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Zweites Kapitel

Tief in Gedanken, den Kopf zur Erde gebeugt, ein paar müde Falten um den festgeschlossenen Mund, schritt Xaver Stieler dahin, so ganz unähnlich in seiner Haltung dem von der Menge vergötterten Künstler, daß manch einer stehen blieb und ihm verwundert nachschaute. Wo waren die Kraft, Elastizität, Beweglichkeit geblieben, die den Besitzer dieses ebenmäßig schönen Körpers berühmt gemacht hatten auf beiden Hälften der Erdkugel? Welche Gedankenlast lag so schwer auf seinem Haupte, daß unter ihr das gewohnte Siegerlächeln von seinen Lippen verschwunden war?

Ganz langsam, widerwillig ging er dahin. Einmal blieb er vor einer großen Anschlagtafel stehen, auf der in Riesenbuchstaben sein drittletztes Auftreten im Edentheater angekündigt wurde. Sein Bild prangte darüber, eindringliche Reklame sprach von ihm als erstem Universalkünstler der Welt, von dessen Leistungen die ganze zweite Hälfte des Programms ausgefüllt wurde. »Schwerer wird es mir doch, als ich gedacht hatte«, sagte Stieler leise vor sich hin. Dann aber hob er den Kopf, seine Gestalt straffte sich; jetzt erkannten die Vorübergehenden wieder in ihm den Mann unerreichter Kraft und Energie. Die »Carmen«-Melodie vor sich hinsummend: »Auf in den Kampf, Torero«, ging er in der wachsenden Dämmerung nun mit festen, raschen Schritten dahin. Das Pflaster klang unter seinem Fuß.

Er machte Halt in einer Straße mit gleichmäßigen Fronten von dicht aneinandergebauten Häusern ohne Vorgarten- oder Baumesgrün. Das Haus, an dem Stieler für einen Augenblick in die Höhe schaute, bevor er eintrat, war mit allerhand Ornament von Stuck beklebt, worunter ein grinsender Frauenkopf über jedem der Bogenfenster wiederkehrte. »Zur lachenden Maske« hatten die Nachbarn es darum getauft, ohne daran zu denken, wie sehr dieser Name für manche Bewohnerin dieses Hauses paßte.

Mit neuerdings verdüstertem Gesichte stieg Stieler die schon hellerleuchtete, breite Treppe zu dem ersten Stockwerk hinan. Hier war an der Tür eine blanke Messingtafel, auf der in großen Buchstaben »Rosa d'Otranto« zu lesen war, darunter hielt ein Reißnagel eine gesucht kleine Visitenkarte fest, worauf »Afra Baratta« geschrieben stand. Stieler drückte den weißen Knopf der elektrischen Glocke, die mit ungewöhnlich starkem, tiefem Klang ertönte.

Gleich darauf ließen kurze, rasche Schritte sich drinnen vernehmen, und in der geöffneten Tür erschien Rosa d'Otranto in eigener, ältlicher Person mit einem zusammengeschrumpften Gesichte, das einem zu weit ins neue Jahr hinübergenommenen Apfel ähnlich war. Man sah es ihr nicht an, daß auch sie vor langer Zeit einmal vom Glanze der Variété-Bühne verklärt gewesen war. Aber sie hatte sich wirklich zehn Jahre lang, ihre damals mollig-hübschen Glieder in rosenfarbiges Tricot gekleidet und ein krampfhaftes Maskenlächeln wie hineingemeißelt im runden Gesichte, von einem Kunstschützen allabendlich Glaskugeln, Tonpfeifen und Brillantsterne vom Kopf und aus den Händen schießen lassen. Durch einen Unglücksfall Mutter geworden, hatte sie dieser Kunst Lebewohl sagen müssen, weil ihre Figur sich nicht mehr für das rosenfarbige Tricot eignete. Nach einem gescheiterten Versuch mit abgerichteten Schildkröten hatte die Not sie zur Entdeckung einer kleinen, angenehmen Stimme in ihrer Kehle geführt, und sie hatte sich tapfer von Café chantant zu Café chantant durchgesungen, bis ihre Tochter herangewachsen war. Die bildete nun, zur Abwechslung in blaues Tricot gekleidet, mit einer bunten Schar von dressierten Papageien und weißen Kakadus eine gesuchte Nummer der bunten Bretterwelt. Rosa d'Otranto selbst aber vermietete Zimmer an Größen des Variétés, neuerdings auch des Kinos und sonnte sich im Abglanz ihres Ruhmes. Aus ihrer eigenen Glanzzeit hatte sie nur den schön klingenden Künstlernamen gerettet; sie hieß in Wahrheit Josefine Fengefisch.

