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11.
Wieder daheim

Der Lenz war da!

Sylvia und der Vater hatten ihn dieses Jahr zweimal einziehen sehen.

Da unten erst in der kleinen Osteria, wo er aber gar nicht den umwälzenden Einfluß hatte, wie man ihn von zu Hause gewohnt war, da ihm so wenig eigentlich zu tun blieb.

Den Winter durch hatten sich dort ja sozusagen das Sommergedenken und das Frühlingsahnen die Hände gereicht. Was da Winter hieß, waren ein paar kurze, feuchte Wochen gewesen, die den Namen nach nordischen Begriffen wahrlich nicht verdienten. Kaum daß sie das Ausklingen der verflossenen und das Heraufziehen der nächsten schönen Jahreszeit trennten.

Märchenhaft schön ist der Lenz des Südens, der wie mit einem Zauberstab über Nacht alles glühen und blühen und leuchten macht, seinem Bruder im Norden kommt er aber nicht gleich.

Es liegt ein eigener Reiz über diesem herben allmählichen Sicherschließen des nordischen Frühlings. Dies Ahnen, dies Werden, dies Keimen, Sprießen, Sprossen, diese ganze liebliche Vorbereitung zum lieblichen Wunder – wer möchte sie missen?

Auch Sylvia nahm diesen Reiz mit schauenden, fühlenden Augen in sich auf, als sie an Vaters Seite durch die heimischen Fluren der Heimat zufuhr.

»Es geht doch nichts über das deutsche Land, Väterchen,« jubelte sie und sah ihn mit leuchtenden Augen an.

Und in seinen Blauaugen lag der gleiche warme, leuchtende Schein.

»Weil man eben daheim ist, Grasmückchen«, sagte er leise und sinnend.

»Weil man eben in Deutschland daheim ist, Väterchen,« sagte sie bestimmt und begeistert.

Lächelnd strich er ihr über den Scheitel.

»So'n Grasmückchen!«

Und dann waren sie wirklich wieder daheim.

Das Wiedersehen war ein sehr bewegtes gewesen, so zwiespältig, es ließ sich kaum unterscheiden, ob Freude, ob Schmerz die Oberhand hatte.

Gar zu viel stürmte ja auch bei diesem Wiedersehen auf alle ein. Und Freude und Schmerz liegen so nahe beisammen in der Menschenbrust, daß das Menschenauge zuletzt für beide nur einen und denselben Ausdruck hat – die Träne.

Als dann alle ruhiger geworden waren, als man zum stillen, friedvollen Genießen des Wiederbeisammenseins kam, da trat die Freude voll in ihr Recht.

Wie Altchen sich an des Sohnes und Sylvias gesundem, gekräftetem Aussehen freute! Und was Sylvia Altchen alles zu erzählen und anzuvertrauen hatte!

Altchen faltete die Hände, ein Freudenschein lag auf dem lieben alten Gesicht.

»Der Herr hat alles wohlgetan,« sagte sie weich, hob die Augen nach oben und senkte dann den Kopf.

Auch beim Wiedersehen des kleinen Grabhügels draußen an Mutters Seite hatte Sylvias Schmerz den herbsten Stachel verloren.

Um Alf-Bübchens kleine liebe Gestalt hatte sich in ihrem Empfinden ein verklärender Schein gelegt. Sie wußte den Kleinen wohl geborgen und allem Harm entrückt. Ob sie ihren Liebling auch missen würde zu jeder Stunde, mit nagendem Herzweh missen würde Zeit ihres Lebens – Klein Alf-Bübchen spielte nun mit den Engelein: Erdennot, Erdenleid waren ihm erspart.

 

Mai war's, und auf Ende Mai fiel Pfingsten.

An Pfingsten wurden die Lieben alle daheim erwartet. Achim und Dieter, Jörg und Heinz und – noch jemand.

Aber das war vorläufig noch Geheimnis.

