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Viertes Kapitel

Der Kriminalschutzmann Stilke patrouillierte in der hellen Frühe des Aprilmorgens auf der Augsburgerstraße. Mit langsamen und schwerfälligen Schritten ging er dahin und setzte den starken Spazierstock mit Hornkrücke, der zu den berechtigten Eigentümlichkeiten der Schutzleute in Zivil gehört, in regelmäßigen Zwischenräumen fest auf die Steinplatten des Bürgersteiges. Er war ein kleiner, dicker Mann, dem seine Kleider stets zu eng und an den Händen und Füßen zu kurz waren; sein rotes, rundes Gesicht sprach mehr von Gutmütigkeit als von Intelligenz. Im Sprechen stieß er ein wenig mit der Zunge an, und als wenn sie dafür büßen müßte, ließ er sie meistens etwas aus der linken Mundecke hervorhängen wie ein durstiger Hund. Alles in allem war er ein lebendiger Protest gegen jene Vorstellungen von einem Detektiv, die sich Leser von englischen und amerikanischen Kriminalromanen zu machen pflegen. Seine Kollegen behaupteten auch, er sei vom Wachtmeister nur deshalb zum Kriminalschutzmann hinaufgelobt worden, weil er zu anderem Dienst absolut nicht zu gebrauchen gewesen sei. Doch sprach der Neid in dieser Behauptung mit; nach Kräften erfüllte der kleine dicke Mann getreulich seine Pflicht.

Die Augsburgerstraße gehörte zu seinem Revier, außerdem stand sie aber noch aus zwei besonderen Gründen in seiner Gunst. Zunächst aus einem dienstlichen. Der vor vierzehn Tagen hier erfolgte Brand im Hause der alten Kartenlegerin Negenborn hatte all' seinen Eifer aufgeweckt, ein etwa hier begangenes Verbrechen zu enthüllen. Er wußte ganz genau, wie sehr sein vorgesetzter Kommissär nach einem interessanten Fall verlangte, und hätte ihn gar zu gern mit einem hübschen kleinen Raubmord erfreut. Aber wenn sich diese Hoffnung auch nicht erfüllt hatte, so war von der eifrigen Beschäftigung mit der verödeten Brandstätte doch in Stilkes weichem Herzen eine gewisse zärtliche Zuneigung zu dem halb niedergebrannten Hause zurückgeblieben, dessen graue, brandgeschwärzte Mauern eben jetzt in der Ferne vor ihm auf der linken Seite der Straße vor dem blauen Frühlingshimmel sichtbar wurden. Außerdem gab es heute dort einigen Zeitvertreib, und für solchen pflegt ein patrouillierender Schutzmann in der Eintönigkeit seines täglichen Dienstes ungeheuer dankbar zu sein. Verbrechen sind nicht so häufig wie Gänseblumen, und verlorene Taschentücher, Briefe und Portemonnaies, mit deren Suchen man sich die Zeit vertreiben kann, liegen auch nur an besonderen Glückstagen in erfreulicher Zahl auf der Straße. Daher muß der Geist sich gewöhnen, schon in einem gestürzten Pferd, einem aufgerissenen Pflaster, einem neu gepflanzten Alleebaum eine willkommene Belebung des Daseins zu erblicken. Und heute sollten die Abbruchsarbeiten an dem vom Brande betroffenen Hause beginnen. Da gab es allerlei zu sehen, anzuordnen, zu bereden, jedenfalls einmal etwas Neues im gleichmäßigen Einerlei der Tage, von denen einer dem anderen zum Verwechseln ähnlich sah.

Ludwig Stilke war aber nicht nur Kriminalschutzmann, er war auch Mensch. Und zwar ein Mensch mit Gefühlen. Seit einem Jahre bewarb er sich um Lina Ruschebusch, und seit vier Monaten nannte er sie seine Braut, was umso erfreulicher war, als unsanktionierte Verhältnisse für Polizeibeamte unerlaubt und schädlich sind. Stilke liebte seine Lina sehr; denn ihre Mutter hatte drei Kühe und sie selbst hatte ein Sparkassenbuch, wieviel darin verzeichnet stand, hatte der Schutzmann trotz bescheidener Anfragen noch nicht herausbringen können; Phantasten sprachen aber von mehr als tausend Mark, und in seinen glücklichsten Stunden sah der dicke Ludwig diese Zahl Tausend ein glaubhaftes Leben gewinnen.

