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Zweites Kapitel

Das Theater war gefüllt bis unter die Decke hinan und unter der Decke sogar am allergefülltesten. Man gab die Detektivkomödie »Sherlock Holmes« zum hundertsten Male, ohne daß ihre Zugkraft auch nur um ein Atom geringer geworden war. So manches Jahr hindurch hatte man sich im Theater mit Anstand so sträflich gelangweilt, hatte Neurastheniker, Idioten und Perverse psychologisch vivisezieren helfen, ohne daß auch nur die gelindeste Beimischung von äußerer Handlung die Qualen gemildert hätte, und hatte dabei auf das Gebot der allmächtigen Mode immer nur flüstern dürfen: Wie fein, wie wahr, wie echt! Nun kam dies überseeische Detektivstück wie eine Erlösung von dem Banne tödlicher Undramatik. Mochten die geistvollen Feinheiten des genialen Sherlock Holmes auch vergröbert oder verwässert sein, mochte das Ding so plump zugehauen und zurechtgezimmert erscheinen, wie eine Kasperlkomödie von anno dazumal, es passierte doch wenigstens wieder einmal etwas dort oben auf den eingeschlafenen Brettern. Gottlob! Man brauchte sich ausnahmsweise einmal nicht zu langweilen.

Und williger, widerstandsloser noch als bei früheren Vorstellungen gab man sich den derben und überraschenden Wirkungen des Stückes an diesem Abend hin. Die fettgedruckte und mit einem Lorbeerkranz umwundene Zahl Hundert übte eine suggestive Kraft. Was hundertmal gegeben wurde, mußte doch etwas Gutes sein. Und so herrschte im Theater jene heiße, gespannte Atmosphäre, die ein aufregendes Theaterstück mit einem Gewitter gemein hat; für den Donner sorgte an den Aktschlüssen das Publikum. Während der Aufführung aber saßen die Damen mit auf das Herz gepreßten Händen, und in der aufregenden Revolverszene sprang im Parkett ein fünfzehn- oder sechzehnjähriges Mädchen vom Sitz empor und schrie: Herr Sherlock Holmes, Herr Sherlock Holmes, er hat den Revolver! Man lachte, man zischte, man beruhigte sich. Hinterher behaupteten Uebelwollende, der Direktor hätte die Kleine engagiert, um den Glanz der hundertsten Aufführung zu erhöhen. Aber das war unwahrscheinlich; denn keine Menschengattung haßt bekanntlich alle Reklamekunststücke so sehr wie die der Theaterdirektoren. Sie dienen sämtlich nur der edlen, reinen und wahren Kunst. Das ist auf jedem ihrer Prospekte gedruckt zu lesen.

Endlich hatte auch Marion Bornträger es bei ihrem Bruder durchgesetzt, daß er zu dieser Aufführung mit ihr ins Theater ging. Er hatte lange Widerstand geleistet, weil es ihm höchst unsympathisch war, ernste polizeiliche Angelegenheiten in einer Gauklerbude vor Krethi und Plethi erörtert zu sehen. Auch diesmal war er beim Morgenkaffee noch obstinat gewesen, und erst die eingelaufene Post hatte plötzlich eine andere Stimmung in ihm aufgeweckt. Mit unerwartetem Eifer war er nun auf die Sache eingegangen und hatte gleich telephonisch ein paar Plätze für den Abend reservieren lassen.

