnder Bewegung. »Möglich, – möglich auch nicht. Ihre Persönlichkeit widerspricht mir der Tat, wie die der beiden anderen übrigens auch. Haben Sie schon häufig von Mordgeschichten beim Theater gehört? Ich nicht. Es gibt Gelegenheit genug auf der Bühne, seine Leidenschaft auf andere Art auszutoben. Diese Frau von Xaver Stieler ist außerdem erstklassige Hysterikerin, – tatsächlich nach Beobachtung des von mir befragten Arztes, der sie mehrfach behandelt und ihr auch die berühmten Pulver zur Nervenberuhigung verschrieben hat. Er bestätigt mein persönliches Urteil durchaus. Hysterische Frauenzimmer aber lieben mehr Theaterfeuerwerk als wirklichen Brand. Für starke Taten fehlt es ihnen an Energie.«

»Wenn sie nicht in Betracht kommt, wen halten dann Herr Amtsgerichtsrat für schuldig?«

Germelmann machte wieder und noch lebhafter seine Schulterbewegung. »Unter uns gesagt: keinen von allen dreien. Es hatte sich mir freilich ein starker Verdacht auf den Grafen Hersberg aufgedrängt. Er war der einzige, dem seines Bruders Tod großen Vorteil brachte. Mir gilt noch immer die vielbewährte Frage: ›Wem zum Nutzen?‹ Aber vermutlich ist er durch die Wahrnehmung vom Schutzmann Hensel fast bestimmt entlastet. Wenn wirklich dort im Pavillon das Verbrechen begangen worden ist, – und mit Rücksicht auf die Wirkung dieses indischen Giftes nach ein paar Stunden ist mir das am wahrscheinlichsten, – dann hatte der Täter ein dringendes Interesse daran, die Spuren seines Verbrechens baldmöglichst zu beseitigen. Hatte das also nicht Fräulein Rainer – einmal angenommen, sie wäre schuldig, – bereits gleich nach dem Fortgehen Stielers getan, war ein anderer, von dem auch sie nichts wußte, der Täter, dann ist jene Vernichtung der Spuren höchstwahrscheinlich geschehen, als Ihr Schutzmann um halb acht Uhr das Licht im Pavillon erblickte. Wir müssen jetzt vor allem ermitteln, ob Graf Hersberg nicht schon um diese Zeit an Ort und Stelle war. Er gibt an, bei seinem Chef gewesen zu sein. Fragen Sie vorsichtig einmal nach, wann er dort war, wann er fortgegangen ist.«

»Ich werde das gleich besorgen, Herr Amtsgerichtsrat.«

»Aber vorsichtig, bitte! Befragen Sie den Diener, den Portier ganz unter der Hand. Niemand weiter braucht vorläufig etwas davon zu erfahren. Und machen Sie das möglichst bald, – mit aller nötigen Diskretion.«

»Sofort, Herr Amtsgerichtsrat. Und ich glaube von mir sagen zu dürfen: ich bin kein Anfänger mehr.« – – –

*

In der Villa Rainer herrschte dumpfe Schwüle. Schweigsam und in sich versunken lebte Hanna neben ihrem Vater her. Sie war sonst immer sein Stolz und seine Freude gewesen, wenn er auch ihre wachsende Neigung zum Grafen Stefan Hersberg nur ungern gesehen und eine Verbindung zwischen ihr und seinem Neffen Glaritz warm gewünscht hatte. Zum erstenmale war er wegen dieser peinlichen Verwicklung in den Fall Stieler wirklich zornig auf sie. Dies Gefühl aber war ihm, gerade weil er sie liebte, höchst unangenehm, und weil es ihm unangenehm war, wuchsen dadurch noch sein Zorn und seine schlechte Laune.

Hanna selbst schien für seine Verstimmung fast unempfindlich. Sie war offenbar ganz hingenommen von einem einzigen Gefühl, einem einzigen Gedanken. Ihres Vaters bissige Bemerkungen prallten wirkungslos ab am Panzer dieses Gefühls, das gleich einer eisernen Rüstung sie schied von der Welt.