Um seiner Lina willen war ihm auch die Augsburgerstraße so lieb. Denn diese lief in geringem Abstand mit einem stattlichen Flusse parallel, der hier die Stadt begrenzte, und in dem Flusse spiegelte sich das kleine weidenumstandene Häuschen, das die Witwe Ruschebusch mit ihren drei Kühen und ihrer Tochter bewohnte. Bis zum Wasser hin war die wachsende Großstadt allmählich vorgeschritten, ohne freilich das Ufer schon überall mit ihren Steinwürfeln zu bepflanzen, jenseits des Flusses aber dehnten sich noch unabsehbar weite Wiesen aus. Die Straße selbst war nach der Stadtseite zu schon mit himmelhohen Mietshäusern besetzt, zwischen deren neuen, feuchten Wänden sich Trockenwohner für billiges Geld Rheumatismus auf Lebenszeit holten. Dann aber nahm diese Pracht fürs erste noch ein klägliches Ende. Auf der linken Seite zwischen Straße und Wasser zeigte der sich hier dahinziehende Landstreifen beinahe noch völlig ländliches Gepräge. Auf ein paar Gärtnereien, die von einem Wege zum Flusse hin durchschnitten wurden, folgte hier das Grundstück mit dem zur Hälfte niedergebrannten Hause der armen Frau Negenborn, das die zertrümmerten Mauern klagend in die Lust zu strecken schien. Sein nächster Nachbar weiter hinunter war freilich wieder von städtischer Art: die große, mit hoher Mauer umzogene Kartonnagenfabrik von Mayer & Rosenfeld. Mit ihr war aber die Stadt hier auch wirklich zu Ende. Auf der rechten Seite der Straße bot sich ein Anblick von ähnlichem Reiz. Unbebaute Grundstücke, Lagerplätze, vernachlässigte Felder wechselten miteinander. Nur daß auch hier, dem Negenbornschen Grundstücke gegenüber, ein mächtiger Kasten von rotem Backstein überraschend emporstieg: das große Gefängnis, dessen Umfriedigungsmauer noch ein gutes Stück höher war, als die der schrägüber benachbarten Fabrik.

Weder des Gefängnisses, noch der Fabrik wegen patrouillierte Stilke jedoch hier in der Morgenfrühe umher. Seine Lina war beim Austragen der von ihren Kühen gespendeten Milch pünktlich wie eine wohl regulierte Uhr, und in wenigen Minuten mußte sie dort zur Linken den Kieselweg heraufkommen. Der Schutzmann stand, er wartete, seine Zunge kam hoffnungsvoll noch ein wenig weiter als üblich aus der Mundecke hervor. Und nun ertönten auch wirklich rasche Schritte, von einem halblauten, aber ungemein fröhlichen Singen begleitet. Nicht anders zwitschert ein kleiner, vergnügter Vogel, der in blühenden Zweigen umherhüpft.

Sie wars; ja, sie war es wirklich! Solch einem kleinen, vergnügten Vogel auch in jeder anderen Hinsicht ähnlich, kam Lina Ruschebusch leichtfüßig daher und schlenkerte leise mit den beiden schweren Milchkannen, die sie trug. Ihr frischgewaschenes, ohnedies bereits ausgiebig gerötetes Gesicht wurde glutrot, als der Schutzmann ihr schwerfällig, mit breitem Lachen entgegenkam. Wahrscheinlich errötete sie aus Freude, ihn zu sehen, denn von einer Ueberraschung konnte kaum die Rede sein. Wenn der Dienst nicht gar zu störend in seine Privatgefühle eingriff, dann war Stilke hier um diese Zeit regelmäßig zur Stelle.