Zwischen Vater und Gerhard gab's manche Heimlichkeit in diesen Tagen, worüber Sylvia sich sehr erstaunte und zuweilen gekränkt fühlte. Auch Altchen schien von der Verschwörung.

»Hört mal, das finde ich ganz ungehörig! Ihr scheint euch im Kalender zu irren. Weihnachten liegt längst hinter uns,« sagte Sylvia vorwurfsvoll.

Sie lachten nur als Antwort, und Väterchen sagte: »So feiern wir zweimal Weihnacht, Grasmückchen!«

Das Grasmückchen zuckte bloß die Achseln und ging aus dem Zimmer, so gekränkt und ärgerlich, wie es das Grasmückchen überhaupt fertig brachte.

So gingen die Tage und Wochen hin. Vater hatte sich längst wieder in seine Praxis eingearbeitet. Gerhard unterstützte ihn noch. Er wollte nach Pfingsten eine Reise in die verschiedenen Kliniken der größeren Städte antreten und sich dann irgendwo eine Stelle als Assistenzarzt suchen.

Die Pfingstwoche kam. Jeder Tag schien Bleigewichte anhängen zu haben.

Es wollte und wollte nicht Sonnabend werden.

Aber wenn man Geduld hat und warten kann, bis die Sonne oft genug auf- und wieder untergegangen ist, so muß doch endlich unfehlbar einmal der ersehnte Tag herankommen.

Das ist Naturgesetz, und das ungebärdigste Herz, der eisernste Wille kann daran nicht rütteln, den Gang der Stunden nicht aufhalten oder beschleunigen.

Es wurde auch wirklich Sonnabend – Sonnabend vor Pfingsten.

Vom frühesten Morgen an huschte Sylvia durchs Haus, treppauf, treppab.

Die Zimmer der »Jungen« waren in schönster Ordnung.

Ob es heute wirklich Nachmittag werden würde?

Jede halbe Stunde beinahe steckte Sylvia den Kopf zu Altchen herein.

»Wie du nur so ruhig sein kannst, Altchen?«

»Lernt sich alles, Kind, lernt sich. Leben und Alter sind erstaunliche Lehrmeister. Was mit achtzehn sprudelt und braust und schäumt, das stießt dann mit achtzig fein sachte dahin. Ja, ja, das wildeste Wässerlein wird zahm, so zahm, mein Kind.«

»Sieh Altchen, sie haben mich so lange nicht Mütterchen Sylvia genannt. Seit – seit – seit damals, Altchen!« Ein Schatten zog über das helle Gesicht. »Wie ich mich danach sehne!«

Und jetzt flossen helle Tränen. Sylvia wischte sie fort – lachte ein bißchen – wischte wieder, und dann umschlang sie Altchen und eilte zur Tür hinaus, nur um bald danach den Kopf wieder hereinzustrecken.

Aber dennoch und trotz allem rückten die Stunden vor.

Drei Uhr zwanzig war der Zug fällig, der alle die Lieben auf einmal bringen sollte.

Um drei Uhr schon stand Sylvia auf dem Bahnsteig und spähte das Geleise entlang, als könne ihre Ungeduld den Zug herbeisehnen.

Vater und Gerhard waren auswärts, hatten aber versprochen, zur richtigen Zeit da zu sein.

Der Mann mit der roten Mütze, der an jeder Station und auf jedem Bahnsteig zu finden ist, stand am Fenster seiner Amtsstube und sah schmunzelnd auf die kleine, zierliche, behende Mädchengestalt, die da draußen auf und ab pendelte. Hin, her, her, hin, immer rastloser, immer flinker, sichtlich immer erregter, je näher die Zeit rückte, die den Zug bringen sollte.

Erst hatte sie die Uhr hie und da vorgezogen, die Pausen waren immer kürzer geworden. Jetzt hielt sie sie ganz in Händen, steckte sie gar nicht mehr in den Gürtel. Die braunen Augen im schmalen braunen Gesicht, über das der neckische Wind die braunen Kraushärchen hintrieb, wanderten von der Uhr zum Geleise und vom Gekeife zur Uhr. Jetzt hob sie sich auf die Zehenspitzen, und jetzt – ja jetzt hatte sie sogar in sichtlicher Ungeduld mit dem Füßchen aufgestampft.

