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Achtzehntes Kapitel

Endlich – endlich –!

Ja, Paul – endlich –

Delaroche war mit einem Jubelruf aufgesprungen und auf Martha zugeeilt, die nach tagelanger Pause zum ersten Male wieder alles Gute und Hübsche zu ihm hereintrug, das für ihn untrennbar mit ihrem Anblick verknüpft war. Aber seine Augen verloren ihren heiteren Ausdruck, als er sie ein wenig näher betrachtete.

Du siehst mir angegriffen und aufgeregt aus. Was fehlt dir?

Paul hatte recht. Solange noch Blässe des Gesichtes, plötzlich sie verdrängende Röte, fliegender Atem und unruhiges Umherschauen ihre Geltungskraft als untrügliche Symptome behielten, war gegen seine Diagnose nichts einzuwenden.

Ach Paul! Sie verlor plötzlich ihre gewohnte Selbstbeherrschung und brach in Tränen aus.

Aber was ist denn? So rede doch!

Verzeih mir, ich will nicht weinen. Ich muß dich sprechen, Paul, ganz allein.

Wir sind ja hier allein.

Können wir nicht leicht gestört werden?

So feierlich? Nun, so laß uns ins Sprechzimmer gehen. Komm.

Er schritt voran aus dem Redaktionsbureau und öffnete für sie die Tür zu dem kleinen, weltabgeschiedenen Sprechzimmer, wo die allerintimsten Geheimnisse politischer und nichtpolitischer Natur ungestört verhandelt werden konnten und wo ihm vor kurzem auch die Dame mit dem tanzenden Hute gegenüber gesessen hatte. Sogar das Tageslicht legte hier seine Neugierde ab und ließ den Raum, dessen einziges Fenster nach einem schachtähnlichen Lichthofe hinausging, in einem diskreten Dämmerschein.

So, Schatz, nun setze dich. Und los mit der Beichte!

Du hast das richtige Wort getroffen, Paul. Es ist wirklich eine Beichte, die ich dir ablegen muß.

Nur herunter damit vom Herzen! Ich absolviere dich im voraus.

Nein, nicht so schnell! Du weißt nicht, was ich dir sagen muß. Und ich sehe jetzt selbst, wie unrecht ich an dir gehandelt habe.

Umso rascher schaffe Licht. Vor dem Lichte fliehen die bösen Geister.

Ja, Paul. Also – ich habe dir doch einmal gesagt, daß ich ein Geheimnis vor dir hätte.

Nun?

Dies Geheimnis – war meine Mutter.

Wieso? Du hast mir doch von ihr gesprochen.

Ja, ja, gewiß, oberflächlich. Aber die Hauptsache, die habe ich dir niemals gesagt.

Dann sag sie mir jetzt.

Ich will es auch, aber es wird mir so furchtbar schwer. Paul – ich habe mich dir gegenüber meiner Mutter geschämt!

Geschämt?

Ach, es ist auch wieder nicht das richtige Wort. Kannst du dir denken, daß man die Fehler, die Schwächen, die krankhaften Züge bei einem Menschen mit dem Verstande ganz klar erkennt und ihn doch trotz alledem von Herzen lieb hat?

Ganz gewiß. Ich brauchte dir nur einen ganzen Berg von Fehlern anzudichten, die du nicht besitzest –

Ich habe Fehler genug. Sonst wäre auch dies nicht soweit gekommen. Feige bin ich gewesen, abscheulich feige. Um einer möglichen Unannehmlichkeit aus dem Wege zu gehen, habe ich zehn andere, wirkliche heraufbeschworen. Aber glaube mir, Paul, alles ist nur aus Liebe zu dir geschehen. Weil ich fürchtete, du würdest ärgerlich und mißmutig werden und mich vielleicht weniger lieb haben, wenn du meine Mutter kennen lerntest, habe ich dich verhindert, sie zu sehen, und habe dir niemals die volle Wahrheit über sie gesagt.

Und was ist diese volle Wahrheit?