Die Vergangenheit der Besitzerin hatte den Räumen der Wohnung auch ihren Stempel aufgedrückt. Es gab da gleich beim Eintritt viel roten, unechten Samt mit breiten Goldfransen und viele Spiegel mit glatten, dicken Goldrahmen. Die waren über Marmortischchen mit künstlichen Rosensträußen in Alabastervasen einander gegenüber aufgehangen, so daß endlose Perspektiven von Rosensträußen entstanden. Blitzende Wandleuchter waren durch bogenförmig niederhängende Ketten von glitzernden Glasprismen miteinander verbunden. So wirkte der Korridor, breit und hell beleuchtet wie die Treppe, beinahe wie die Dekoration einer Variété-Bühne.

Rosa d'Otranto zwinkerte Stieler freundlich mit ihren matten Augen an. Durch das jahrelange Masken-Lächeln oder durch das Hineinstarren in elektrisches Licht hatte sie sich eine Schwäche der Gesichtsmuskeln zugezogen und zwinkerte beständig mit den Augen, wobei ganze Strahlenkränze von kleinen, scharfen Falten aufzuckten. Aber in dem verschrumpften Apfelgesicht war viel gutmütige Freundlichkeit, als die kleine Dame Stieler begrüßend bei der Hand nahm und ihm leise zuflüsterte: »Unser Barattchen ist heute wieder furchtbar schlechter Laune.«

»Nichts Neues in ihrem Repertoire,« sagte der Künstler, ihr weiteres Reden, wozu sie sehr bereit war, kurz abschneidend, und ging ohne weiteres auf eine Tür zu, die mit roten Samtbehängen verziert war. Nach einem ganz kurzen Anklopfen trat er ein, ohne zu beachten, ob ein »Herein!« von drinnen ihn einlud.

Auch in diesem Zimmer war viel Rot, Gold und Glas, aber Afra Barattas Gestalt beherrschte den Raum so sehr, daß alles andere daneben verschwand. Noch im schlangenschillernden Kostüm der Salome lag sie langausgestreckt auf einem Divan, den ein Tigerfell von ungewöhnlicher Größe bedeckte. Sie hatte die linke Hand unter den Kopf gelegt, in der rechten hielt sie eine Zigarette, die das Gemach schon mit einem weichen Dufte von türkischem Tabak erfüllt hatte. Das warmgoldene Licht einer großen elektrischen Hängelampe mit gelbseidenem Schleier fiel auf sie herab und streute glitzernden Schimmer auf ihr Kostüm.

Sobald Stieler eintrat, warf die Baratta die Zigarette rasch in ein Messingbecken auf einem runden Rauchtischchen und sprang empor mit einer aufschnellenden Bewegung, durch die sie berühmt war in leidenschaftlichen Kinoszenen.

»Endlich!« sagte sie, mit ausgestreckten Händen ihm entgegengehend. Als er aber, ihre Begrüßung nicht beachtend, an ihr vorüber sah, verdüsterte sich ihr Gesicht, und ihre Hände sanken schwer herab. »Ich habe dich erwartet,« sagte sie mit einer dumpfen, von Leidenschaft rauhen Stimme. »Heute, gestern, vorgestern. Ich habe gewartet und gehorcht, ob du nicht kämest. Aber es war vergeblich, immer vergeblich.«

»Es ist recht, ich hätte schon vorgestern kommen können und kommen sollen. Aber ich war feige.« Wie wenn er dem Zorn über sich selbst Ausdruck leihen müßte, stieß er einen Stuhl, den er für sich herbeigezogen hatte, fest auf den Boden. »Jawohl, ich war feige.«