Zwei Tage lang hatte Glaritz die Villa nicht wieder betreten, seit Hannas heftigem Auftritt mit ihm, am dritten Tage war er zur Teestunde gekommen und hatte dadurch das gewohnte wortarme Beisammensein des Kommerzienrats mit seiner Tochter unterbrochen. Ihrem Vater war es offenbar willkommen gewesen, in dieser sonst immer sehr geliebten Stunde wieder jemanden zu haben, von dem keine Verstimmung ihn trennte. Rainer hatte denn auch, nachdem er gleich von vornherein jedes Wort über den Fall Stieler für ihr Gespräch auf den Index gesetzt hatte, höchst gemütlich mit ihm geplaudert und ihn mit Absicht vor seiner Tochter in jeder Art ausgezeichnet. Als er aber wieder an seine Geschäfte gehen mußte, war Glaritz allein geblieben mit Hanna.

Zaudernd und stumm stand er ihr gegenüber und starrte sie mit seinen schwarzen, brennenden Augen schwermutsvoll an. Sie hatte schweigend vor sich nieder gesehen und einen silberblitzenden Teelöffel zwischen den Fingern hin und her bewegt; jetzt hob sie den Blick empor und begegnete dem seinen. Langsam, in den tiefen melodischen Tönen ihrer Stimme begann sie zu sprechen.

»Ich habe dich neulich durch meine Heftigkeit verletzt. Es ist mir leid, verzeih' mir. Nicht etwa –« sie hob die Hand auf eine lebhafte, vorwärts drängende Bewegung von ihm – »daß ich in der Sache bereute, was ich gesagt habe. Nur meine Heftigkeit reut mich; man erniedrigt sich, wenn man heftig wird, und ich bin es neulich gewesen.«

»Du gibst mir in einem Atemzug Freude und Schmerz zugleich, Hanna. Du würdest mich zum glücklichsten Menschen machen, wenn du zurücknehmen könntest, was du damals gesagt hast. Aber du tust es nicht, und ich muß mich damit begnügen, daß es dir leid ist, mir wehe getan zu haben, – denn das darf ich doch wohl heraushören aus deinen Worten, und ich danke dir dafür. Aber nicht meinetwegen bin ich heute hergekommen, sondern deinetwegen. Es läßt mir keine Ruhe, dich dein Herz an einen Menschen hängen zu sehen, der deiner nicht würdig ist. Höre mich ruhig an. Ich weiß nicht, ob du die Zeitungen heute morgen gelesen hast – –«

»Ich habe sie gelesen.«

»Du mußt mir zugeben, aus allen Berichten klingt ein starkes Mißtrauen gegen den Grafen Hersberg hervor. Sein ganzes leichtsinniges Leben ist bei diesem Anlaß ans Licht gezogen worden, und selbst einmal angenommen, daß er unschuldig ist – – –«

»Er ist unschuldig.«

» Semper aliquid haeret, – es wird immer ein Makel an ihm haften bleiben. Du, Hanna, bist mir zu gut für solch einen gezeichneten Menschen. Ich spreche heute nicht als Bewerber und Liebhaber zu dir, sondern als dein Freund und Verwandter. Und ich kann dir immer nur das eine wiederholen: mache dich frei von diesem Gefühl, das er nicht verdient.«

Ein kurzes Auflachen von ihr unterbrach ihn. »Mich frei machen von diesem Gefühl! Kann man das, wenn man liebt? Versuch' es doch, ob du selber es kannst, – aber ich sage dir, du hast niemals geliebt, wenn du das über dich vermagst.« Sie schwieg eine Sekunde lang, dann stand sie mit einer energischen Bewegung auf. »Ich bin dir trotzdem dankbar für deine Worte, Vetter. Den ganzen Tag über, seit ich die heimtückischen Verdächtigungen der Zeitungen gegen Stefan gelesen habe, lag ein halber Entschluß in meiner Seele. Jetzt ist er zum ganzen geworden. Oeffentlich, vor aller Welt will ich mich für Stefan erklären; durch meine Verlobung mit ihm will ich den Leuten sagen: er ist unschuldig.«