Der Mann mit der roten Mütze sah es ganz deutlich dort an seinem Fenster.

»Ei, ei, ei,« sagte er vor sich hin, schüttelte den Kopf und lachte so recht belustigt, »die liebe Jugend, ja, ja, die liebe Jugend!« Und da eben hinter ihm vom Apparat das Zeichen kam, daß der Zug in Sicht sei, so trat er flink durch die Tür.

»Er kommt, Fräuleinchen, er kommt!«

Er meinte ja wohl den Zug. Aber er zwinkerte dazu so verschmitzt mit den Augen und sah Sylvia mit solch gutmütig neckischem Lachen an, daß die ganz rot wurde.

»Ich erwarte nämlich meine Brüder,« sagte sie fast verlegen.

»So, so,« versetzte der Mann und wandte sich ab – er war noch nicht lange auf seinem Posten, sonst hätte er »Doktors Sylvia« gekannt.

Zu mehr blieb nicht Zeit, denn da fuhr auch schon der Zug ein.

Vier Tücher wehten oder waren's fünf? Sylvia sah nichts vor lauter Tränen, die ihr in die Augen schossen. Ihr Tuch wehte, sie lief, lief, bis sie von zwei Armen aufgefangen wurde und sich fest gegen eine Brust gepreßt fühlte.

»Mütterchen Sylvia!« »Mütterchen Sylvia!« »Sylve-Mütterchen!« klang's in allen Tonarten und Schattierungen.

Dann kamen zwei andere Arme und faßten sie und noch zwei und noch zwei. Der einzige Unterschied war der, daß die Arme, die sie umspannten, immer kürzer wurden, daß die Brust, gegen die man sie preßte, sich immer weniger umfangreich anfühlte.

Das Gesicht, das sie jetzt küßte, war in gleicher Höhe mit dem ihren, da erst kam sie zu sich: »Heinz, du bist's, mein lieber, guter, kleiner Heinz!«

»Hallo, Sylve-Mütterchen, hat sich was! Reiß mal die Augen auf. Der kleine Heinz ist dir längst über den Kopf gewachsen!«

Wie der Junge sich reckte, dehnte und die Nase hob! Wie er das Sylve-Mülterchen aus den treuherzigen Blauaugen anlachte! Jörg schob ihn beiseite. »Mach Platz, Alter, du bist doch nicht allein auf das Sylve-Mütterchen abonniert.«

Er drängte und zerrte an; Heinz der wehrte sich. Sie standen in inniger Umschlingung. Rechtzeitig griff Dieter dazwischen.

»Bengel,« sagte er, »da scheint mir ja wirklich alles beim alten.«

Sylvia war wie betäubt. Wie Sturzwellen war diese ganze Begrüßung über sie hergebraust.

Endlich hob sie den Kopf.

Die Flut ergoß sich über andere.

Vater und Gerhard waren's, die im Sturmschritt heraneilten. Ein Jubelsturm umbrauste nun auch sie.

Mit einem Lachen in den feuchten Augen stand Sylvia daneben. –

Was war denn da noch für eine hohe Gestalt?

Jetzt erst bemerkte es Sylvia.

Regungslos harrte noch jemand da.

Wie von magischer Gewalt gezogen, mußte Sylvia den Kopf heben.

Zwei dunkle Augen sahen sie an, so leuchtend, so warm. Und zwei Hände hoben sich ihr entgegen, in die sich die ihren schmiegten, sie wußte nicht wie. Und eine tiefe Stimme fragte: »Darf ich nun kommen?«

Und sie nickte nur und blickte nur, reden konnte sie nicht.

Der gefragt hatte, verstand sie aber doch.

Ein Leuchten erhellte sein gutes Gesicht. Fest preßte er die kleinen Hände, die er gefaßt hielt, und führte eine um die andere zu seinen Lippen.

