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Zwölftes Kapitel

Lina Ruschebusch war in Untersuchungshaft genommen worden, und Stilke hatte die Verhaftung der eigenen Geliebten mit gebrochenem Herzen veranlassen müssen. Ein schwerer Kampf in seiner Seele war vorangegangen. Dann aber nach einer durchwachten Nacht hatte die Pflicht gesiegt in Verbindung mit der sachdienlichen Erwägung, daß in der Person des vernommenen Soldaten ein Zeuge vorhanden war, der Lina kannte und sie gesehen hatte in der verhängnisvollen Nacht. Mit dem Gefühl, als wenn er die eigene Hinrichtung beantragte, hatte Stilke die nötige Anzeige erstattet, und seine Braut war ihrer goldenen Freiheit beraubt worden.

Es war nicht anders möglich gewesen. Ihr eigenes Geständnis bezeugte, sie war in der mutmaßlichen Mordnacht bei Frau Negenborns Brunnen gewesen, und ihre besten Sonntagsschuhe paßten in die gefundene Spur. Da gab es keinen Ausweg, wenn auch das geheimnisvolle Kind nur immer geheimnisvoller wurde. Denn Linas Mutter bezeugte mit Schwüren, Tränen und mitunter auch mit höchst unpassenden Flüchen, daß ihrer Tochter nicht das leiseste Kind nachgesagt werden könne. Sie habe selbst sieben Kinder gehabt, sie wisse, wie es dabei zugehe, und bei ihrer Lina, die das mütterliche Haus niemals für längere Zeit verlassen habe, sei es eben nicht so zugegangen. Wenn sich dadurch auch die sonderbare Schlußfolgerung ergab, daß die pp. Ruschebusch das Kind nur aus Gefälligkeit für irgend eine dritte Person umgebracht und sich damit selbst solche Ungelegenheiten zugezogen habe, das Gericht konnte auch vor solcher Schlußfolgerung nicht zurückschrecken, es mußte die Verdächtige notwendig in Haft nehmen.

Dieser aufregende Vorgang, von dem die Nachbarschaft noch tagelang wie von einem großen Sonntagsbraten zehrte, hatte zunächst ein sehr betrübliches Konzert zur Folge. Die drei der gewohnten Hüterin beraubten Kühe brüllten wehmütig, Linas Mutter heulte, und Stilke schluchzte die ganze folgende Nacht in seine vorschriftsmäßige Bettdecke von grauer Wolle hinein. Er hatte sich sonst immer gewundert, wenn er Menschen weinen sah; seine ruhige Seele hatte vom Unglücklichsein gar keine rechte Ahnung gehabt. Mit der Logik des Neulings hielt er sich nun aber auch für den unglücklichsten Menschen auf Gottes Erdboden, und seine naßgeweinte Decke mußte morgens am Fenster in der Frühlingssonne getrocknet werden.

Zuerst waren sein eigener Schmerz und sein Mitgefühl für Lina – das merkwürdig gewachsen war, seit ihre Mutter das Kind so nachdrücklich in Abrede gestellt hatte – viel zu groß, als daß daneben irgend ein sonstiges Empfinden Raum gehabt hätte. Dann aber zeugten die beiden Gefühle zusammen einen häßlichen Sprößling: die Wut. Er hatte einmal von einem Berserker gelesen, und wenn er auch nicht wußte, ob das ein Tier war oder ein Mensch, jedenfalls war ihm bekannt, daß ein Berserker ungemein wütend sei. Darum erschreckte er einen Kollegen, der müde von seiner Nachtpatrouille heimkam, im grauen Dämmerlichte des Morgens durch die unheimlichen Worte: Ich will ein Berserker werden! Ein Berserker will ich werden!

Gegen wen seine Wut sich richtete, darüber konnte kein Zweifel sein. Sie bedeutete ja nur eine vermehrte und verstärkte Auflage der Wut vom Tage der unseligen Entdeckung. Ihr Gegenstand hieß Niemann! Ihn verfolgen, ihn ruhelos über die Erde jagen, ihm nachweisen, daß er Lina Ruschebusch, wenn auch nicht zur Fortpflanzung ihres Geschlechtes, doch zu anderen Abscheulichkeiten verführt habe, das war jetzt für Stilke des Lebens nächstes Ziel. Die Stiefel mit dem Flicken auf der Sohle sprachen laut gegen den Polizeikommissär. Hier war ein fester Punkt, ein Beweis. Aber dieser Beweis hatte ein Loch. Die Stiefel des Kommissärs waren ohne Zweifel in der Nacht vom sechsten zum siebten April im Garten der Frau Negenborn spazieren gegangen, das eine jedoch war noch zu beweisen, daß ihr Besitzer dermalen auch wirklich in ihnen gesteckt hatte. Wie war das anzufangen?