»Wieso, – warum?«

»Weil ich mich vor dir fürchtete. Vor deinen Szenen. Vor einer Wiederholung alles dessen, was ich hundertfach, tausendfach durchgemacht habe mit dir, und was mich endlich dahin getrieben hat, jetzt ein Ende zu machen um jeden Preis.«

Mit einem dumpfen Schmerzenslaut sank sie, wie wenn die Knie sie nicht mehr trügen, auf den Diwan und krampfte die Finger in das Tigerfell. »Töte mich!« schrie sie laut auf. »Töte mich wenigstens gleich, – martere mich nicht langsam zu Tode. Wenn du von mir gehst, wenn du mich wirklich verläßt, will ich und kann ich nicht mehr leben. Ohne dich ist mir das Dasein eine Qual. –«

»Schreib es dir selber zu, wenn es das ist,« fiel ihr Stieler mit einer lebhaft abwehrenden Bewegung seiner linken Hand ins Wort. »Ich tue das, was geschehen muß und geschehen wird, weil mir mein Dasein durch dich nun schon jahrelang zur Qual geworden ist. Ich habe dich geliebt, niemand weiß es besser als du, so toll und widerstandslos, wie nur ein Mensch überhaupt lieben kann. Aber du hast – –«

»Höre mich doch, Xaver. Ich liebe dich heute wie nur jemals in unserer glücklichsten Zeit. Stoß mich nicht von dir, verlaß mich nicht – –«

»Laß uns ruhig und vernünftig miteinander sprechen. Ich kann sie nicht mehr ertragen, diese Theaterszenen. Sie sind es ja hauptsächlich, die mir das Leben an deiner Seite verleidet haben. Wenn ein Mensch dir jemals Beweise von seiner Liebe gegeben hat, bin ich es gewesen. Ich habe meinen Stand, meine Heimat, meine Familie, meine gesicherte Zukunft aufgegeben um deinetwillen. Ich habe den deutschen Standesherrn gegen den internationalen Variétékünstler vertauscht, nur um dich besitzen zu können. Mein Vater hat mich enterbt, weil ich dich geheiratet habe –«

»Ja, ja, ja, das weiß ich und habe dir dafür gedankt mit meiner ganzen wahnsinnigen Liebe.«

»Du hast recht, wenn du sie wahnsinnig nennst. Was dir Liebe heißt, ist ein wildes Feuer, in dem alles verbrennt: Vertrauen, Ruhe, Frieden und Glück. Ich schelte dich nicht, mache dir keine Vorwürfe. Du bist, wie du bist, kein ganzer Mensch kann gegen seine Natur. Aber neben dir leben kann und will ich nicht länger.«

Mit einer ihrer schnellenden Bewegungen fuhr sie herum, beugte den Kopf gegen ihn vor. »Wer ist es, die dich mir nimmt?« In ihren Worten war jetzt ein zischender Ton.

»Du selbst tust es, niemand sonst auf der Welt. Wir haben gute, glückliche Zeiten gehabt am Anfang unserer Ehe, doch waren sie leider nur allzu kurz durch deine Schuld. Unsere besten Stunden wurden mir schon damals getrübt von deiner wilden, wahnsinnigen Eifersucht. Ihr allein gib die Schuld an allem, was geschehen ist und geschieht. Auch der geduldigste Mensch erträgt nicht solche täglich sich wiederholende Qual.«

Sie hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und ihren vorgeschobenen Kopf in die Hände gepreßt. Ihre Lippen bewegten sich, als wenn sie lautlos redete; seine Worte klangen ungehört an ihrem Ohr vorüber.