Guten Morgen, Lutz! rief sie schon von weitem und ging noch ein wenig schneller. Ihr Kopftuch wehte um sie her, das weiß war wie ihre Zähne und frischgewaschen wie sie selbst. Schwarzes Haar kräuselte sich eigenwillig unter ihm hervor, und ein paar schwarze Augen sagten auch ihrerseits »Guten Morgen«. Sie waren blank wie Stahl und schwarz wie Kohlen.

Guten Morgen, Lina. Na, das ist ja gut, daß du kommst. Ich bin eben auch zufällig schon zu Gange. Der Dienst, weißt du. Aber Lutz mußt du mich nicht immer nennen, Lina.

Diese beiden Aeußerungen hielt er für Pflicht seiner Manneswürde gegenüber. Ein Frauenzimmer, und wenn es das hübscheste, frischeste von der Welt war, durfte niemals glauben, daß ein Mann der öffentlichen Ordnung ihm nachlief. Und auch der Name Lutz, den sie für ihn erfunden hatte und den er aus ihrem Munde für sein Leben gern hörte, galt offiziell für eine unerlaubte Beschneidung seines Ludwig.

Du, Lutz – diese wiederholte Anrede war sein erstes Erziehungsresultat –, magst du nicht alles gerne hören, was ich sage?

Nun ja, das allerdings wohl, – gewiß, das tue ich. Aber –

Na, da is ja doch die Sache abgemacht. Da muß dir auch der Name Lutz aus meinem Munde lieb und wert sein. Und wenn ich dir Nepomuk nennen wollte, müßtest du vor Freude in die Luft springen und sagen: »Siehst du, Lina, den Namen habe ich mich schon lange gewünscht!«

Er lachte und leckte seine Lippen, als wenn er den Kuß in Wahrheit schon bekommen hätte, an den er während dieser ganzen Unterhaltung gedacht hatte. Nun, da ist mir Lutz aber doch noch lieber, sagte er dann in seiner langsamen Art, und wenn du mich nun einmal gern so nennen willst –

Laß man gut sein, darüber wird gar nich mehr geredet. Du bist für mich der Lutz und bleibst der Lutz, und wenn du recht lieblich zu mich bist, dann sage ich vielleicht auch einmal: mein lieber Lutz. Aber nu erzähle mir, was es Neues gibt.

Neues? Daß ich nicht wüßte.

Hast du gut geschlafen?

Na, wie man so schläft bei uns, wenn man Zehn-Zwölf gemacht hat. Ich bin hier auch vorbeigekommen und habe zu euch hinübergesehen. Aber es war alles dunkel bei euch.

Ja, wir sind früh zu Bett gegangen. Sie antwortete sehr schnell, nur ein wenig undeutlich.

Es ist nun einmal so bei uns mit dem Dienst. Ich wäre sonst ja auch gern mit dir auf den Ball im »Grünen Baum« gegangen, weil du so große Lust dazu hattest.

Ach, der Ball, ich denke schon gar nich mehr dadran! Du, was woll'n denn die Männer da beim Hause von der Tante Negenborn?

Sie waren – so langsam, wie es bei Liebesleuten Sitte ist, die einander nur flüchtig begegnen, – die Straße weiter hinuntergegangen und sahen nun eine Gruppe von Männern in Arbeitskleidung vor dem Grundstück mit dem abgebrannten Hause stehen.

Das sind die Maurer, Lina. Heute sollen die Abbruchsarbeiten anfangen.

Abreißen wollen Sie's? Ach, das tut mich aber leid! Wie ich noch klein war, bin ich hier ja beinah mehr zuhause gewesen, als wie bei uns, hier bei der Tante Negenborn, wie ich sie genannt habe, wenn sie auch nie meine Tante gewesen is. Aber sie war gut zu mir wie ne wirkliche Tante. Und ihre Tochter, die Marie, die jetzt in Amerika verheiratet is, die war mich wahrhaftig wie 'ne Schwester, ich habe dich's ja schon oft erzählt. Umhergetollt sind wir da im Haus und Garten, daß ich mir heute oft wundere, wie die Tante Negenborn so geduldig mit uns hat sein können. Ich kenne jeden Winkel dort im Hause, und nu soll es abgerissen werden! Das is dich aber wirklich schade!