Sie saßen im ersten Rang, in der zweiten Loge vom Proszenium. Mit Wonne gab sich Marion den aufregenden Vorgängen auf der Bühne hin und ließ das Glas nicht vom Auge, so lange der Darsteller der Titelrolle, ein großer, schön gewachsener Mensch, auf der Bühne stand. Ab und an flüsterte sie ihrem Bruder eine Bemerkung zu, doch erkannte sie bald, daß er auffallend zerstreut war. Sie sagte sich, daß der Aerger von vorhin vielleicht daran schuld sei; denn mit einem Aerger hatte der Abend für sie beide begonnen. Bornträger hatte sich kaum in stattlicher Würde auf seinem Platz in der vordersten Reihe niedergelassen, als in der zweiten Loge rechts von ihnen eine junge Dame in Begleitung eines Herrn erschien. Sie war hellblond, mit einer Fülle leuchtenden Haares, mittelgroß, gleichmäßig gewachsen, dunkel und einfach, aber elegant gekleidet. Ihr Begleiter war, von gleicher Eleganz in der Kleidung abgesehen, in allen Stücken ihr Gegensatz. Er war kleiner als sie, aber ungewöhnlich schlank und sehnig, die Augen dunkelbraun, lebhaft, lustig und scharf gleich Vogelaugen, die Gesichtsfarbe bräunlich, die Lippen lachend und leuchtend rot. Eine Deutsche neben einem Romanen, mußte jeder denken, der die beiden sah. Zugleich aber mußte ihm klar werden, daß hier zwischen den beiden Nationen ein Zweibund geschlossen worden war, bei dem es keine vorausbestimmte Kündigungsfrist gab wie bei ähnlichen Bündnissen größeren Stils. Denn die zwei schauten einander in ganz kurzen Zwischenräumen mit so ungeheuchelter Seligkeit in die Augen, daß über ihre Gefühle nicht der mindeste Zweifel blieb.

Einmal aber glitten dabei die Blicke des Mannes doch ab von dem blonden Mädchenkopfe, den sie so eifrig umschmeichelten, und flogen hinüber zu der Loge, wo der Herr Oberregierungsrat und seine Schwester ihn mit hochmütigen und zornigen Augen musterten. Höflich erhob er sich sogleich und begrüßte mit einer tadellosen Verbeugung die beiden. Was er wieder bekam, war weniger tadellos. Der Herr Polizeichef machte eine Bewegung wie eine Figur von Porzellan, die mit dem Kopfe nicken kann und die man leise in den Nacken stößt; Marion aber wußte so viel Kälte in ihren Gegengruß zu legen, daß eine steinerne Niobe sie darum hätte beneiden können.

Sogleich machte Bornträger auch den edlen Wallungen seines Herzens Luft. Daß dieser Mensch, dieser Delaroche, die Keckheit hat, sich hier in den ersten Rang zu setzen, – es ist ein Skandal! Ein entlassener Kommissär in demselben Range mit seinem früheren Chef; ich habe dafür nur das eine Wort: Skandal!

Marions Antwort klang nach erkünstelter Gleichgültigkeit. Er ist ja jetzt bei der Zeitung, und die Herren von der Presse werden bekanntlich überall verwöhnt. Dabei entfaltete sie den Fächer und beschirmte damit ihr Gesicht nach der Seite hin, wo Paul Delaroches Augen blitzten, die sie vor kurzem lustig und malitiös genannt hatte und die sie heute zu ihrem eigenen Aerger hübscher denn jemals fand.

Der zum Kritikerthron emporgestiegene Polizeikommissär unterhielt sich inzwischen mit seiner blonden Braut. Habe die Ehre, dir meinen verflossenen, höchst ungnädigen Chef vorzustellen, sagte er halblaut. Sie hatte schon bei seinem Gruß hinübergeblickt.

Das also ist er? Paul, es ist eigentlich komisch, – ich habe ihn schon gekannt.

Woher?

Aus deiner Schilderung. Du weißt so gut zu beschreiben, daß ich ihn ganz lebendig vor mir gesehen habe.

Das war doch bei ihm nicht schwer. Mischung von Bulldogge und Meerschweinchen, damit ist alles gesagt.

Sie lachte. Paul, du bist schrecklich!

Keine Spur. Sag doch selbst: Sieht er so aus oder sieht er nicht so aus?

Eigentlich sieht er wohl so aus.

Nun also. Die Wahrheit muß man doch sagen? Seinem Nächsten wenigstens. Bei Fremden ist etwas Falschmünzerei eher angebracht. Aber du bist doch nun meine Nächste, Kind, nicht wahr? Meine Allernächste?

Ja, Paul, flüsterte sie ganz leise. Auch er hatte die Stimme bei seinen letzten Worten gesenkt, und ihre vier Augen spielten jetzt wieder ein wunderhübsches Quartett miteinander.