Ich möchte sie nicht gern vor dir lächerlich machen, aber wenn ich sie objektiv betrachte – sie ist wirklich ein wenig lächerlich. Und wunderlich und unbequem und – natürlich alles nur für Fremde, niemals für mich. Denn ich habe sie lieb und ich sage mir, sie ist nicht ganz gesund, geistig nicht ganz normal. Sie hat eine Eigenschaft zum Beispiel, die mir zu Hause viele Ungelegenheiten und Kämpfe bereitet hat. Eine geradezu krankhafte Neigung treibt sie dazu, anonyme Briefe zu schreiben. Nicht aus Bosheit – aus einer kindlichen Freude am Geheimnis, an kleinen Intriguen, am Schreiben überhaupt. Sie wäre gewiß für ihr Leben gern Schriftstellerin geworden, aber ein erster Versuch ist ihr mißlungen. Ein Verwandter meines Vaters, ein Redakteur, hat ihr das erste Manuskript in so brüsker Weise zurückgeschickt –

Martha, ich glaube, daß ich bereits die Ehre habe, deine Mutter zu kennen.

Wie sollte das möglich sein?

Ist sie gegenwärtig hier?

Ja, das ist es eben, warum ich die letzten Tage so in Unruhe gewesen bin und dich nicht habe sehen können. Sie ist vor ein paar Tagen ganz unerwartet hier angekommen. Als ich neulich auf der Straße so erschrak, hatte ich sie von weitem gesehen. Sie war im Hotel abgestiegen; ich habe sie dann erst in meine Wohnung genommen. Ich selbst war über ihr Kommen am allermeisten erstaunt und überrascht. Sie hat nämlich einen Haß auf die Eisenbahnen, und ehe sie mit einem Dampfschiffe führe, würde sie, glaube ich, vor lauter Angst ins Wasser gehen. Umsomehr muß ich es ihr aber als ein Zeichen der Liebe zu mir anrechnen, daß sie trotzdem die weite Fahrt hierher heimlich gemacht hat. Nur, weil sie um meine Zukunft in Sorge war, weil sie sich von dir ein Bild gemacht hatte – ein Bild, wozu der ihr verhaßteste Redakteur gesessen hatte, jener Mann –

Von dem sie mir selber erzählt hat.

Sollte sie wirklich hier gewesen sein? Ich bin ihr doch diese Tage kaum von der Seite gegangen, und wenn es notwendig geschehen mußte, hat sie mir feierlich versprochen, das Haus nicht zu verlassen.

Ja, liebes Kind, » la donna è mobile«, auch im Halten von Versprechungen. Aber wir können es ja gleich konstatieren. Hat deine Mutter die Eigenschaft, ihren Hut auf dem Kopfe tanzen zu lassen?

Ach, Paul – ja, das hat sie.

Trägt sie eine Brosche aus fünf oder sechs abgebissenen Teelöffeln?

Es sind keine Teelöffel, Paul – aber ich sehe schon, sie ist wirklich hier gewesen. Und nun verstehe ich auch –

Was denn?

Sie ist auf einmal so ganz umgestimmt gegen dich. Früher sprach sie von dir wie von einem Verbrecher und einem Räuber, der ihr das Liebste nehmen wollte, und nun – du bist wohl sehr liebenswürdig gegen sie gewesen?

Ich habe alle Minen springen lassen, obwohl ich nicht wußte, daß es deine Mutter war. Siehst du, was für einen Eroberer du zum Verlobten hast!

Ich habe daran ja niemals gezweifelt. Aber sie ist so unberechenbar, und ich hatte solche Angst, euch beide zusammenzubringen, besonders weil sie so aufs Schreiben versessen ist. Ich glaube, Paul, ich bin recht dumm gewesen.

Er sah ihr mit lachender Freundlichkeit in die Augen. Die Höflichkeit verbietet mir, zu widersprechen. Ein wenig dumm bist du wirklich gewesen, Schatz –

Und schlecht gegen dich, daß ich dir nicht mehr vertraut habe, nicht wahr? Kannst du es mir verzeihen, Paul?

Er streckte die Hand nach ihr aus. Wer sich ohne Sünde fühlt, werfe den ersten Stein auf dich. Wer aber einen so dicken Packen von Sünden auf dem eigenen Buckel hat wie ich, der läßt ihn ruhig am Boden liegen. Ja, ja, von mir bekommst du nächstens auch eine Beichte zu hören –

Die wird so groß nicht sein. Aber ich bin auch noch nicht zu Ende. Das heißt, mit der Beichte wohl, aber ich habe noch etwas zu erzählen. Es ist eigentlich ganz tragikomisch! Denke dir, Paul, daß ich polizeilich beobachtet werde.

Was? Er sah sie mit bestürzten Augen an. Diese Mitteilung schien ihn weit mehr zu treffen als ihre Beichte.