Es war, als seien die beiden allein für sich auf der Welt.

Das waren sie aber nicht, und daran wurden sie sehr rasch gemahnt.

»Das Sylve-Mütterchen!«

»Herrje, das Sylve-Mütterchen!«

Zwei lachende, verwunderte Stimmen riefen es, und Sylvia sah, aufblickend, in zwei grinsende, staunende Gesichter.

Jörg und Heinz standen daneben und starrten erst neugierig und grinsend ihr ins Gesicht und dann ebenso dem, der da vor ihr stand.

Und dann stießen sie sich in die Rippen, sahen sich an, grinsten noch stärker und prusteten los. »Und der Wolf Brandt!«

»Herrje, der Wolf Brandt!«

Es war für den Augenblick eine etwas bedrückende Lage.

Dieter nahte als rettender, rächender Engel.

»Jungen, packt mal an!«

Ehe sie sich's versahen, hatte jeder einen Pack oder eine Tasche in seinen Händen. Da hatten sie Beschäftigung genug und brauchten sich nicht vorwitzig um anderer Leute Angelegenheiten zu kümmern.

Wolf Brandt, denn der war's wirklich, hatte inzwischen den Vater und Gerhard begrüßt, und nun konnte man ja allmählich an den Heimweg denken.

Da gab's nun zwischen Jörg und Heinz wieder eine kleine Auseinandersetzung, wer mit dem Sylve-Mütterchen gehen dürfe.

.

Achim und Dieter entschieden das rasch, sie nahmen Mütterchen Sylvia in ihre Mitte.

Jörg und Heinz halfen sich nun dadurch, daß sie vornher trabten und tanzten, meist hinterrücks mit dem Gesicht dem Sylve-Mütterchen zugewendet. Sie hatten ja tausenderlei zu erzählen, zu fragen, zu berichten.

Den Beschluß machten Vater und Gerhard, Wolf Brandt in der Mitte. –

Der Herr in der roten Mütze sah schmunzelnd dem kleinen Zuge nach.

»Das war doch auch der Mühe wert,« lachte er vor sich hin. »Da lohnte sich doch die Aufregung der Kleinen! Ob das nun alles ›Brüder‹ sind?« Und er rieb sich die Hände und kicherte in sich hinein. –

Daheim war das alte, liebe, in letzter Zeit so stille Haus urplötzlich mit einer Flut von Leben, Lust und Lärm durchbraust.

Jörg und Heinz waren bloß gesittet und manierlich gewesen, solange sie Altchen begrüßten. Da waren sie weich wie Wachs und anschmiegend wie in den ersten Kindertagen.

Seitdem aber polterten sie treppauf, treppab. Ihre jubelnden Stimmen füllten jeden Raum vom Keller bis zum First. Keiner aber wehrte ihnen, selbst Lene nicht.

Lene stand unter ihrer offenen Küchentür, lauschte nach oben, wo Riesengepolter auf der Treppe andeutete, daß Jörg und Heinz sich wieder einmal in Bewegung irgendwohin befanden. Sie wischte sich die Augen, ihr rotes Gesicht strahlte.

»Gott sei Dank, daß mer wieder emal die Buwe hert. Ei die ganz Zeit war dersch jo, als ob mer e Brett vorm Kopp hätt. Nix gesehe und nix gehert hot mer!«

Und als sich eben von oben das reinste Indianergeheul hören ließ, verklärte sich ihr ganzes Gesicht: »So Buwe! So Deiwelsplanze! Ich sag's jo, die bringe der des Lewe wieder mit!« – Alle empfanden, daß Jörg und Heinz sich austoben mußten. Sie waren ja zum ersten Male wieder richtig daheim seit ihrer Verbannung.

Die schrecklichen Tage, als sie damals Alf-Bübchen zu Grabe geleiteten, die zählten wahrlich nicht mit.