Stilke schwitzte bereits wieder vor Anstrengung, aber das half nichts, die Sache mußte durchgedacht werden. Die latente Wut gab ihm Kraft. Und plötzlich kam es wie eine Erleuchtung über ihn. Wenn sich Niemann wirklich in eigener Person damals in dem dreimal verfluchten Garten befunden hatte, so war dies nur der Abschluß von seinen schändlichen abendlichen Vergnügungen gewesen. Er hatte dann auch Lina Ruschebusch auf der Straße verfolgt, er hatte zuvor mit ihr getanzt, er war im »Grünen Baum« gewesen. Wenn er aber im »Grünen Baum« gewesen war, dann hatte man ihn dort auch gesehen; denn ein Tanzvergnügen findet nicht unter Ausschluß der Oeffentlichkeit statt, höchstens in den Pausen.

Ganz aus eigener Kraft gelangte Stilke zu diesen Folgerungen. Denn in der dienstlichen Direktive war durch den Zwischenfall mit Niemann eine Unterbrechung eingetreten. Seine gerüchtweise bereits unter den Kollegen bekannt gewordene, bevorstehende Ablösung in der Untersuchungsführung mußte vom Gericht selbstverständlich in der vorschriftsmäßigen Form schriftlich bei der königlichen Polizeidirektion beantragt werden, und das ging nicht so schnell. So fühlte sich Stilke für diesen Tag ohne unmittelbares Oberhaupt und er hatte die Freiheit, auf eigene Hand in seinen Untersuchungen fortzufahren. Die Aussicht auf Tätigkeit wirkte wie ein Tropfen Balsam im bitteren Kelch seiner Leiden, und er ging mit neuerwachtem Eifer ans Werk. Der »Grüne Baum« war sein Ziel, und wenn es ihn auch abscheulich im Halse würgte, so oft er daran dachte, daß er diesen Weg ein paarmal mit seiner hübschen Lina gemeinsam gemacht hatte, so war er doch Mannes genug, um seine nächtlichen Tränen hier auf offener Straße nicht noch einmal da capo zu weinen.

Das Geschick aber hatte wieder einmal seinen eigenen Willen, und es führte daher an diesem sonnegesegneten Frühlingsmorgen gerade die beiden Menschen am selben Orte zusammen, die einander am allerweitesten hätten aus dem Wege gehen sollen. Das kam folgendermaßen: Das amtliche Schreiben des Herrn Untersuchungsrichters an die königliche Polizeidirektion war in der Frühe dieses Tages an sein Ziel gelangt und hatte dem Herrn Oberregierungsrat seine Laune zunächst sehr gründlich verdorben, die schon an sich nicht golden gewesen war, weil das Podagra ihn ziemlich erheblich zwickte. Sich mühsam in sein Bureau schleppend, erwog er bei sich die verschiedenen Gründe seines gerechten Aergers. Erstens war es ihm von vorneherein höchst unangenehm, wenn das Gericht sich in Polizeisachen mischte, zweitens war er dem Untersuchungsrichter Mauerbrecher persönlich nicht grün, weil er ihm ein paarmal mittels eines harmlosen kleinen Jeus einen ganzen Haufen Geld abgenommen hatte, und endlich war es überhaupt ausgeschlossen, daß einer seiner Beamten solch ein Verbrechen beging. Das gab's einfach nicht. Sein moralischer Einfluß auf die Untergebenen war zu groß, als daß etwas Derartiges hätte vorkommen können.