Ja, ja, es ist wirklich so, wenn mich wenigstens nicht alles täuscht. Der eine Schutzmann, der kleine, dicke, rote, den du mir einmal gezeigt hast –

Der Stilke?

Ja, ich glaube, so nanntest du ihn. Der heftet sich seit ein paar Tagen an meine Schritte wie das böse Gewissen. Zuerst bin ich ihm in einem Hause begegnet – eine Frau wohnt darin, die Kostkinder aufzieht. Für eins von diesen kleinen Würmern trug ich ein wenig Kinderzeug hin, das ich genäht hatte. Die Mutter war kurz vorher bei mir gewesen im Vereinsbureau und hatte mir geklagt, wie der Geliebte sie verlassen habe, und wie sie das zu erwartende Kind gleich werde fortgeben müssen, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Da setzte ich mich hin und schneiderte ein paar Sachen zusammen für das kleine Geschöpf.

Und dort bist du Stilke begegnet? War das nicht Zufall?

Ich habe das auch gedacht. Aber am nächsten Tage ging er mir wieder nach, als ich im Reisebureau ein Billet kaufte. Um Mutter fortzuschaffen, weißt du. Ich hoffte, sie würde sich leichter zur Abreise bewegen lassen, wenn ich das Billet schon besorgt hätte. Dorthin war er mir wieder gefolgt und hatte sich sogar einen falschen Bart angeklebt –

Mitten im gespannten Horchen lachte Delaroche laut auf. Der verrückte Kerl!

Ja, es gab eine Szene, die eigentlich zum Kranklachen war. Aber ich ärgerte mich zu sehr. Und seit ich nun einmal aufmerksam geworden war, sah ich den Menschen jedesmal, wenn ich aus dem Hause trat. Er versteckte sich immer so schnell als möglich, war aber so ungeschickt dabei, daß ich ihn erst recht bemerkte. Und nun sage mir, Paul, was kann das zu bedeuten haben?

Er stand auf und ging langsam, sinnend, mit gerunzelter Stirn in dem kleinen Zimmer auf und ab.

Ganz genau kann ich es dir nicht sagen. Aber ich fürchte, daß an dir heimgesucht wird, was ich gesündigt habe.

Was meinst du damit?

Ich sage dir's später. Das eine scheint mir festzustehen: es ist jetzt Zeit!

Du wirst immer geheimnisvoller.

Er schien sie kaum zu hören. Wenn er sprach, so war es ein Monolog, beinahe so gut wie der des Herrn Polizeichefs. Martha in Ungelegenheiten, polizeilich überwacht, eine Unschuldige noch immer in Haft – nein, ich muß ein Ende machen.

Der Entschluß übte den wohltätigen Einfluß auf ihn, der solchen Entscheidungen meistens eigen ist: er wurde wieder mitteilsam und heiter.

So, Martha, jetzt will ich dir etwas sagen. Ich habe hier noch eine Stunde ungefähr zu tun. Inzwischen gehst du nach Hause zu deiner Mutter und bereitest sie auf meinen Besuch vor. Wenn ich fertig bin, komme ich zu dir, mit aller Liebenswürdigkeit gewaffnet, deren ich habhaft werden kann. Paßt es dir, dann esse ich heute mit euch –

Gewiß, gewiß!

Eine Flasche Sekt bringe ich mit für dieses Familienfest, nebenbei auch, um in die richtige Stimmung für meine Beichte zu kommen –

Kannst du sie mir hier nicht gleich ablegen? Ich bin furchtbar neugierig.

Nein, Schatz, erst muß ich mir von einer anderen Seite die Absolution holen. Wenn ich sie bekomme, natürlich. Vielleicht werde ich auch eingesperrt zur Strafe und komme überhaupt nicht wieder –

Paul!

Ich denke, so schlimm wird es nicht werden. Ich habe ein paar Karten im Spiel – nun, wir werden sehen. Und jetzt muß ich an die Arbeit.

Ja, ich will gehen. Bist du mir auch wirklich nicht böse?

So wenig, wie ich hoffe, daß du es auf mich werden wirst. Leb wohl, auf Wiedersehen in einer Stunde. Und einen schönen Gruß an meine Schwiegermutter. Du, sie soll die Brosche mit den Teelöffeln anlegen, die ist so wunderhübsch!

Du mußt nicht über sie lachen, Paul!