So ließ man sie denn durch Haus und Garten poltern und toben, so viel sie wollten. Selbst August druckte ein Auge zu, ja, er lieh die Hand, als auf seinen geliebten »Rössern« zur Feier des Wiedersehens ein Ritt unternommen werden sollte. Und in dem Punkt war August sonst sehr empfindlich.

»Ja gelle, die Wutz dhut's jetzt nit mehr. Do driwer sin mer doch enaus,« lachte er sie schmunzelnd an.

Und Jörg und Heinz stieg das Blut unters helle Blondhaar. Der »Schweineritt« von damals war doch eine etwas kränkende Erinnerung für so stattlich herangewachsene Jünglinge.

Derweilen saßen die anderen alle um Altchens Stuhl.

Es wurde da viel, viel verhandelt. Schmerz, Freude, Ernst, Scherz, Rührung, Necken, Lachen, Weinen, alles kam zur richtigen Zeit in gebührender Abwechslung zu seinem Recht.

Daß Sylvia und noch ein anderer dabei die Hauptpersonen waren, das hätte der unbefangenste Zuschauer unschwer erraten können.

Die gab's nun hier nicht außer den Beteiligten.

Jedes Ding will seine Zeit und jede Szene sollte eigentlich ihre Zuschauer, jede Neuigkeit ihr Publikum haben.

Das empfand auch Doktor Eriksen plötzlich und sorgte in richtiger Erkenntnis der Sachlage alsbald für das Fehlende.

»Nun wollen wir aber auch die Jungen rufen,« sagte er. »Sie müssen doch dem Grasmückchen gratulieren und sich mit uns freuen.«

»Jörg! Heinz!«

Mit Stentorstimme zum offenen Fenster hinaus geschmettert, schallte der Ruf über den Garten weg bis zum Hofe hinten, wo Jörg und Heinz just auf Augusts »Rössern« saßen.

Roß wie Reiter spitzten die Ohren.

Die Reiter überlegten offenbar, ob dem Rufe alsbald Folge zu leisten wäre. Zu vollständig fehlerlosen Engeln schien sie der Herr Professor immerhin noch nicht ausgebildet zu haben.

»Jörg! Heinz!« schallte es noch einmal.

»Allweil wird nit gefackelt,« sagte da August kurzerhand. »Wann der Vatter so rieft –«

Den Rest verschluckte August. Er schien wohl aus Erfahrung zu reden.

Und väterlich besorgt, wollte er von dieser Erfahrung Jüngere Nutzen ziehen lassen. Ohne viel Federlesens fiel er den Pferden in die Zügel.

»Alleh marsch!«

Ehe sie sich's versahen, standen Jörg und Heinz auf den Füßen, rüttelten sich, schüttelten sich und stapften davon, dem Hause zu.

An Altchens Fenster stand der Vater. Er winkte mit dem Finger.

»Kommt mal 'rauf, Jungen, es gibt hier etwas zu sehen.«

So etwas ließen sie sich nicht zweimal sagen.

In der Eile überkugelten sie sich fast die Treppe hinauf. Sie rissen die Tür auf, sie standen im Zimmer.

Sie blickten sich um, sie schauten in alle Ecken. Außergewöhnliches sahen sie nicht.

Sie drehten sich gegenseitig eine Nase: »Ätsch, angeführt!«

Sie wollten auf den Vater zustürmen und ihn zur Rede stellen. Sie wandten ihm die lachenden Gesichter zu.

Da fesselte doch etwas, das sie zuvor übersehen hatten, ihre Aufmerksamkeit.

Dort stand das Sylve-Mütterchen neben Wolf Brandt und hatte die Hand auf seinen Arm gelegt.

Sylve-Mütterchen sah merkwürdig aus, ein bißchen verlegen, ein bißchen verschämt, aber sehr strahlend, sehr glücklich.

Wolf Brandt genau so, nur ins Männliche übersetzt.

Beide sahen merkwürdig herausfordernd, erwartungsvoll auf Jörg und Heinz her. Ebenso alle anderen.