Eine andere Sache kam aber hinzu. Das gerichtliche Schreiben hatte noch eine weitere Mitteilung enthalten. Es hatte auf Niemanns dem Untersuchungsrichter übermittelte neueste Entdeckung Bezug genommen und von ihr gesagt, sie sei allerdings fragwürdig im Hinblick auf ihren Urheber – »Unsinn! Dummheit!« hatte Bornträger bei diesem Passus gerufen –, das Gericht habe sich aber trotzdem veranlaßt gesehen, ihr näher zu treten. Vor allen Dingen habe man eine Untersuchung der gefundenen Haare durch einen der gerichtlichen Sachverständigen angeordnet, und von diesem sei festgestellt worden, daß die fraglichen Haare von einem Löwen stammten. Von einem Löwen! Es wurde Bornträger ganz heiß bei diesem Gedanken. Woher kam denn auf einmal seine unheimlich vielseitige Beziehung zu diesen vierbeinigen Ungetümen? Seine Schwester verkehrte mit einem Löwenjäger, sie schrie beim Unfall eines Löwenbändigers im Zirkus, und nun fand sich in der Wohnung der unglücklichen Frau Negenborn, in einen Gerichtsbericht eingewickelt, eine Locke von Löwenhaaren! So viel war in der königlichen Polizeidirektion noch niemals von Löwen die Rede gewesen, und allmählich überkam den Herrn Oberregierungsrat Bornträger das bestimmte Gefühl, daß eine von diesen Bestien in einer Ecke seines Bureaus auf ihn selber lauere, um in absehbarer Zeit uneingeladen daraus hervorzustürzen. Das war aber für die Nerven kein zuträglicher Gedanke.

Zunächst mußte jedoch die Sache mit Niemann erledigt werden. Er war sofort vor das Antlitz des Kadi zitiert worden und erschien pünktlich, aber in unsagbar kläglicher Verwandelung. Er hatte zwei Nächte nicht geschlafen, und seine Augen lagen so tief in ihren Höhlen wie die von Banquos Geist auf dem Theater. Dabei waren sie von sonderbar gläserner Starrheit, was durch die Umstände freilich erklärt wurde. Nagende Todesangst, verbunden mit immer wiederholten Mahnungen seiner lieben Gattin, sein Kreuz auf sich zu nehmen, hatten den beklagenswerten Kommissär aus dem Hause und – leider! – dem sonst nur mäßig genossenen Alkohol in die Arme getrieben. Er hatte jedesmal, wenn ihm der Gedanke an das auf sich zu nehmende Kreuz gekommen war, ein Glas Bier oder einen Kognak hinuntergegossen, und weil der Gedanke sich auf so einfache Weise nicht wollte vertreiben lassen, so hatte das Quantum nutzlos vertilgter Alkoholien eine erschreckende Höhe erreicht. Zugleich war das dem Herrn Kommissär zugebilligte Taschengeld längst erschöpft, er hatte seine Zeche leichtsinnigerweise anschreiben lassen, und die Aussicht auf die häusliche Szene, die solcher Etatsüberschreitung notwendig folgen mußte, war nicht geeignet, den Gebrochenen wieder aufzurichten. Er hatte auch den heutigen Tag schon mit Kognak begonnen, und dieses Belebungsmittel im Verein mit der Schlaflosigkeit hatte angstvoll erregend auf seine Phantasie gewirkt. Er lebte in dem unbehaglichen Glauben, heute schon vor dem Schwurgerichte zu stehen, und kam auf diese Weise dazu, seinem Vorgesetzten, den er offenbar in mehreren Exemplaren vor sich sah, die sonderbarsten Titulaturen zu geben. In seiner Haltung war er aber auch heute noch der alte Militär und schwankte nur zuweilen ganz leise wie ein Baum im Winde.

Bornträger war trotz der vielen Gründe, sehr übler Laune zu sein, gegen den Kommissär an sich milde gestimmt. Er gehörte auch zu den Menschen, die dann für andere Leute Mitgefühl haben, wenn sie dessen für sich selbst bedürftig sind. Und das war heute der Fall. Der Herr Oberregierungsrat litt. Nicht in der Seele, wie Niemann, wohl aber in seinem rechten Bein. Das Podagra nagte, wenn es auch erst im Anzuge war, doch mit unangenehm scharfen Zähnen daran, und gegen Schmerzen war das eine Auge der Gerechtigkeit nun einmal sehr empfindlich. Der Herr Polizeichef machte diesen Gefühlen auch vernehmlich Luft und begleitete, wenn irgend eine unvorsichtige Bewegung die Schmerzen vermehrte, seine Rede mit manchem »Ach«, »Au«, »Oh« und zuweilen auch – Gott verzeih es einem Manne in seiner Stellung! – mit ganz abscheulichen Flüchen. Der Kommissär hatte diesen schmerzhaften Zustand früher bereits ein paarmal miterlebt, jene Zwischenrufe waren ihm also nichts Neues.