Nein, nein, gewiß nicht, wenigstens merken soll sie es nicht. Und – weißt du – wenn sie niemals aufs Wasser geht, wie du sagst, so ist das für uns in Amerika auch nicht unangenehm. Auf Wiedersehen, Kind.

Auf Wiedersehen.

Er war diesen Morgen ein wenig zerstreut bei seiner Arbeit. Mitten im Redigieren eines aufregenden Berichtes über eine hochfürstliche Eheirrung versank er mitunter in untätige Träumerei oder lachte mit plötzlich erwachender Heiterkeit laut auf. Die Heiterkeit aber siegte zuletzt auf der ganzen Front, und als die Arbeit vollendet war, ging er mit einem ausgelassen vergnügten Gesichte durch die Straßen zu seiner Braut.

Marthas Mutter prangte zur Feier des Tages in allen Regenbogenfarben, und wenn sie hier in den vier Wänden auch den Straußenhut nicht wohl auf dem Kopfe tragen konnte, so war durch eine umfangreiche Sonntagshaube mit lilafarbigen Bändern und vier großen roten Mohnblüten auf dem grauen, männlich kurz geschnittenen Haar für ausreichenden Ersatz gesorgt. Sie wartete gar nicht, bis Paul zu ihr ins Zimmer trat, sondern eilte ihm schon auf dem Korridor entgegen, faßte seine Hände zum Willkommen, wie sie es kürzlich zum Abschied getan hatte, und rief abermals, nur mit noch tieferem Gefühl: Mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn!

Delaroche hatte sich eine hübsche kleine Antrittsrede ausgedacht, aber die blumengeschmückte Schwiegermutter in spe ließ ihn überhaupt nicht zu Worte kommen, sondern redete, während er von ihr ins Zimmer hineingezogen wurde, unausgesetzt weiter.

Ich darf doch Paul sagen, nicht wahr? Paul und du – ja, ich warte gar nicht auf die Erlaubnis? Ach, wenn ich denke, Paul, in welcher Stimmung ich hierhergefahren bin! Wie die grauen, drohenden Wolken – bei Frankfurt kam ein Gewitter – mir die Finsternisse meiner Seele verkörperten! Ich hätte dich ermorden können, ohne dich zu kennen. So unüberlegt ist der Mensch! Ich hätte mir doch sagen sollen: »Sieh dir den Paul Delaroche erst einmal an. Meine Martha hat immer einen guten Geschmack gehabt, wahrscheinlich hat er sich wieder bewährt!« Aber nein, blind habe ich mich gemacht mit sehenden Augen. Bis dann die Göttin des waltenden Schicksals die Binde hinweggezogen hat von ihnen. Jetzt bin ich sehend geworden, und kann weiter nichts sagen als: »Gott segne dich, mein Sohn!« Hast du mein Manuskript schon zu Ende gelesen?

Paul bekam einen plötzlichen Hustenanfall durch diese unerwartete Wendung, der ihn zwang, sich für einen Augenblick abzuwenden, gleich aber war er imstande, die nickenden Mohnblumen wieder mit musterhaft ernstem Gesichte zu betrachten. Gewiß, liebe Mutter. Nicht wahr, ich darf doch Mutter zu dir sagen? Und ich muß bekennen, dieser Aufsatz ist einzig in seiner Art.

Einzig! Martha hast du's gehört – einzig in seiner Art. Ja, Paul, du bist ein Mann von Verständnis, von Urteil, ein ganz ausgezeichneter Journalist ohne Frage. Wenn du damals meine Erstlingsarbeit in die Hände bekommen hättest, mein Stern glänzte jetzt vielleicht unter den Schriftstellerinnen am deutschen Parnaß. Aber es ist immer besser spät als nie. Werdet ihr meinen Aufsatz abdrucken und bald?