»Hanna!«

»Das war dein Zweck nicht, ich weiß es. Aber – –«

»Hanna, – gegen den Willen deines Vaters – – –«

»Ich habe meinen Vater lieb von ganzem Herzen und würde vieles, vieles für ihn opfern. Aber dies eine nicht, – meine Liebe nicht. Ich selbst gehöre mir selbst, ich will mich schenken können, wem ich will. Und mein fester Entschluß wird meines Vaters Widerstand brechen, ich weiß es.«

Es war, als wenn Glaritz unter dem Gewicht ihrer Worte zusammensänke in sich selbst. Sein Kopf neigte sich, wie zu schwer geworden, seine Zähne traten weiß hervor auf der von ihnen mißhandelten Unterlippe. Zuckend bewegten sich Finger und Arme. So stand er da gleich einem Bilde stummer Verzweiflung.

Und unausgesprochen blieb, was mit so vulkanischer Gewalt in ihm arbeitete. Das leise Hereinkommen des Dieners verhinderte weiteres Gespräch. Er brachte seiner Herrin eine Visitenkarte, die sie mit einer Bewegung unwilligen Erstaunens las. Auch ihr »Ich lasse bitten« kam widerstrebend heraus, und als der Diener gegangen war, fügte sie, zu Glaritz gewandt, mißmutig hinzu: »Die Baratta kommt mich besuchen. Ich weiß nicht, was diese Frau von mir will.«

Bevor Glaritz etwas erwidern konnte, hatte die Tür sich schon geöffnet und mit ihrem Rahmen die Figur der Künstlerin, die dort noch für eine Sekunde zaudernd und hereinspähend stehen blieb, umschlossen gleich einem schönen, in dunklen Tönen gemalten Bildnis. Die Baratta war in tiefer Trauer, und ihr bleiches, vom Gram gezeichnetes Gesicht mit seinen großen, glühenden Augen war in der Umfassung von schwarzem Haar und Schleier von einer steinernen Schönheit, in der ein harter Zug von Grausamkeit wohnte.

Nach dem augenblicklichen Zaudern kam sie schnell herein mit großen, elastischen Schritten. Sie blieb vor Hanna stehen und betastete mit suchenden Blicken ihr Gesicht, ihre Gestalt, während unter kurzen, eiligen Atemzügen ihre Brust sich mühsam bewegte. Sie sprach keine Silbe zur Begrüßung, begründete mit keinem Wort ihr Erscheinen, zerbrach alle gesellschaftlichen Formen und sagte nur mit einem noch verhaltenen Drohen in ihrer Stimme: »Ja, Sie sind es.«

Hanna trat unwillkürlich einen Schritt vor der schwarzen, unheimlichen Erscheinung zurück. »Was wünschen Sie von mir?«

»Ich will Sie sehen.«

»Dieser Wunsch ist Ihnen erfüllt.«

»Sie meinen, ich soll wieder gehen? Vorher müssen Sie hören, was ich zu sagen habe. Dreimal haben Sie meinen Weg bis jetzt gekreuzt, und jedesmal hat es Unheil für mich bedeutet. Aber dies Unheil war namenlos, ich wußte nicht, wer Sie waren. Schrittweis bin ich hergetrieben worden bis in dies Haus. Das letztemal stand ich verzweifelnd, halb wahnsinnig vor dem Pavillon Ihres Gartens und sah den Schatten dieses Gesichtes hier vor mir auf dem Vorhang an seinem Fenster. Der Schatten dort hat mich hierher geführt, ich stehe jetzt vor Ihnen und sehe, Sie sind es – –«

»Ich bin – – –«

Vergeblich war Hannas Versuch, den Redestrom der Halbrasenden zu hemmen; er durchbrach und überflutete jedes Hindernis. »Ich wäre vor Tagen schon hergekommen, aber ich war völlig zusammengebrochen unter dem Schlag, der mich getroffen hatte. Wahnsinn oder Betäubung war die Losung. Ich nahm Schlafmittel auf Schlafmittel und hoffte dabei, nicht wieder zu erwachen. Ach, mein Wunsch ist unerfüllt geblieben. Ich bin aufgewacht und mit mir zugleich mein Haß. Mein Haß auf die Frau, die dies gräßliche Schicksal über mich gebracht hat. Jetzt weiß ich auch, wie sie heißt, – Sie sind meines Mannes Verderberin gewesen, Fräulein Hanna Rainer!«