Als Niemann sich vor seinem Chef aufgepflanzt hatte, stimmte Bornträger sein Organ auf die Tonart väterlicher Milde und sagte: Ja, was muß ich denn von Ihnen hören? Was machen Sie für Geschichten!

Der Kommissär starrte ihn an, offenbar ohne ihn zu erkennen. Hoher Gerichtshof, begann er dann lallend, aber feierlich.

Herr Kommissär, Herr Kommissär, sagte sein Chef mit mildem Verweis. Hier ist ja doch kein Gerichtshof. Ich, Ihr Vorgesetzter, habe Ihnen leider – au! – eine unangenehme Mitteilung zu machen. Der Herr Untersuchungsrichter hat heute das Ersuchen hierhergerichtet, Ihnen die weiteren Recherchen über den Fund auf dem Negenbornschen Grundstück – Donnerwetter nochmal! – abzunehmen. Und ich werde nicht umhin können, diesem Ersuchen stattzugeben.

Es ist mir eins, es ist mir alles eins, entgegnete Niemann in Grabeston. Er war dem grauen Elend sehr nahe.

Und was ist das für eine unglückliche Sache mit Ihren Stiefeln?

Ich beschwöre – be–schwöre – daß ich niemals, weder bei Nacht noch bei Tage in diesen Stiefeln im Garten der Frau Negenborn gewesen bin. Ich nehme das auf meinen – meinen Diensteid!

Regen Sie sich nicht auf. Ich glaube Ihnen. Jawohl, ich nehme keinen Anstand, Ihnen zu erklären, daß ich Ihnen glaube. Wie reimen Sie sich aber den Kasus zusammen? Haben Sie – au! – haben Sie einen Feind?

Wer hätte keine Feinde?

Da haben Sie recht. Jawohl, ein jeder kann davon sagen. Ich selbst sogar, ich selbst mache keine Ausnahme.

Niemann warf sich in Positur; er hatte sich offenbar eine Rede einstudiert. Ich erkläre mich feierlich für nichtschuldig. Was mich verdächtigt, sind nur jene Stiefel. Bedenken Sie meine Vergangenheit, die tadellosen Zeugnisse meiner Herren Vorgesetzten, und Sie werden sich sagen, daß auf das einzige Zeugnis dieser Stiefel hin eine Verurteilung nicht möglich ist. Man hat sie mir heimlich entwendet, hat sich eingeschlichen in meine Wohnung, hat sogar die scharfen Augen meiner Frau – und sie hat scharfe Augen! – mit bübischer Gewandtheit getäuscht –

Jetzt lassen Sie mich einmal reden. Und geben Sie gut acht. Offiziell dürfen Sie natürlich nicht mehr in dieser Sache recherchieren. Wenn Sie aber als Privatmann mit allem Eifer den Beweis Ihrer Unschuld anstreben, so ist dagegen selbstverständlich nichts einzuwenden. Im Gegenteil, ich wünsche, daß es Ihnen gelingt, Ihre Unschuld – au! – zu beweisen. Die Polizei muß rein dastehen in den Augen der Welt. Und darum gebe ich Ihnen, rein privatim allerdings, wie ich ausdrücklich betone, folgenden Rat: Gehen Sie von der Voraussetzung aus, daß zwischen den beiden Spuren im Garten unbedingt ein Kausal-Nexus, ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Wer die Inkulpatin dorthin verfolgt hat, ist ihr – in Ihren Stiefeln – auch auf der Straße nachgelaufen und hat vorher im »Grünen Baum« – in Ihren Stiefeln – mit ihr getanzt. Wir wissen ganz gut, wie häufig Verbrecher sich unmittelbar vor Ausführung ihrer Tat, worunter ich hier allerdings nur das Verbergen eines belastenden corpus delicti verstanden wissen möchte, an öffentlichen Orten, auf Tanzböden und dergleichen sehen lassen. Sie wollen sich damit ein Alibi schaffen oder sonstwie den Verdacht von sich ablenken. Haben Sie mich verstanden?