Ja, ja, das ist nun einmal so, sagte Stilke, um dann einen Augenblick zu schweigen und sich zu stärken für die nachfolgende philosophische Bemerkung, die er mit einem stolzen Lächeln herausbrachte: Was alt ist, muß abgerissen werden; das geht uns Menschen genau ebenso.

Sie schaute fröhlich in sein dickes, gesundes Gesicht. Du wirst noch nich abgerissen, Lutz, und ich auch nich. Laß uns man recht vergnügt sein, daß wir noch jung sind.

Ja, ja, das Jungsein, das ist eine ganz angenehme Sache. Aber was haben denn die Leute da?

Sie waren der Brandstätte jetzt nahe genug gekommen, um genau zu erkennen, was dort vorging, wenn sie jedoch nicht so vertieft in ihre eigenen Angelegenheiten gewesen wären, so hätten sie schon früher sehen müssen, daß dort etwas Besonderes vorgefallen war. Vor dem Hause, das ein wenig zurücklag und außerdem von der Straße durch eine mäßig hohe Mauer getrennt war, standen ein paar von den Arbeitern in eifrigem Gespräch. Einer hatte schon einigemale dem Schutzmann lebhaft gewinkt, ohne daß dieser in seiner blinden Glückseligkeit acht darauf gegeben hätte; jetzt aber begann der Maurer laut zu rufen: Herr Kriminal, Herr Kriminal!

Der Amtseifer packte Ludwig Stilke und beflügelte seine kurzen Beine. Lina stutzte einen Augenblick, als der Ruf des Mannes erscholl, dann aber folgte sie rasch ihrem Verlobten. Gleichzeitig langten sie bei der Gruppe der Arbeiter an, die sie durcheinander redend begrüßten: Da drin gibt es was für Sie, Herr Kriminal – ein Verbrechen ist da passiert – der Polier hat es gefunden – es ist auf alle Fälle ein Mord.

Ein Verbrechen? Ein Mord?

Jawohl, Herr Kriminal. Da muß man blind sein, wenn man das nicht sieht. Kommen Sie nur mit 'rein, der Herr Polier wird Ihnen schon zeigen, was er gefunden hat.

Mit würdevoller Hast schob Stilke die Leute beiseite und eilte durch die offenstehende Tür in der Mauer auf den schmalen Hof, der hier die Ruine begrenzte, dann in das Haus hinein. Lina folgte so langsam und zagend, als wenn sie sich fürchtete, trotzdem aber vorwärts gezogen würde.

Vom Hause stand noch das Erdgeschoß aufrecht, die Mauern des oberen Stockwerks waren zum Teil, der Dachstuhl völlig zerstört. Unversehrt war ein kleiner, niedriger Anbau geblieben, der sich außen zur Linken mit müder Haltung an die Hauswand anlehnte. Der Flur war kaum mehr als ein Gang, der vom vorderen Eingang zur Hintertür nach dem Garten hinaus führte und sich kurz vorher ein wenig verbreiterte, um der schmalen, halbverbrannten Treppe nach oben Raum zu schaffen. Vier Türen, zwei von ihnen nur noch leere Oeffnungen, mündeten auf diesen Flur; zu der letzten auf der rechten Seite hinten führte der Maurer den Kriminalschutzmann. Sechs Männer standen hier eng zusammengedrängt um den Herd und starrten, sich halblaut unterhaltend, auf etwas, das dort lag.

Hier kommt der Herr Kriminal, rief der eintretende Maurer, und seine Worte bewirkten, daß der Zutritt zum Herde augenblicklich frei wurde,

Guten Morgen, Herr Polier, sagte der Schutzmann zu einem der Männer, der etwas größer, etwas beleibter und etwas rotnasiger war, als die anderen. Ich komme in amtlicher Eigenschaft. Sagen Sie mir ganz genau, was hier passiert ist.