Der Oberregierungsrat, der an seinem Aerger noch immer im stillen würgte und heimlich ab und an zur nahen Loge Delaroches hinübersah, grunzte in sich hinein, als er das zärtliche Augenspiel bemerkte. Dann aber bekam sein Kopf urplötzlich eine andere Wendung wie eine Wetterfahne, wenn der Wind sich dreht. In der Loge gerade gegenüber, die bisher ganz leer gewesen war, hatte die Tür sich geöffnet, und eine einzelne Dame trat herein, bei deren Anblick Bornträger eine plötzliche Elastizität in Beine und Rücken bekam. Sich halb erhebend, grüßte er mit der Eleganz eines Reserveoffiziers der Kavallerie. Ein fremdes, gnädiges Neigen des Frauenkopfes gegenüber war die Antwort, eines Kopfes, der mit lauter geraden Linien gezeichnet schien, aber doch der Vornehmheit und einer gewissen kühlen Schönheit nicht entbehrte. Dunkelblondes Haar legte sich glatt an die Schläfen, ein violettes Seidenkleid hob eine feste, kräftige Figur deutlich, aber diskret hervor. Die Dame war wohl kaum vierzig Jahre alt, ihre Bewegungen waren jedoch von so feierlicher Gemessenheit, daß Delaroche mit schnell bereiter Bosheit zu seiner Braut sagte: Sieh einmal drüben: die Ahnfrau.

Marion hatte den Gruß ihres Bruders mit höflicher Kopfbewegung begleitet, in ihrer Stimme war aber nicht viel Freundlichkeit bei den Worten: Ach, die Hergenrath auch hier?

Frau von Hergenrath, jawohl. Sie fragte mich neulich beim Diner bei Wessels, ob es angebracht sei, dieses Stück zu besuchen, und ich sagte ihr, daß meines Wissens nichts Anstößiges darin enthalten sei.

Ich glaube auch, daß ihre Jugend und Tugend ungefährdet davonkommen wird, sagte Marion mit einem Tone, der zeigte, daß es ihr angenehm war, für ihren Aerger einen Blitzableiter gefunden zu haben.

 

Das alles war gewesen, bevor die Geschichte von dem niemals irrenden Detektiv begonnen hatte. Dann aber war der Zuschauerraum auf einmal in geheimnisvolles Dämmerlicht versunken, der Vorhang hatte sich gehoben und Sherlock Holmes als permanenter Triumphator seinen Einzug gehalten. Freilich nur als Triumphator in Ueberzieher, langen Hosen und Zylinder, aber nicht minder sieggekrönt, als die antiken Herren mit nackten Beinen und Lorbeerkränzen auf dem Kopfe, die sich des tarpejischen Felsens zur Erhöhung ihrer Lustbarkeit bedienten. So grausam war Sherlock Holmes nicht. Er machte wohl einmal ein wenig Feuerwerk, er eskamotierte Kugeln und Patronen in Revolver hinein und aus ihnen heraus, er zerschlug eine funkelnagelneue Petroleumlampe, die zwei Mark und fünfzig Pfennig gekostet hatte, doch an Menschenleben vergriff er sich nicht. Er blieb stets ein höchst eleganter Vorkämpfer der beleidigten Gerechtigkeit.

Als er das erste seiner Feuerwerke abgebrannt hatte, fiel der Vorhang zum ersten Male. Das Publikum atmete auf und applaudierte. Der elegante Detektiv erschien und verbeugte sich, Marion hob das Glas wieder ans Auge, ein Blick von ihm flog zu ihr hinauf.

In der Loge neben Delaroche und seiner Braut war bisher ein Platz leer geblieben; jetzt aber öffnete sich die Tür, und ein Herr füllte die Lücke aus, die den dichten Zuschauerkranz noch unterbrochen hatte. Das Alter des großen, schwarzgekleideten, vornehm aussehenden Herrn war schwer zu bestimmen. Sein Schädel war schon bedenklich durch die Haare hindurchgewachsen, aber das Gesicht war frisch und rot, und in den Augen, die scharf durch einen Kneifer in die Welt blickten, leuchtete ein Protest gegen alles Alte und Abgelebte. Das benachbarte Paar zu seiner Rechten bemerkte er nicht sogleich, aber wenige Sekunden erst hatte er auf seinem Platze gesessen, als Delaroche ganz nahe an seinem Ohr sagte: wenn das nicht Hans von Hildebrand ist, will ich selber Hans heißen.