»Sie sprechen im Wahnsinn – –«

»Dieser Wahnsinn ist hellsehend. Seitdem ich Ihnen begegnet bin, damals in der Wohnung meines Mannes, hat Ihr Gesicht mich verfolgt bei Tag und bei Nacht. Ich wußte, fühlte, Sie wollten ihn mir nehmen, und Sie haben ihn mir genommen. Haben ihn an sich gelockt, an sich gekettet fester und fester, und als er sich sicher fühlte, haben Sie das Gift gemischt, an dem er gestorben ist.«

»Nun ist es genug!«

»Schweigen Sie!«

Gleichzeitig mit Hanna hatte Glaritz die Worte gerufen, war zu der Tobenden herangetreten und hatte mit eisernem Griff ihre Hand erfaßt. Und es war, als wenn diese Berührung der Männerhand, in deren Beben ein heißer Zorn sich verriet, ihre Leidenschaft besänftigte. Für einen Augenblick verstummten ihre Lippen, sie starrte wortlos auf Glaritz.

Er aber herrschte sie noch einmal an: »Schweigen Sie, sag' ich. Sie haben etwas Unerhörtes gesprochen, haben es gewagt, hier diese Dame schuldig zu nennen an Ihres Mannes Ermordung. Wagen Sie das nicht noch einmal, hüten Sie sich vor mir!«

Mit Blicken, aus denen widerstrebende Bewunderung seiner energischen Männlichkeit sprach, schaute sie den Wütenden an, aber sie gab sich nicht überwunden. »Wer sind Sie?« fragte sie, den Kopf mit stolzer Bewegung zurückwerfend. »Wer gibt Ihnen das Recht, so zu sprechen?«

»Ich bin ein Freund und Verwandter dieses Hauses. Und als Arzt jenes Theaters, in dem Ihr Gatte starb, war ich von Anfang an in der Lage, den tragischen Vorgang in allen seinen Einzelheiten zu verfolgen. Ich kenne den Gang der Untersuchung und kenne den Weg, den der Verdacht nehmen wird und nehmen muß. Und kann Ihnen sagen: diese Dame hier ist unschuldig wie Sie selbst, unschuldig, so wahr ich Ihrem Gatten zur Seite stand in seiner Sterbestunde.«

»Sie waren bei Xaver, bei meinem geliebten Xaver? –«

»Leider kam ich zu spät. Aber das gibt mir ein Recht, Ihnen zu sagen: Seien Sie gerecht, seien Sie vernünftig.«

Er sprach jetzt ein wenig ruhiger, nicht mehr so fortgerissen von wildem Zorn, aber immer noch mit großer Bestimmtheit.

»Sie haben ihm zu helfen versucht, das Leben dieses Wundermenschen retten wollen. Lassen Sie mich Ihnen die Hände küssen, mich Ihnen auf meinen Knien danken – – –«

Sie sank wirklich vor ihm auf die Knie, faßte seine Hände, ließ Tränen und Küsse darauf niederfallen mit einer wilden Theatergeste, schön und unwahr zugleich. Sich gewaltsam freimachend, sprach er weiter. »Sie haben einen großen Schmerz erlebt, ich weiß es. Aber dadurch dürfen Sie sich nicht sinnlos und blind machen lassen. Bitten Sie Fräulein Rainer um Verzeihung.«

»Ich um Verzeihung bitten? Das wird niemals geschehen. Ich weiß, was ich weiß, und ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Nun kann ich gehen. Aber Sie haben mir wohl getan, Sie sind ein Mann.«

Sie wandte sich um, ohne noch einen Blick zu Hanna hinüber zu werfen, und rauschte hinaus, malerisch umweht von ihrem langen, schwarzen Witwenschleier.