Jawohl – jawohl – jawohl! Niemann beteuerte mit feierlichem Nachdruck, aber trotzdem war es zweifelhaft, ob die Bejahung der Wahrheit entsprach.

Jener Kausal-Nexus, von dem ich gesprochen habe, bietet Ihnen einen festen Punkt, von dem Sie ausgehen können bei Ihren – ich wiederhole es – au! – ganz privaten Versuchen, Ihre Unschuld evident nachzuweisen. Auf Grund nochmaliger scharfer Prüfung der Sachlage zeigt sich mir dafür ein scheinbar sicheres Mittel.

Niemanns Augen weiteten sich, ein Strahl des Verständnisses belebte ihre gläserne Starrheit. Ein – Mittel?

Halten Sie fest an der Voraussetzung: Der Täter hat mit dem Mädchen im »Grünen Baum« getanzt. Man hat, wie Sie wissen, eine ganze Menge von Leuten, auch den Wirt des Lokales, über die Person dieses Tänzers bereits vernommen, aber dabei nur die widersprechendsten Aussagen erhalten. Das eine jedoch wird unbedingt, und zwar am sichersten durch das Zeugnis des Wirtes selbst eruiert werden können, ob Sie an jenem Abend im »Grünen Baum« gewesen sind oder nicht. Verneint er das, dann ist für den Beweis Ihrer Unschuld schon viel gewonnen.

Mit Niemann ging eine höchst eingreifende Veränderung vor sich. Es war, als hätte man einen Menschen, der nachtwandelnd auf einem Dache spazieren geht, plötzlich geweckt. Im ersten Augenblick schoß er taumelnd einen Schritt vorwärts, raffte sich dann zusammen, hob den Kopf, riß die Augen zu ungewöhnlichen Dimensionen auseinander und starrte seinen Chef mit einem freudigen Ausdruck erwachenden Erkennens ein paar Sekunden lang an. Darauf begann er zu sprechen, wenn auch auf etwas wunderliche Art.

Herr – Herr – Oberregierungsrat! Herr Ober– Oberregierungsrat! Gestatten Sie mir – mir die Bemerkung: Sie sind – mein guter – mein guter Engel!

Nun, nun! Bornträger lächelte geschmeichelt und herablassend zugleich, was das Monocle wieder einmal übelnahm und mit Hinunterfallen strafte. Der intakte Ruf meiner Beamten – Schockschwerenot! – liegt mir selbstverständlich am Herzen.

Es wird Licht! stammelte Niemann in einem Tone des Jubels. Durch Ihre – Ihre Güte, Herr Oberregierungsrat, wird es Licht. Auch in meinem Kopfe. Es war so dunkel darin wie in einem – er suchte nach einem passenden Vergleich – in einem ersäuften Bergwerk. Ich konnte keinen Gedanken mehr fassen, keinen einzigen. Der Herr Oberregierungsrat werden mir bezeugen, daß ich bisher nicht ganz unfähig war im Folgern und Schlüsseziehen. Aber diese Ueberraschung hatte mich betäubt. Ich habe gegrübelt und gegrübelt und bin auf diesen so nahe liegenden Wirt nicht verfallen.

Jetzt war er wieder im Zuge mit seiner Sprache. Wie eine Lokomotive sich mühsam und pustend aus dem Bahnhof herausarbeitet, sich dann aber zu schönem Flug auf der freien Strecke anschickt, so gewann auch er seine natürlichen Fähigkeiten zurück.

Es ist gut. Also merken Sie sich: offiziell haben Sie mit dieser Untersuchung nichts mehr zu schaffen. Ich werde sie dem Kommissär Kirchheim übertragen, mir auch selbst noch einmal das nötige Material vom Gerichte kommen lassen, um ihn gehörig zu instruieren. Er soll sich bei der Untersuchung hauptsächlich des Schutzmanns Stilke bedienen. Der Mann hat sich, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, über alles Erwarten bewährt. Man sieht es ihm nicht an, was er zu leisten vermag.

Niemann hätte dies behördliche Lob für einen Beamten, der ihn selbst mit seinem unglücklichen Stiefelfund in solche Not gebracht hatte, unter anderen Umständen als einen schmerzhaften Dolchstoß empfunden. Im Augenblick aber war er so glücklich über die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit seiner Rehabilitierung, daß er diese Bitternis kaum fühlte. Vor seinen hoffnungsvollen Blicken tanzte der »Grüne Baum«, tanzte der zugehörige Wirt, tanzte sogar der Herr Oberregierungsrat einen fröhlichen Reigen.