Rasch wandte der andere den Kopf zur Seite, ein froher Glanz ging über sein Gesicht. Delaroche, wahrhaftig! Ja, wie gehts, alter Junge?

So gut, wie ich es niemals verdient habe und niemals verdienen werde, was der Mensch Glück nennt, sitzt nämlich augenblicklich in eigenster Person an meiner Seite. Diese junge blonde Dame hier ist seit ein paar Tagen die Braut eines argen Sünders, der Paul Delaroche heißt.

Sein Nachbar neigte den Kopf ein wenig, wartete jedoch noch auf die förmliche Vorstellung, die Delaroche unmittelbar folgen ließ. Du gestattest, Martha, daß ich dir einen früheren Regimentskameraden und hoffentlich heute noch guten Freund vorstelle. Herr von Hildebrand – Fräulein von Bühring. Ein großer Jäger vor dem Herrn; der alte Nimrod ist ein Waisenknabe gegen ihn. Was macht Afrika, Hans? Was machen die Tiger, die Alligatoren, die Löwen und Elefanten? Hast du noch ein paar übrig gelassen für die zoologischen Gärten und Menagerien, oder gehören jetzt alle schon der Vorwelt an?

Ganz so gefährlich ist es noch nicht geworden. Aber meinen Glückwunsch vor allem, dir und auch Ihnen, mein gnädiges Fräulein. Es ist nämlich ein kolossal guter Kerl, den Sie da heiraten wollen. Maulwerk ja manchmal schlimm, aber das Herz tadellos.

Mit einem feinen Lächeln schüttelte sie den Kopf ein wenig und entgegnete freundlich: Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Herr von Hildebrand. Das weiß ich schon so. Und ausgetobt hat er sich auch, wie er behauptet, also wollen wir's wagen.

Ja, ausgetobt hat er sich, das kann ich bezeugen, antwortete Hildebrand lachend. Er hat niemals nein gesagt, wenn es einen tollen Streich auszuführen gab; meistens hat er ihn sogar selber ausgedacht. Aber nun scheint er ja ganz solide geworden zu sein, und solche geben die besten Ehemänner.

Aber selbstverständlich! warf Delaroche ein. Musterexemplar, zur Prämiierung geeignet. Große goldene Medaille!

Martha blickte so stolz und glücklich auf ihn, als wenn sie die goldene Medaille heimlich schon in der Tasche hätte, Hildebrand aber fragte: Haben gnädiges Fräulein schon lange hier gelebt?

Drei Jahre erst. Geboren bin ich nicht hier in der Stadt. Aber mein Leben hat sich hier sehr angenehm gestaltet, da ich eine Tätigkeit gefunden habe, die mir Freude machte

Und welche, wenn ich fragen darf?

Ich weiß nicht, haben Sie schon einmal von dem Verein für Frauenschutz gehört? Es ist einer von den vielen Vereinen, die den Frauen aus dem Volk heute das Leben etwas leichter machen sollen. Dort erhalten sie unentgeltlichen Rat in Rechtsangelegenheiten. Und diesen Rat erteile ich ihnen – ich habe nämlich Jura studiert, weil es aber bei uns noch keine weiblichen Rechtsanwälte gibt, ist es schwer, seine Wissenschaft an den Mann zu bringen. Da ist es mir nun sehr lieb, diese Beschäftigung gefunden zu haben, wenn ich auch nichts damit verdiene.

Und in welchen Dingen wird solcher Rat gefordert?

Die Sache ist sehr vielseitig. Da kommen Frauen, die eine kleine Erbschaft gemacht haben oder selbst ein Testament machen möchten. Andere möchten sich scheiden lassen oder haben doch Beschwerden über ihren Mann. Und oft kommen auch die armen Mädchen, die verführt worden sind und sich nun keinen Rat wissen für sich und ihre kleinen Würmer.

Das ist famos!

Was denn?