Fast wären Jörg und Heinz darüber verlegen geworden. Sie begriffen gar nicht, was das heißen sollte.

Einstweilen stießen sie sich gegenseitig in die Rippen, grinsten, platzten in Lachen aus und pufften sich wieder.

»Das Sylve-Mütterchen!«

»He, he, das Sylve-Mütterchen!«

»Wißt ihr sonst nichts zu sagen? Wollt ihr eurer Schwester nicht Glück wünschen?«

Sie sahen den Vater an mit weit aufgerissenen Augen. Der Mund blieb ihnen offen stehen.

Jörg begriff zuerst. Ein Schatten flog über sein lachendes Gesicht. Der Mund klappte ihm zu.

»Heiraten? So 'n Unsinn. Wir brauchen Mütterchen Sylvia selber.«

Er war ganz finster geworden.

Nun verstand auch Heinz.

Nachdrücklich nickte er mit dem Kopfe zu Jörgs Worten.

»Selber,« sagte er nochmals bekräftigend. »Der soll sehen, wo er 'ne Frau herkriegt.«

Seite an Seite standen die beiden Jünglinge. Sie waren noch nie so einig gewesen. Ordentlich herausfordernd sahen sie auf Wolf Brandt.

Dieter wollte sich ins Mittel legen.

»Jungen,« sagte er drohend und machte Miene, sie beim Rockkragen zu packen.

»Laß, Dieter!«

Der Vater schob ihn zur Seite. Er stand vor den beiden.

»Hört mal, ihr, was soll das heißen?«

Ein Murren erhob sich. Sie waren sehr erregt. Abgerissene Worte, wie: »Seines Wegs gehen – könnt' jeder kommen – der wär' gescheit – selber brauchen – unser Mütterchen Sylvia – dummes Geheirate – Blödsinn – unsere Sachen flicken« – wurden laut.

Beinahe hätte der Vater gelacht.

»Ihr seid mir nette Egoisten. Und das Glück eurer Schwester?«

Da ging das Murren wieder los: »An uns genug haben – haben sie auch lieb – mit uns glücklich sein – das Sylve-Mütterchen gehört uns.«

Sie waren vollständig verstockte Sünder. Es hätte urkomisch sein können, wenn es nicht ernst zu werden gedroht hätte.

Sie standen alle mehr oder minder verblüfft und ratlos da.

Keiner fand im Augenblick das Rechte. Der Vater nicht, die Brüder nicht. Altchen wiegte bedächtig das Haupt, Sylvia war dem Weinen nahe.

Da löste Wolf Brandt den Knoten.

Mit ausgestreckter Hand trat er zu den beiden hin.

Frischen Tons sagte er: »Jörg, Heinz, laßt uns mal von Mann zu Mann 'nen Pakt machen. Ihr gebt mir die Schwester, ich gebe euch das Vaterhaus zurück. Topp! Gilt's? Wollt ihr? Ja? Ein Mann ein Wort!«

Sie sahen ihn noch scheu von unten auf an.

»Wieso?« murrte Jörg.

Heinz schwieg. Er drückte sich nur eng an den Bruder.

»Ja, seht, ich habe hier am Gymnasium eine Anstellung erhalten. Altchen und der Vater wollen, daß ich hier im Haus wohne, wenn – wenn erst Sylv – Mütterchen Sylvia meine kleine Frau sein wird. Da wollte ich den Vater bitten, ob ihr nicht wieder heimkommen dürft. Ihr habt euch tapfer gehalten draußen, wir wollen dann fest zusammenstehen, daß alles im guten Geleise bleibt, wir vier, das Sylve-Mütterchen, ihr beide und ich. Ihr sollt mal sehen, so 'n Schwager ist gar keine so üble Einrichtung. Wollt ihr, ja? Topp, schlagt ein! Ihr behaltet Mütterchen Sylvia und kriegt einen Schwager und das Vaterhaus dazu. Ich dächte, der Vorschlag wäre doch zu überlegen, was?«

Ein wenig zögerten sie noch. Sie räkelten sich in unbewußtem Anlehnungsbedürfnis gegeneinander und hielten die Hände in den Taschen vergraben. Aber es war mehr Scheu und Unbeholfenheit als anderes. Der Trotz war geschmolzen wie Butter an der Sonne.