Jawoll, jawoll, Herr Kriminal, das will ich tun. Und mit dem größten Vergnügen dazu, jawoll, jawoll.

Stilke hatte ein Notizbuch hervorgezogen. Also?

Also, ja, das ist folgendermaßen. Wir wollten doch heute hier mit dem Abbruch des Hauses anfangen, das der Herr Maurermeister Brieckmann gekauft hat. Er will die Steine nämlich wieder benützen. Viel sind sie ja nicht wert, aber so in die Fundamente kann man sie doch wieder vermauern, wenn man nämlich ordentlich Zement in den Mörtel nimmt. Und schließlich hat er ja auch nicht so viel dafür bezahlt. Ich glaube nämlich –

Haben die Steine denn mit der Sache was zu tun, von der Sie mir berichten sollen?

Jawoll, jawoll. Das heißt, so ganz eigentlich nicht. Auf Umwegen nämlich, Herr Kriminal, auf Umwegen, wegen die Steine wollten wir doch das Haus abreißen, nicht wahr? Und weil nun doch die hohe Polizei eine Vorschrift erlassen hat, daß man den Schutt bei so 'nem Abbruch immer recht tüchtig mit Wasser besprengen soll – ich kenne nämlich die Vorschrift ganz genau, Herr Kriminal, weil ich vor drei Wochen – vorgestern sind es genau drei Wochen gewesen, jawoll, jawoll – weil ich doch ein Strafmandat gekriegt habe wegen Nichtbeachtung besagter Vorschrift –

Also? Weiter!

Ich komme ja schon dahin. Zu dem Brunnen nämlich. Weil ich doch nicht wieder Strafe zahlen wollte, da habe ich mich sogar gestern schon, wo doch Sonntag war – ich bin hier nämlich vorbeigekommen, und wo ich den Schlüssel zu die Tür schon hatte, da bin ich hereingegangen und habe mich den Brunnen da draußen angesehen, ob auch ordentlich Wasser drin war. Und heute früh ist denn das erste, daß ich sage: »Pimpernell« – Pimpernell, wo sind Sie?

Hier, erschallte eine Stimme vom einzigen Fenster des Raumes her, und Pimpernell trat vor, ein hübscher, vom gestrigen Sonntag her noch frisch rasierter junger Bursche, der im Bewußtsein der wichtigen Rolle, die er hier zu spielen hatte, seinen braunen Schnurrbart noch schnell mit einer kleinen Taschenbürste bearbeitet hatte, vielleicht war es auch mit Rücksicht auf Lina geschehen, der er vortretend einen liebevollen Blick zuwarf.

Also ich sage: »Pimpernell,« sage ich, »gehen Sie vor allen Dingen Wasser holen,« sage ich, »damit ich nicht wieder in Strafe komme.« Ich zeige ihm noch den alten Ziehbrunnen da draußen im Garten, jawoll, den zeige ich ihm und sage ihm, was er zu tun hat. Und Pimpernell geht hin, und wissen Sie, was er mir bringt statt 'nen Eimer mit Wasser? Das Ding hier bringt er mir gebracht, Herr Kriminal.

Stilke trat hastig und wichtig noch näher zum Herde, wo etwas Merkwürdiges lag. Es war ein weißes Taschentuch, dem auch gröbere Augen, als die eines beeidigten Kriminalschutzmanns, es ansehen konnten, daß es mit seinen vier Ecken zusammengeknotet gewesen war. Jetzt aber waren die Knoten gelöst, und es lag zerknittert ausgebreitet da. Dieser Anblick an sich wäre noch nicht allzu unheimlich gewesen, aber es gab da noch allerlei anderes, was die Blicke der Umherstehenden mit jener magnetischen Kraft gefesselt hielt, die nur dem Grausenvollen eigen ist. Da war zuerst ein Backsteinbrocken, den man offenbar zur Beschwerung des Tuches mit hineingelegt hatte, da waren ein paar dunkelrotbraune Flecken im Weiß des Tuches selbst, die bedenklich nach vergossenem Blut aussahen, da war ein kleines Häufchen Asche in der Mitte der hellen Fläche, da war ein gelblicher, offenbar ungebrannter Knochen, der seiner Vernichtung in den Flammen durch irgend einen Zufall entgangen schien. Ein Knochen, der durch ein Gelenk mit einer noch daran sitzenden, in der Mitte abgebrochenen oder abgehackten winzigen Hand verbunden war.