Hanna hatte mit ineinandergekrampften Händen stumm der Szene zwischen den beiden zugeschaut. Jetzt atmete sie tief und sagte zu Glaritz, der nahe zu ihr herangetreten war: »Ich danke dir, daß du so tapfer für mich eingetreten bist. Für den Augenblick war ich wirklich betäubt von ihren brutalen Worten und hätte mich vielleicht nicht so – – –«

Sie brach ab mitten im Satz. »Aber es ist ja gleich. Auf jeden Fall bin ich dir dankbar.«

»Auch ich bin glücklich, daß ich hier war. Deutlich und klar liegt nun der Weg vor mir, den ich zu gehen habe. Von dir muß jeder Verdacht und jede Gefahr fern bleiben, Hanna. Das wäre zu furchtbar, wenn man dir, – dir die Schuld an dieser Tat aufzubürden versuchte. Das müßte ja den wirklichen Täter wahnsinnig machen, wenn er es erführe. Nein, das muß verhindert werden um jeden Preis. Und ich will nicht ruhen, bis ich dich frei gemacht habe von jedem Schatten eines Verdachtes, den dies wahnsinnige Weib auf dich werfen könnte. Mag darüber zu Grunde gehen, wer will, – du sollst nicht leiden, Hanna, du nicht!«

Er wartete nicht auf Antwort von ihr, gab ihr auch nicht seine Hand, sondern ging schnell hinaus, von seinem Entschlusse getrieben.

Hanna blieb allein. Sie legte die linke Hand auf die Stirn und bewegte den Kopf darunter langsam hin und her. Dann sank ihr der Arm schwer herab, und sie fing an, in tiefem, angespanntem Grübeln auf und nieder zu gehen. Das dauerte geraume Zeit. Mitunter blieb sie stehen, als wenn ein Hindernis vor ihr aufgetaucht wäre oder als wenn vor den Augen ihres Geistes etwas daläge, was mit besonderer Genauigkeit betrachtet werden müßte. Jedesmal aber machte sie sich wieder los, wies das, was ihre Schritte gehemmt hatte, mit einer Handbewegung von sich und setzte die ruhelose Wanderung fort.

Zuletzt machte sie Halt an einem der beiden Fenster, die nach dem Vorgarten hinausgingen. Gesträuch und Bäume standen mit schon gelichtetem Laub, und über den schmalen Garten konnte sie zur Straße dahinter hinübersehen. Eine Laterne war auf der anderen Seite gerade gegenüber, und in ihrem Lichte sah Hanna zuweilen dunkle Menschengestalten gleich flüchtigen Schatten vorübergleiten. Aber dann erst, als eine von diesen Schattengestalten dort stehen blieb und scheinbar unverwandt nach ihr selbst hinüberschaute, haftete Hannas Blick fester und mit Bewußtsein darauf. Es war ein Mann, der dort stand, aber sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil der Laternenschein den Schatten seines Hutrandes darüber breitete. Jetzt sah sie, daß er diesen Hut vom Kopfe hob und nach ihr her grüßte. Während er so den Schattenschleier für einen Augenblick von seinem Gesichte fortnahm, und während sie selbst unwillkürlich mit leichter Kopfbewegung seinen Gruß erwiderte, konnte sie jetzt erkennen, wer ihr jenseits der Straße gegenüberstand.

Rasch trat sie nun vom Fenster zurück. Aber dann schien ein plötzlicher Entschluß ihr gekommen. Die Zweifel und Fragen, die sie hin und her gewälzt hatte während ihres langen Umherwanderns, schienen auf einmal gelöst. Sie ging rasch zu einem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Raumes, entzündete die Stehlampe darauf und öffnete die Schreibmappe, die dort lag.

Dann glitt eine Feder in ihrer Hand eilig über einen Briefbogen, doch schrieb sie nur wenige Zeilen, überlas, faltete, verschloß den Brief. Auf dem Umschlag aber waren die Worte zu lesen: »Dem Variété-Künstler, Herrn Amaru. Hotel zur Stadt Hamburg.«


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