Gleich einem schwirrenden Pfeil kam es jetzt von ihren Lippen: »Wer war die Dame, die du heute gegrüßt hast?«

»Wo? Welche Dame?«

»Verstell dich nicht. Auf dem Platze dort, bei der Salome-Probe.«

»Du gibst mir den Beweis für das, was ich gesagt habe, wenn ein Beweis noch nötig war. Aus jeder noch so harmlosen Begegnung –«

»Harmlos? Du meinst wohl, ich hätte die Dame nicht erkannt? Aber ich habe meine guten Augen, auf die kann ich mich verlassen. Es war die Dame, die vorige Woche bei dir war in deiner Wohnung. Der ich dort begegnet bin, die so verlegen und eilig war, weil ich sie bei dir überrascht hatte –«

»Und wenn sie es war –«

»Sie war es, – ich sage dir's ja, daß ich es weiß. Also war die heutige Begegnung nicht so harmlos, wie du behauptest: nicht umsonst hat es mir einen Stich gegeben, daß ich meinte, laut aufschreien zu müssen, als ich sah, wie du sie dort grüßtest –«

»Also das war der Grund, weshalb du die Probe störtest. Fehlt es dir denn wirklich an jedem Gefühl dafür, wie grenzenlos lächerlich du dich machst?«

»Weiche mir nicht aus. Wer war es, ich will es wissen? Aber ich kann es jetzt auch erfahren ohne dich; seit heute weiß ich, wer es mir sagen kann. Und ich ginge gleich morgen, um zu hören, was ich wissen will, wenn ich nicht abreisen müßte nach Petersburg, – heute noch. Aber wenn ich wiederkomme, dann sei gewiß –«

»Daß du dich lächerlich machen wirst, wie du es heute tust und hundertmal vorher getan hast. Ich zweifle daran keinen Augenblick. Aber ich bitte dich, laß diese Dame aus dem Spiel. Sie will mir nur Gutes –«

»Gutes? Jawohl! Das Gute, das die Frauen den Männern tun, das die Frauen allein den Männern tun können, das will sie dir. O ja, das war endlich einmal ein wahres Wort von dir nach allen deinen Lügen.«

»Mach mich nicht wild. Ich lüge nicht, ich bin zum Lügen zu stolz. Und ich bin hergekommen, um dir die volle Wahrheit über meine Zukunftspläne zu sagen. Du hast immer noch nicht glauben wollen, daß ich wirklich und ernsthaft an den Abschied von der Bühne dachte, hast es für einen Reklame-Trick angesehen, der allerdings keineswegs den Reiz der Neuheit mehr hätte. Wie du selbst einmal vorgeschlagen hast, wir sollten der größeren Zugkraft wegen für unverheiratet gelten, demnach also auch keine gemeinsame Wohnung haben, so schien dir mein Plan von der gleichen Rücksicht eingegeben. Die Künstlereitelkeit und Leidenschaft für den Erfolg ist ja mitunter in dir sogar noch größer als die Eifersucht. Ich aber – du hast mich auch in diesem Punkte nie verstanden – habe die Künstlereitelkeit in solchem Sinne niemals gefühlt. Ich habe mein Leben aus Liebe zu dir auf einem neuen, eigenen Boden aufgebaut; nun du meine Liebe getötet hast, verliert auch dieser Bau seinen Zweck. Mein Leben soll sich wieder zurückwenden in die verlassene Bahn. Ich habe die Hoffnung, daß mein Vater sich mit mir versöhnt, und ich verlange von dir, daß du mir die volle Freiheit wiedergibst, – ich verlange von dir die Zustimmung zur Scheidung oder Trennung.«

»Das ist ja wunderhübsch alles ausgedacht und geordnet,« sagte die Baratta mit erzwungener Kälte. »Wunderhübsch! Nur eins fehlt noch in deiner Darstellung. Zufällig die Hauptsache. Der Grund nämlich, weshalb das alles geschehen soll, weshalb du wieder frei werden möchtest von mir. Aber ich kenne den Grund, habe diesen Grund heute lebendig mit Augen gesehen in Fleisch und Blut. Ein Weib ist es, dem ich Platz machen soll. Diese Dame, die bei dir war in deiner Wohnung, die du heute gegrüßt hast mit leuchtenden Augen.«

Sie war aufgestanden, während sie sprach, und langsam auf ihn zugekommen, bis jetzt auch in der Bewegung noch beherrscht und erzwungen ruhig. Aber nun packte die Leidenschaft sie gleich einem Wirbelsturm, in dem ihre Glieder zitterten wie gepeitscht. Ihre Stimme klang hoch und schrill, gleich zersplittertem Glas. »Du hast nur die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ich gebe dich niemals frei, will nichts wissen von Scheidung oder Trennung. Und bevor ich es mit ansehe, daß dieses Weib an meine Stelle kommt, – verlaß dich darauf, – ich töte vorher sie, dich und mich selbst!«