Nun gehen Sie, sagte dieser, dem das Tanzen im Augenblick recht sauer hätte werden sollen, und wenn Sie bei Ihren privaten Recherchen etwas besonders Zweckdienliches ermitteln sollten, so ist es – oh verflucht! – nicht ausgeschlossen, daß Sie es mir melden.

Niemann trat ausdrucksvoll einen Schritt vor. Gestatten der Herr Oberregierungsrat, Ihnen meinen ganz ergebensten Dank auszusprechen. Ich werde mich bemühen, mich Ihrer Güte würdig zu zeigen.

Er machte mit solchem Eifer und solcher Schnelligkeit auf dem Hacken kehrt, daß es Aehnlichkeit mit der Pirouette eines Ballettänzers bekam, doch war er wieder nüchtern genug, um dies Manöver ungefährdet zu vollführen. Mit energischem Anlauf gewann er auch auf ziemlich direktem Wege die Tür.

Draußen schien die Sonne, sie schien auch in seinem Herzen. Wenigstens rüstete sie sich dort zum Aufgang und verbreitete ein sanftes Morgenrot in seiner verfinsterten Kriminalistenseele. Dies Morgenrot aber konnte sich nur im »Grünen Baum« in hellen Tagesglanz verwandeln; dorthin trieb es den Kommissär in atemloser Eile. Nicht einmal eine Minute Zeit ließ er sich, um an der Haltestelle die Trambahn abzuwarten, obwohl er mit ihr viel rascher an sein Ziel gekommen wäre. Seine Schritte übernatürlich dehnend, fast laufend, stürmte er durch die Straßen und erzeugte so in den Menschen, denen er als Kriminalkommissär bekannt war, die anregende Vermutung, daß ein frisch entdecktes Verbrechen begangen worden sei.

Unbekümmert darum, welchen Erfindungen er mit seiner Hast Nahrung gab, stürmte Niemann indessen vorwärts. Als er nicht mehr fern vom »Grünen Baum« war, sah er vor sich auf einer der einsameren Vorstadtstraßen eine zweite Gestalt mit ähnlich raschen Schritten, aber doch in etwas gemäßigterem Tempo dahineilen. Kurze Hosen flatterten um kurze, dicke Beine, und an den halbkugelförmig hervortretenden Waden erkannte der Kommissär den Schutzmann Stilke. Mit seinen großen, geflügelten Schritten holte Niemann den feindlichen Untergebenen bald ein, doch war er in so gehobener Stimmung, daß er den Stiefelfinder verhältnismäßig milde begrüßte.

Guten Tag, Stilke.

Herr Kommissär! Stilke war herumgefahren, und eine Sekunde lang standen die beiden Männer, die mit solchem Eifer, wenn auch in höchst verschiedener Absicht dem gleichen Ziele zustrebten, einander stumm gegenüber. Als diese wortlose Sekunde vorüber war, sah Stilke einem Truthahn, der vor Wut bersten will, unheimlich ähnlich, und wenn er nicht in diesem Augenblick seine Sprache wiedergefunden hätte, so wäre die drohende Katastrophe wahrscheinlich erfolgt.

Herr Kommissär, es ist geschehen. Ich habe meine Pflicht getan, ich habe die Verhaftung meiner Braut Lina Ruschebusch veranlaßt. Aber wenn unschuldiges Blut in dieser Sache vergossen wird, so komme es über Sie.

Ach, lassen Sie's doch gut sein. Von Blutvergießen ist ja noch gar keine Rede. Ich bin hierhergekommen, um endlich Klarheit in die Sache zu bringen.

Ich auch! Stilke hob sich auf die Zehen, ballte die Fäuste und wiederholte in dieser unbequemen Situation noch einmal sein verbissenes »Ich auch!«

Also, dann sind wir ja einig. In weniger als fünf Minuten denke ich meine Unschuld unwiderleglich zu beweisen.

Und ich Ihre Schuld!

Kommen Sie her, wir werden sehen.

Er verlor keine Worte weiter, sondern ging vorwärts auf der Straße zum »Grünen Baum«. Stilke folgte ihm nach mit geballten Händen und rollenden Augen.