Daß gnädiges Fräulein das so offen heraus sagen, so ganz ohne Prüderie.

Prüderie gibt es doch heute nicht mehr!

Oft aber ist mannweibliche Effronterie an ihre Stelle getreten, und ich sehe mit Vergnügen, daß das bei Ihnen auch nicht der Fall ist.

Warum soll ich nicht ruhig davon sprechen? Was können denn die armen Würmer für die Sünden ihrer Eltern, wenn anders man eine unvorschriftsmäßige Liebe zu den Sünden rechnen will?

Paul Delaroche, ich gratuliere dir noch einmal, sagte Hildebrand. Du hast eine Braut bekommen, die das Herz auf dem rechten Fleck hat.

Ein Herz wenigstens für die unglückliche Frau und für die armen, schuldlosen Kinder. Ich habe die kleinen Dinger immer ganz unmenschlich gern gehabt.

Ich kann sie nicht ausstehen, sagte Paul, aber seine Augen bezeugten, daß er log.

Haben gnädiges Fräulein selbst noch Eltern? fragte Hildebrand.

Eine Veränderung, die sein scharfer Jägerblick sogleich bemerkte, ging mit ihr vor. Ihre Augen verdunkelten sich wie ein See, über den eine Wolke dahinzieht. Auch kam ihre Antwort nur stockend heraus.

Nein – das heißt, mein Vater ist gestorben. Die Mutter lebt noch, aber sie ist so leidend – das heißt, nicht eigentlich krank, sie regt sich nur über alles so furchtbar auf. Paul hat sie noch nicht einmal sehen dürfen; wir konnten es nicht wagen, zu ihr zu fahren. Darum haben wir auch noch keine Verlobungsanzeigen verschickt. Sonst –

Sonst wärest du natürlich unter den ersten gewesen, alter Freund, die eine bekommen hätten, beendete Paul die Rede seiner unerwartet wieder stockenden Braut.

Das Glockenzeichen von der Bühne her unterbrach alle weitere Unterhaltung für den Augenblick, und die Komödie auf der Szene löste die verschiedenen Komödien im Zuschauerraume ab. Sherlock Holmes ergötzte die Hörer mit einigen der verblüffenden Schlußfolgerungen, die sich aus dem Buch auf die Bühne gerettet hatten, machte die hübschen Revolvermanipulationen, die das kleine Zwischenspiel im Parket hervorriefen, und ging aus dem Kampfe mit seinem gleichfalls übermächtig schlauen Gegner wiederum als Triumphator hervor, wie es nun einmal seine angeborene Bestimmung war.

Im nächsten Zwischenakte gab es einen Besuch in der Loge des Oberregierungsrats. Frau von Hergenrath erhob sich mit ahnfrauenhafter Würde von ihrem Sitz, durchschwebte die Korridore, wo leichtfertige Kavallerieoffiziere und ihresgleichen eine leise Gänsehaut beim Anblick ihres ganz in strenge Tugend getauchten Gesichtes empfanden, und öffnete die Tür zur Loge des Polizeichefs, der auf seinem Sitze schon bedenklich unruhig hin- und hergerückt war. Er sprang nun empor, begrüßte die violette Dame aus dem Jenseits mit feierlichster Höflichkeit und rückte mit ein wenig zitternden Fingern den Stuhl zurecht, auf dem sie sitzen sollte. Marion stieß einen leisen Seufzer aus; viel lieber hätte sie wieder umherkokettiert, vor allem hatte Hans von Hildebrand mit seinem energischen Profil ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie hatte um seinetwillen schon in aller Eile dem sieghaften Sherlock Holmes im Herzen die Treue gebrochen. Nun mußte sie tugendhaft sein und sich mit Frau von Hergenrath über Sachen unterhalten, die ihr höchst langweilig waren.

Ich bekomme Sie so wenig zu sehen, gnädiges Fräulein, sagte die Besucherin, daß ich diese Gelegenheit doch wahrnehmen möchte, um Sie wieder einmal zu begrüßen.