Während Stilke aufgeregt sein amtliches Notizbuch zwischen den dicken, kurzen Fingern hin- und herdrehte, nahm der Polier abermals das Wort. Da sehen Sie's, Herr Kriminal, da liegt es vor Ihnen. So haben wir es gefunden, das heißt, zusammengeknotet natürlich, sonst hätte es ja nicht hängen bleiben können.

Hängen bleiben?

Jawoll, jawoll. Und Pimpernell, na, der kann Sie 's ja selber erzählen.

Der Maurergeselle mit dem forschen Schnurrbart trat vor und gab sich eine Haltung, die der Bedeutung des Augenblicks entsprach. Stilke tat es ihm nach.

Gut, Pimpernell, Sie können es mir berichten. Also zunächst die Personalien. Wie heißen Sie?

Pimpernell schien diese amtliche Wiederholung seiner bereits erfolgten Vorstellung nicht für ganz nötig zu halten, fügte sich aber mit dem Gehorsam des wohlerzogenen Staatsbürgers ins Unvermeidliche. So war denn dies kleine Vorspiel der eigentlichen Vernehmung bald erledigt, und Pimpernell durfte berichten.

Na, also, Herr Kriminal, wie der Herr Polier schon gesagt hat, er schickte mir zum Brunnen, um 'n paar Eimer Wasser zu holen. Und so gehe ich denn hinters Haus in den Garten und zu dem Brunnen, was nämlich noch so ein alter, runder Ziehbrunnen ist, wo der Eimer an einem Stricke runtergelassen wird. Ich habe zwei Eimer mitgenommen und fange nu so langsam an zu drehen an der Kurbel, womit man doch den Strick so in die Höhe windet. Und wie das Seil so mit dem Haken glücklich oben ist, da sehe ich so was Weißes dran hängen, so als wenn es 'runtergeworfen wäre, und der Haken, der hätte es aufgefangen, und ich mache das weiße Ding los, und wie ich so das Blut sehe, da habe ich mich gleich gedacht: »Sachte, sachte, da gibt es was für die Herren von der Polizei.« Und ich nehme das Ding so vorsichtig 'runter und bringe es dem Herrn Polier, und der, na, der hat es denn aufgemacht.

Jawoll, jawoll, ich habe das Ding aufgemacht. Es ist ganz, wie der Pimpernell gesagt hat.

Stilke reckte sich in die Höhe, so sehr seine kurze Figur es gestattete. Das ist schlimm genug, wenn es so ist. Sie haben dabei direkt gegen das Reglement gehandelt. wer einen Toten findet oder so was Aehnliches, der hat alles ganz genau in dem Zustande zu belassen, in dem er das Objekt gefunden hat.

Ja, daran ist nun wohl nichts mehr zu ändern. Aufgemacht habe ich das Tuch. Und wenn ich es nicht aufgemacht hätte, wüßte ich doch auch nicht, was drin ist, und wenn ich nicht wüßte, was drin ist, könnte ich doch auch nicht denken, daß man hier eins umgebracht hätte.

So 'n armes Wurm! sagte Pimpernell mit einem Seufzer des Mitleids.

Was für ein Wurm? fragte Stilke mit Nachdruck.

Na, das kann doch ein Blinder sehen, gab der weichherzige Maurer zur Antwort, indem er durch eine Kopfbewegung auf das Taschentuch mit seinem unheimlichen Inhalt deutete, was da passiert ist, das sieht er doch, wenn das hier was anderes ist, wie ein Kinderarm und 'ne Kinderhand, will ich nie wieder 'ne Mörtelkelle in die Hand nehmen. Umgebracht hat man das Wurm und abgeschlachtet und zerhackt und verbrannt, und das hier ist alles, was von dem kleinen Kerl übrig geblieben ist. Und wenn ich denke, daß meinem Ferdinand das passieren könnte –

Stilke bewegte seine Zunge zwischen den Lippen hin wie ein Hund, der ein Stück Zucker sieht. Dann tat er mit seinem strengsten Gesichte die Frage: Pimpernell, wissen Sie vielleicht etwas Näheres von der Sache?