Mit jener nachdrücklichen Schneidigkeit, die Niemann in glücklicheren Tagen ausgezeichnet hatte, trat er in das Gastlokal des »Grünen Baumes«, wo der dicke Wirt mit ein paar Stammgästen Karten spielte. Der Anblick des auf ihn zuschreitenden Polizeikommissärs war jedoch so imponierend, daß er ohne weiteres die Karten aus der Hand legte und aufstand, um ihn zu begrüßen. Doch Niemann schien seinen Gruß nicht zu hören.

Sehen Sie mich an. Kennen Sie mich?

Der Wirt lachte so herzlich, wie es bei Witzen seiner Gäste Pflicht für ihn war; sein dicker Bauch bebte. Sie sind gut aufgelegt heute, Herr Kommissär.

Sagen Sie diesem Manne hier, wer ich bin.

Immer mehr lachte der Wirt. Ich soll – dem Schutzmann Stilke da – soll ich sagen, wer sein Vorgesetzter ist? Großartig, Herr Stilke, nicht wahr?

Sagen Sie laut und deutlich, wer ich bin.

Sein feierlicher Eifer machte den Wirt ein wenig ängstlich, er brachte mit vorsichtiger Taktik einen schweren Eichentisch zwischen sich und die Männer von der Polizei, die beide so merkwürdige Augen machten.

Wollen Sie es vor diesen Zeugen sagen oder nicht?

Gewiß, gewiß. Bleiben Sie nur drüben stehen. Ich habe ja gar nichts dagegen, Ihnen zu sagen, daß Sie der Herr Kommissär Niemann aus dem zehnten Bezirke sind.

Stilke, haben Sie die Ueberzeugung, daß dieser Mann mich kennt?

Jawohl, Herr Kommissär, ich habe die Ueberzeugung.

Nun meine zweite Frage, Herr Wirt. Bin ich in der Nacht vom sechsten zum siebten April hier in Ihrem Lokale gewesen? Habe ich hier mit der Lina Ruschebusch getanzt, über die Sie bereits wiederholt vernommen worden sind?

Getanzt? Sie hier getanzt? Nein, Herr Kommissär, das ist nicht mehr vorgekommen, seit Sie fort sind vom Militär. Das würde auch Ihre werte Frau Gemahlin, wie ich sie kenne, wohl kaum erlaubt haben.

Meine Frau hat mir nichts zu erlauben und nichts zu verbieten, sagte Niemann mit umso größerem Nachdruck, als er an die gemachten Zechschulden dachte und ein dringendes Bedürfnis fühlte, seine Seele mit einem dreifachen Panzer von Erz zu umhüllen. Ich mache Sie aufmerksam, Herr Wirt, daß von Ihnen verlangt werden kann, diese Aussage vor Gericht unter Eid zu wiederholen. Sind Sie dazu bereit?

Jeden Augenblick, Herr Kommissär. Unter hundert Eiden, wenn es verlangt wird.

Stilke, haben Sie es gehört?

Stilkes Mund hatte sich langsam immer weiter geöffnet; die halbe Zunge hing ihm heraus. Er versuchte, zu bejahen, aber seine Antwort war nicht viel mehr als ein Schnappen nach Luft. Niemann fuhr fort. Seine alte, überlegene Zuversicht wachte wieder auf.

Wer einen Funken von Logik im Kopfe hat – und ich hoffe, Sie haben unter meiner Anleitung mehr als einen Funken davon gewonnen – muß über den ursächlichen Kausalitätszusammenhang in dieser Sache im klaren sein. Der Mann, der hier mit Lina Ruschebusch getanzt hat, ist ihr nach den Gesetzen der Logik auch auf die Straße nachgelaufen und hat sie bis in den Garten der Frau Negenborn verfolgt. Stilke, ist Ihnen das klar?

Jawohl, Herr Kommissär. Stilke fühlte sich wieder kleiner und kleiner werden und beschloß im stillen, selbständiges Denken für immer aufzugeben.

Stilke, was folgern Sie daraus?

Du lieber Gott, es ging wieder an! Der Schutzmann hatte in letzter Zeit auf eigene Hand so viel gefolgert, er hatte in diesem Augenblick den hilflosen Bankerott all seiner Folgerungen so deutlich erkannt – nun war es doch wirklich genug mit solch überflüssiger geistiger Anstrengung! Er zog es daher vor, gar nicht zu antworten. Aber Niemann gab keine Ruhe.