Martha warf einen erschrockenen Blick auf Paul, er aber blieb vollkommen ruhig und sicher. Liebe Mutter, liebe, gute Mutter, darf ich dich an ein altes Sprichwort erinnern? Es heißt: man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen. Solch einer Arbeit ist unsere Zeitung nicht würdig. Sollen deine Geistesperlen unter den Füßen geldgieriger Berichterstatter zertreten werden, die sich neben dir breit machen? Soll dein Aufsatz links von einer Todesanzeige und rechts von einem Schweineverkauf oder einem sechsfachen Raubmord eingerahmt werden? Nein, Mutter, dafür ist er zu gut, hundertmal zu gut! Er muß allein in die Welt gehen, als Flugblatt, als Aufruf an die Menschheit, als Broschüre vielleicht, wenn du dich der Mühe unterziehen möchtest, deine neuen und großen Gedanken etwas weiter noch auszuführen. Ein Zeitungsartikel wird heute gelesen und morgen vergessen, eine Broschüre bleibt, sie wird –

Ach ja, Paul, eine Broschüre! Daß ich aber auch nicht selber auf diesen Gedanken gekommen bin! Die Zeitung ist mir von vornherein gar nicht sympathisch gewesen – du mußt es mir aber nicht übel nehmen. Und eine Broschüre wird auch wohl gut bezahlt?

Paul mußte wieder ein wenig husten, sagte dann aber schnell gefaßt: In dieser Hinsicht muß man als Neuling in der Literatur keine zu großen Ansprüche machen. Später, wenn dein Ruf erst befestigt ist – aber auf das Geld kommt es dir doch auch wohl am wenigsten an, soweit ich deine Verhältnisse aus Marthas Erzählungen kenne. Die Hauptsache ist doch, zur Menschheit zu reden –

Zur Menschheit zu reden! Ach ja, Paul, zur Menschheit! Das ist ein Gedanke, der mich wie Höhenluft anweht. Du, Martha, nun will ich doch um vier Uhr fahren.

Fahren? Paul war es, der in abermaliger Ueberraschung diese Frage tat.

Ach ja, das alles weißt du noch nicht. Martha hat hinter meinem Rücken ein Billet für mich zur Heimreise gekauft. Sie wollte mich forthaben, ich sollte meinen Paul gar nicht zu sehen bekommen! Ach, mein Sohn!

Liebe Mutter.

Aber ich wollte nicht fort. Unter keinen Umständen. Bis du mir eben von der Broschüre gesprochen hast. Nun regt sich's in mir und keimt und gärt und wühlt! Nun bestürmen mich Gedanken von allen Seiten, die nach der Feder schreien, um festgehalten zu werden. Das aber kann ich am besten zu Hause. Dort ist Ruhe, Sammlung und Schaffenskraft. Nun will ich um vier Uhr fahren. Mein Gepäck ist bald in Ordnung. Wir haben jetzt erst halb eins, es ist Zeit genug. Wir essen in allem Behagen zusammen, und dann – an die Arbeit! Paul, ist es früh genug, wenn du das Manuskript in vier Wochen in Händen hast?

Vollkommen früh genug, liebe Mutter.

Es geschah, wie sie es vorgeschlagen hatte. Mitunter sprach sie beim Essen auch von den Dingen, die das Brautpaar persönlich angingen, doch versank sie dann immer wieder bald in ein tiefes Nachsinnen, bat »Entschuldigt einen Augenblick!« und kritzelte irgend einen großen Gedanken in ein umfangreiches Notizbuch. Sie war von strahlender Glückseligkeit, unzufrieden allein über den einen Punkt, daß man es immer noch nicht eingerichtet hatte, zu Lande nach Amerika zu fahren, wodurch es ihr unmöglich war, ihre beiden Kinder – Paul zählte auf Grund ihrer Broschüre heute schon dazu – dort in der neuen Heimat besuchen zu können. Paul machte bei dieser Mitteilung sein traurigstes Gesicht, sie aber tröstete ihn mit den Worten: Für den Schriftsteller gibt es ja keine Trennung der Länder. Durch meine Werke will ich über die von Korallen und Haifischen erfüllten Tiefen des Weltmeeres hinweg zu euch reden!

So verlief alles in eitel Frieden und Eintracht, und beim Abschiede zitterten die vier Mohnblumen beängstigend nahe unter Pauls Nase.

Martha, die den Verlobten hinausbegleitete, fragte hier mit leisem Vorwurf: Du, Paul, warum hast du die Sache mit der Broschüre angezettelt?

Er küßte sie zuerst und sagte dann: Liebes Kind, es ging nicht anders. Deine Mutter hat die Tintenkrankheit. Die muß Luft haben, sonst schlägt sie nach innen. In keine Zeitung der Welt brächte ich hinein, was sie geschrieben hat. Eine Broschüre können wir aber auf eigene Kosten drucken und in roten Saffian binden lassen. Darauf muß es uns langen – das gehört mit zu unserer Aussteuer.


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