Marion sah ihr ins Gesicht und wunderte sich, wie schon häufig zuvor, über den sonderbaren Gegensatz zwischen diesen hartlinigen Zügen und der weichen, milden, singenden Stimme, die zwischen den schmalen Lippen hervorkam. Es war, als wenn die Dame heimlich einen Phonographen bei sich führte, der an ihrer Stelle sprechen mußte.

Sie sind sehr liebenswürdig, gnädige Frau, sagte Marion dann. Unsere Wege kreuzen sich in der Tat nur selten.

Ich bedaure das auf das lebhafteste. Wenn Sie sich ein wenig mehr in Ihres Herrn Bruders Interessen hineinfinden könnten, so würde das anders sein.

Ach, wissen Sie, für Keilschrift fühle ich nicht den allermindesten Beruf.

Die Ahnfrau schien sich über diese Bemerkung zu ärgern, denn sie wurde rot. Aber der Phonograph in ihrer Brust sprach noch ebenso milde wie vorher, als sie sagte: Daran hatte ich nun eben nicht gedacht. Diese archäologische Liebhaberei, die ich mit Ihrem Herrn Bruder teile, bietet mir nur die Erholung von strenger geistiger Arbeit und von lebhafter Tätigkeit im Dienste der öffentlichen Wohlfahrt. Ich bin, wie Sie wissen, Mitglied von verschiedenen Vereinen, und ich wurde mich sehr freuen, wenn ich Ihnen auch manchmal in einem von ihnen begegnen würde.

Da dürften Sie doch wohl etwas lange warten müssen.

Wie meinten Sie?

Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich habe nur einmal wieder laut gedacht; das ist so mein Fehler. Nicht wahr, Franz?

Bornträger seufzte tief und erbarmungswürdig. Einer deiner Fehler, jawohl.

Marion lachte. Dem Verein für entlassene Sträflinge zur Fürsorge empfohlen, sagte sie dann mit vibrierender Stimme.

Frau von Hergenrath kniff ihren Mund zusammen, daß er sich nur noch wie ein schmaler, gerader Strich in ihrem eckigen Kopf abzeichnete. Zugleich wandte sie diesen mit einer so langsamen und zugleich harten Bewegung zu Marions Bruder hinüber, als wäre sie ein Automat, in dem ein neues Rad in Aktion tritt. Auch ihr Phonograph mußte sich geärgert haben; denn er sprach jetzt um ein paar Töne tiefer, wie gefällt Ihnen das Stück, Herr Oberregierungsrat?

Darf ich zuerst fragen, wie es Ihnen gefällt, meine gnädige Frau?

Mein Gott, man sieht sich's einmal an. Mit der Literatur hat so etwas ja nichts zu schaffen. Moral und Wissenschaft haben keinen Vorteil davon.

Aber auch keinen Schaden, nicht wahr? Sie fragten mich neulich –

Ich weiß, ich weiß. Nein, bisher ist mir in dieser Hinsicht nichts aufgefallen.

Aber es könnte noch kommen, gnädige Frau, sagte Marion mit kunstvoll ängstlicher Stimme. Das wäre doch schrecklich! Wollen wir nicht lieber nach Hause gehen?

Frau von Hergenrath erhob sich, für ihre Verhältnisse auffallend schnell. In meine Loge werde ich wieder hinübergehen. Guten Abend. Mit einem wütenden Blick auf seine Schwester stand Bornträger auf und begleitete die Besucherin hinaus. Als er nun aber draußen stand und die Tür sorgfältig hinter sich zugezogen hatte, geschah etwas Ueberraschendes. Der Ausdruck seines Gesichtes verwandelte sich, ein sinnliches Feuer loderte aus seinem einen verfügbaren Auge heraus, und er flüsterte ganz leise: Morgen also?

Morgen. Die Antwort war kaum vernehmlich, so sehr hatte die Sprecherin die Stimme gedämpft, obwohl keine Lauscher in der Nähe waren. Für einen Augenblick hoben sich auch hier die Lider und ein heißer Blick antwortete dem des Oberregierungsrates. Dann aber legte sich gewohnte Kälte wieder auf die erstarrenden Züge, und würdevoll, wie sie gekommen war, ging die Ahnfrau nach Hause, – das heißt, in ihre Loge hinüber.


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