Nicht mehr, Herr Kriminal, als wie Sie selber. Aber was ich dummer Kerl sehen kann, das werden Sie doch schon längst gesehen haben.

Ja, natürlich, selbstverständlich, das habe ich auch gesehen. Aber man darf nie zu rasch seine Vermutungen machen. Erst alles ganz genau untersuchen. Aber das – er atmete erleichtert auf, denn es war ihm eingefallen, daß die Veranstaltung dieses wichtigen Unternehmens von einer höheren Stelle auszugehen hatte – das ist Sache des Gerichtes. Hier handelt sich's offenbar um ein umgebrachtes Menschenleben, und das gehört zum Ressort des Gerichtes. Pimpernell, können Sie telephonieren?

Jawohl, Herr Kriminal.

Gut, so begeben Sie sich sofort ans nächste Telephon, verbinden Sie sich mit dem Bureau des Herrn Kommissärs Niemann, Telephonnummer 3375, und melden Sie dorthin, was passiert ist. Sodann verbinden Sie sich mit der Polizeidirektion, Telephonnummer 6523, und berichten Sie das Gleiche. Hier, ich schreibe Ihnen die Telephonnummern auf einen Zettel. Ich darf das Objekt hier – sein Zeigefinger wies auf das blutige Tuch – nicht verlassen, bis der Herr Kommissär und die Herren vom Gericht, die man von der Direktion aus ins Einvernehmen setzen wird, am Tatort erschienen sind. Sie aber, Herr Polier, sorgen Sie mit Ihren Leuten dafür, daß kein Mensch das Grundstück betritt, bis polizeiliche Bewachung hat eintreten können. Verstanden?

Jawohl, antwortete Pimpernell mit militärischer Kürze, machte auf den Hacken kehrt und enteilte mit seinem wichtigen Auftrage zum Telephon. Der Polier aber sagte: Jawoll, jawoll, Herr Kriminal. Soll geschehen, Herr Kriminal, jawoll, jawoll.

Damit gab er seinen Leuten einen Wink und verschwand mit ihnen durch die leere Türöffnung, um das Ueberwachungsamt anzutreten. Stilke blieb allein zurück in der vom Rauche des Herdes und des Brandes zwiefach geschwärzten Küche, wo das Tuch mit dem Stempel des Mordes vor ihm auf dem kalten, dunklen Herde lag. Er nahm den Hut vom Kopfe, wischte sich den Schweiß der Erregung von der Stirn und schaute in dem leer gewordenen, düsteren Raume umher. Zuerst mit polizeilichen, dann mit menschlichen Augen. Der wichtige Vorfall hatte für kurze Zeit sogar seine zärtlichen Gefühle für Lina Ruschebusch betäubt. Jetzt aber suchten seine Blicke die geliebte Jungfrau. Er wußte genau, sie war ihm in das abgebrannte Haus gefolgt. Doch keine Spur war mehr von ihr zu sehen. Und es war ein Glück für Stilkes Seelenruhe, daß weder er, noch einer der übrigen auf Linas Verhalten acht gegeben hatte. Sie war gleich allen anderen zum Herde herangetreten, hatte die Knochenreste, das Aschenhäufchen, das blutige Tuch mit erregten Blicken gemustert, war dann aber mit erbleichtem Gesichte bis zur Wand zurückgewichen und hatte sich an sie gelehnt, als wenn ihr schwindelte. Bei Pimpernells grausiger Schilderung von der mutmaßlich verübten Abschlachtung eines unbekannten Kindes aber hatte sie leise und hastig ihre Milchkannen aufgenommen und war in angstvoller Eile hinausgeschlüpft aus der Tür.


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