Sein Mund verzog sich mit einem Ausdruck bitteren Ekels. Er antwortete nicht, sondern ging ruhig nach einer Ecke des Raumes und nahm von einer dort stehenden Etagère eine kleine Schachtel. Die warf er mit verächtlicher Bewegung auf den Tisch neben dem Divan und sagte: »Da, nimm eins von deinen berühmten Beruhigungspulvern. Die haben schon öfter geholfen, wenn du mit Selbstmord und Massenmord gedroht hast.«

»Ich will keine Beruhigung. Ich lebe nur in der Leidenschaft, in dieser einen, mein ganzes Wesen erfüllenden Leidenschaft für dich. Du sollst mein sein, und ich will nichts weiter auf der Welt. Selbst meine Kunst ist mir nichts im Vergleich zu dir. Wenn ich dich sehe, wenn ich deinen geliebten Körper fühle –«

Sie hatte seinen Arm erfaßt, um ihn an sich zu ziehen, er aber schüttelte sie von sich ab mit einer heftigen Bewegung des Widerwillens. »Laß mich los. Das ist vorbei. Totes macht niemand wieder lebendig. Du hast getötet, was uns verband, nun trage die Folgen. Aber ich sehe, daß es unmöglich ist, vernünftig mit dir zu reden, ich werde mich von jetzt ab auf schriftlichen Verkehr beschränken. Ein Anwalt wird mir dabei behilflich sein. Leb wohl.«

»Xaver!« Es war ein Schrei haltloser Verzweiflung, womit sie jetzt an ihm vorüber zur Tür stürzte, beflügelt von ihrer Leidenschaft. Sie warf sich dort vor ihm auf die Knie, hob die Hände mit ineinandergekrampften Fingern flehend und beschwörend empor. In ihrem gleißenden Schlangengewande, vom dunklen Haar wie von einem zerrissenen, durchsichtigen Mantel umhüllt, Hals, Kopf und Hände funkelnd von schwerem, blitzestreuendem Geschmeide, war sie berauschend schön in diesem Augenblick, und auch ihre Stimme wurde weich und voll durch die Wärme des Gefühls. »Verlaß mich nicht, geh nicht von mir fort. Sieh, du bist mir notwendig zum Leben wie Licht und Luft. Mißhandle mich, schlag mich, tritt mich mit Füßen, aber verlaß mich nicht. Ich will ja nur dich auf der Welt. Alle die Huldigungen, womit mich die Menschen überschütten, sind mir nichts gegen ein Wort von dir. –«

»Quäle mich nicht so bis aufs Blut. Ich habe dir nachgegeben, hundertmal, tausendmal, weil ich Frieden und Eintracht wollte, – du bist aber stets geblieben, die du warst. Jetzt ist es aus. Ich will und kann und mag nicht mehr. Ich habe nur einen Wunsch noch: still unter Menschen zu leben, die mich nicht quälen, in einem friedlichen, behaglichen Heim –«

Gleich einer zum Bisse sich aufrichtenden Schlange schnellte sie bei seinen Worten empor. »Ein Heim, das diese Dame dir bereiten soll! Jetzt ist es klar, jetzt ist es heraus –«

»Weib, mache mich nicht rasend. Ein Engel an Geduld müßte toll werden durch dich. O, wenn ich doch nicht hergekommen wäre! Hier bei dir lebt alles wieder auf an Schmerz und Gram, was ich neben dir durchgemacht habe. So fest war mein Vorsatz, ruhig und gleichmütig zu bleiben, aber du machst es mir immer wieder unmöglich, zerrst an meinen Nerven, daß ich meine, sie reißen. Alles an mir zittert und bebt, und gerade jetzt vor meinem Auftreten, wofür ich immer die Kraft von zehn Menschen gebrauche. Wenn ich doch nicht hergekommen wäre zu dir!«