Stilke, ich frage Sie angesichts des Zeugnisses dieses Wirtes hier auf Ehre und Gewissen: bin ich unschuldig oder schuldig in Ihren Augen?

Ich weiß nicht – ich denke –

Auf Ehre und Gewissen! Können Sie als Mann von gesunder Vernunft sich der Beweiskraft dieser Tatsachen entziehen?

Nein, entziehen kann ich mich nicht. Und das ist ja richtig: wer getanzt hat, der hat auch gemordet. Sie haben nicht getanzt, also haben Sie auch nicht gemordet. Dagegen ist nichts zu sagen.

Also unschuldig, Stilke, nicht wahr?

Unschuldig, Herr Kommissär. Und ich bitte um Verzeihung. Aber wer ist es denn nun gewesen?

Das müssen und werden wir herausbringen. Gemeinsam. Sie offiziell, ich privatim. Und nun kommen Sie her, trinken Sie ein Glas Bier mit mir zur Versöhnung.

Dagegen hatte Stilke nichts einzuwenden. Der Wirt brachte das Bier, und die beiden Polizisten setzten sich zusammen an einen Tisch, doch brachte Stilke den wiedergewonnenen Respekt vor seinem Vorgesetzten dadurch zum Ausdruck, daß er nur mit der Hälfte seiner Sitzgelegenheit auf dem Stuhle balancierte.

Niemann spülte den beängstigend wieder auftauchenden Gedanken an seine sparsame Hausfrau mit einem großen Schluck hinunter und sagte: Sie haben mir unrecht getan, Stilke. Aber ich verzeihe Ihnen. Sie haben nach Ihrer Instruktion gehandelt, was immer die Hauptsache ist. Und damit Sie sehen, wie gut ich es mit Ihnen meine, will ich Ihnen erzählen – ich wäre nicht verpflichtet, denn ich habe keinen Auftrag dazu – was der Herr Oberregierungsrat heute von Ihnen gesagt hat.

Von mir?

Jawohl. Sehr lobend hat er sich ausgesprochen. »Der Mann,« so waren seine eigenen Worte, »hat sich über alles Erwarten bewährt. Man sieht es ihm nicht an, was er zu leisten vermag.«

Stilke verlor die Balance auf seinem Stuhl vor Freude und hätte sich auf den Boden gesetzt, wenn er sich nicht wie ein Ertrinkender an die Tischplatte angeklammert hätte.

Hat er das gesagt? Hat er das wirklich gesagt? Mitten im Fallen tat er die Frage.

So wahr ich hier sitze.

Wenn ein Mensch auf Erden schon den Ausdruck der Verklärung annehmen kann, so tat es Stilke in diesem Augenblick. Seine Lippen bewegten sich; er wiederholte selig: Bewährt, über alles Erwarten bewährt. Man sieht es ihm nicht an!

Im weiteren Verlaufe des Tages bot Stilke für jemanden, der ihn beobachtete, ein interessantes, auf die Dauer freilich ängstliches Schauspiel. Nachdem der erste Freudensturm über die anerkennenden Worte seines hohen Vorgesetzten vorüber war, kam der Gedanke an seine Lina in der Untersuchungshaft mit verdoppelter Gewalt über ihn. Der Schmerz um sie wurde wieder durch die Freude verdrängt und umgekehrt. Alle die wechselnden Regungen seiner bewegten Seele spiegelten sich auf seinem Gesichte, während er später seine Patrouille machte. Bald war er in der Lage, durch gewaltsamen Gebrauch seines rotbunten Taschentuches die Tränen um Lina ersticken zu müssen, bald erstrahlte sein zur Vollmondrundung aufgeheitertes Gesicht in hellem Glanze, während seine Lippen sich lautlos bewegten. »Man sieht es ihm nicht an – bewährt – über alles Erwarten bewährt.« Er bildete stumm die Worte, wiederholte sie mit unverändertem Genuß immer aufs neue und machte jedesmal, wenn er damit zu Ende war, eine feierliche Verbeugung, als wenn er seinem hohen Chef in Person gegenüberstände und sich bei ihm bedanken müßte.


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