Er ging ein paarmal hin und her in heißer, zorniger Aufregung, zerrte mit seiner Hand am Hemdkragen, als wenn er ihn erstickte. Seine Frau stand einen Augenblick schweigend, starr auf ihn hinschauend; widerstreitende Gefühle schienen in ihr zu kämpfen. Dann kam ein Schluchzen aus ihrer Brust. »Werde mir nicht krank! Stirb mir nicht! Verlaß mich nicht, Xaver!«

Stieler bewegte Kopf und Oberkörper hin und her in ärgerlicher Abwehr. »Laß die schönen Worte. Hilf mir lieber, daß ich ruhig werde für mein Auftreten. Ich darf nicht absagen, darf dem Direktor keine Schwierigkeiten machen, gerade vor dem Schlusse der Vorstellungen.«

Er war stehen geblieben, sein Blick war auf die Schachtel gefallen, die seine Hand vorhin auf den kleinen Tisch geworfen hatte. Jetzt hob er sie auf. »Gib mir davon. Du behauptest ja, daß es beruhigt. Ich muß ruhig werden.«

Nun kam lebhafte Bewegung in ihre Gestalt. »Ja, ja, das hilft. Ich gebe dir davon, – leg dich nieder, dann wirkt es umso besser.«

Eilig ging sie nach einer Kommode hinten im Zimmer, und ein leises Klirren von Glas und Wasserflasche klang von dort herüber. Abgewandt von Xaver, der sich auf den Divan geworfen hatte, bereitete sie den Trank, dann trug sie die weißlich schimmernde Flüssigkeit hinüber zu seinem Platze.

»Nimm, trink, – in einem Zuge trink es hinunter.«

Er tat, wie sie geheißen hatte, nahm und leerte das Glas.

Die Baratta trat an sein Lager und schaute gespannt nieder auf ihn mit einem Gesicht, in dem noch wacher Zorn, Liebe, Spannung und Mitleid miteinander kämpften. In tiefem Schweigen vergingen wohl fünf Minuten. Dann sagte Stieler: »Ein wenig ruhen will ich noch, dann muß ich fort.«

»Fort, warum? Es ist noch nicht halb sieben, du hast noch beinahe zwei Stunden Zeit, bis du zum Theater mußt. Solange bleib ruhig hier bei mir.«

»Das ist nicht möglich, weil ich noch eine Verabredung habe vor dem Theater.«

»Eine Verabredung? Mit wem? Was für eine Verabredung?«

»Du weißt, solche Fragen sind mir unangenehm. Ich will Herr bleiben über mein Tun und Lassen. Also, – noch ein paar Minuten, dann muß ich gehen.«

Sie preßte die Lippen gewaltsam aufeinander und schwieg. Aber ihr vom raschen, heftigen Atem bewegter Körper zeigte, daß neue Leidenschaft in ihr aufgewacht war. Ein Entschluß arbeitete sichtlich in ihr und gab ihr zum Schweigen die Kraft. Auch als Xaver nach einer Weile sich erhob und zum Fortgehen rüstete mit einem freundlichen Dankeswort für ihre Bemühungen um ihn, blieb sie gehalten und wortkarg.

Sobald er jedoch die Tür hinter sich geschlossen hatte, stürzte sie nebenan in ihr Schlafzimmer und kam ein paar Augenblicke später wieder heraus in verwandelter Gestalt. Ein langer, dunkelbrauner Lodenmantel, dessen Kapuze sie sich über den Kopf gezogen hatte, hüllte sie völlig ein, verbarg ihre flimmernde Salome-Tracht und ließ die Theaterfürstin zur nonnenhaft finsteren Erscheinung werden. Mit hastigen, leisen Schritten durcheilte sie des Korridors billige Pracht und schlüpfte, von ihrer Quartiergeberin ungesehen und ungehört, aus der Tür hinaus und über die Treppe zur Straße hinunter.

Die Gegend, in der sie wohnte, war nicht sehr belebt, und bald bog die Gestalt ihres Mannes, den ihr Blick sofort eingeholt hatte, seitab in Villenstraßen ein, die noch stiller und menschenleerer zwischen Gärten und Baumreihen dalagen. Auch war hier die Beleuchtung spärlicher als in der inneren Stadt. Afra durfte trotzdem nicht nahe herankommen, damit er ihren Schritt nicht vernahm und sich nach ihr umschaute, doch konnte sie sich auf ihre guten Augen verlassen und gab die Männergestalt vor ihr auch in dem tiefen Baumschatten, der den eilig Schreitenden unter den hoch aufgehangenen elektrischen Lampen manchmal umhüllte, nicht frei.

Hier war tiefe Stille ringsum, nur Hundegebell klang mitunter aus einem der Gärten. Auf den schönen Tag war ein schöner Abend gefolgt; vom klaren Himmel sahen unzählige Sterne mit neugierig-hellen Augen durch einen ganz feinen, herbstlichen Dunstschleier herab. Doch Afra hatte nur Gehör für den leisen Klang von des verfolgten Mannes Fuß, nur Blick für seine dunkle Gestalt in der Ferne. Gleich einem bösen Geiste schlich sie hinter ihm her, jede Schattendeckung mit geschärften Sinnen suchend und nutzend.

Jetzt blieb er stehen, und auch sie hemmte den Schritt im selben Moment, wie plötzlich festgehalten. Xaver stand etwa hundert Schritte von ihr entfernt auf der anderen Seite der Straße vor der eisernen Gittertür eines großen Gartens. Das Gitter setzte sich rechts und links davon auf eine ansehnliche Strecke hin fort, vom zugehörigen Hause war keine Spur zu sehen; es lag entweder mitten im Garten, unter Bäumen versteckt, oder an einer anderen Straße jenseits des Gartens. Nur ein kleiner Pavillon mit weit vorspringendem Dach unterbrach das Gitter links von der Tür und nicht weit von ihr entfernt.

Afra konnte das erkennen, indem sie nach dem augenblicklichen Stehenbleiben wieder ganz langsam vorwärts ging. Sie durfte das wagen; denn gerade hier war schwerer Schatten von tief herabhängenden Baumzweigen, der die schwarze Gestalt schwarz umhüllte. So kam sie näher heran, konnte hören, daß die Gittertür sich öffnete. Von einer Glocke vernahm sie nichts, – ein Zeichen, daß der Gekommene drinnen erwartet worden war. Das trieb Afra vorwärts, rasend, besinnungslos, um ein Wort wenigstens aufzufangen, das drüben gesprochen wurde. Doch die Menschen an der Gittertür waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um einen Blick zu haben für die dunkle Gestalt auf der anderen Seite der Straße. Vernehmlich klang der Ton einer Frauenstimme hinüber zu der bebend Lauschenden, der Ton einer tiefen, melodischen Stimme.

»Das ist schön, daß Sie Wort halten. Bitte, kommen Sie herein.«

Das Dunkel des Gartens verschlang die beiden Gestalten, die Gittertür fiel mit einem vorsichtig-leisen Klang in ihr Schloß. Afra stürzte vorwärts, dorthin, wo sich ihr gegenüber ein erleuchtetes, mit weißgelbem Vorhang von innen verhülltes Fenster in des Pavillons nächtlichschwarzer Wand hell abzeichnete. Für einer Sekunde Dauer wurde jetzt auf diesem Vorhang, einer Figur im Schattenspiel ähnlich, der Oberkörper, der Kopf einer Frau deutlich sichtbar, um sofort wieder zu verschwinden. Aber ein Blick darauf hatte genügt, um Afra's Leidenschaft zu neuem Sturm aufzupeitschen; sie war gewiß, an der scharf auf dem Vorhang abgemalten Linie des Profils den Kopf der Frau zu erkennen, deren Anblick ihr verhaßt war bis in den Tod.

In sinnloser Wut stürzte sie zu der Pforte hinüber und rüttelte vergeblich daran, suchte nach einer Glocke, die sie nicht fand, um dann wieder zurückzulaufen auf den vorigen Platz und ihre geballten Fäuste gegen das helle Fensterviereck im Pavillon hoch erhoben zu schütteln. Ihr Mantel fiel auseinander, in weißem Schimmer leuchteten die nackten, drohenden Arme mit ihrem Schmuck von goldenen Reifen durch das ruhige Wechselspiel von Schatten und Licht. So stand sie dort als eine phantastische, wilde Verkörperung von Wut und Rache.


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