Und als jetzt Wolf Brandt nochmals die Hände hinstreckte und so recht frisch und froh rief: »Nun, Schwager Jörg, wie ist's? Gilt's, Schwager Heinz? 'nen Männerhändedruck drauf! Was?«

Da waren sie entwaffnet und gingen mit fliegenden Fahnen zum Feind über.

»Schwager« Wolf hatte hinfort keine eifrigeren Anhänger und Bewunderer als diese beiden bekehrten Widersacher.

Bei dem Sylve-Mütterchen brachten sie noch etwas scheu und ungelenk ihren Glückwunsch an. Gänzlich Herren der überraschenden Lage waren sie denn doch noch nicht.

Als sie aber danach durchs Haus stürmten und mit dem Feldgeschrei: »Mütterchen Sylvia ist Braut!« »Das Sylve-Mütterchen heiratet!« »Wir kriegen 'nen Schwager! Hurra, Lene!« »Und wir dürfen wieder heim. Was sagst du dazu?« in den unteren Regionen einbrachen, da hatten sie die erstaunliche Sachlage schon vollständig gemeistert.

Lächelnd mitleidig musterten sie Lene, die nun ihrerseits voll Überraschung war.

»Was sagst du dazu, Lene?« drängten sie.

Lene war auf dem Küchenholzstuhl wie ein Taschenmesser zusammengeklappt. Sie schnappte nach Atem wie der Fisch aus dem Trockenen.

»Lene, so red doch! Wir kommen wieder heim!«

Es war für die beiden der offenbar wichtigere Teil der Botschaft.

Neben dem Jubel lag wohlwollendes Beglücken im Ton.

An Lene prallte das aber ab. Ob aus Zerstreuung oder mit Bewußtsein, sie erwiderte nichts.

»Erst muß ich e bißche verschnaufe. Es is mer in die Bein' gefahren. Des Kind is Braut! Des Sylvche! Do muß ich doch gleich –«

Sie tastete an sich herum. Sie band die Schürze los und wieder fest, sie rückte die Haube schief und wieder gerade und wieder schief, sie watschelte hierhin, sie watschelte dorthin, sie war ganz zitterig vor Aufregung.

Jörg und Heinz warteten noch vergebens auf eine Äußerung ihres Entzückens über die Botschaft ihrer Heimkehr.

»Freust du dich gar nicht, daß wir wiederkommen. Lene?« sagte Heinz endlich vorwurfsvoll.

Sie sah ihn wie geistesabwesend an. Sie brummte etwas, das ganz verdächtig klang wie: ich kann's abwarten. Dann fuhr sie sich mit der mehligen Hand ins Gesicht, daß sie aussah wie der Possenreißer im Zirkus, griff nach dem Kochlöffel und war zur Tür draußen.

Jörg und Heinz zuckten die Achseln, ließen sich's aber weiter nicht anfechten.

Mit Hurra und Hallo setzten sie durch den Garten, sich weiteres, hoffentlich dankbareres Publikum für ihre Neuigkeit zu schaffen.

August blieb nicht der einzige Gegenstand ihrer Tätigkeit. Sie verlegten alsbald ihr Operationsfeld auf die Straße, und in unglaublich kurzer Zeit wußte die ganze Nachbarschaft: »Mütterchen Sylvia ist Braut!«

Und alle freuten sich herzlich und wünschten aufrichtig Heil und Segen. Mütterchen Sylvia hatte viele Freunde bei alt und jung.

Lene war unterdessen nach oben gewatschelt und streckte das mehlige Antlitz zur Tür herein.

Ein Lachen empfing sie.

»Die Lene!«

Beim Anblick des Brautpaars blieb sie stehen und schlug die Hände zusammen, wobei sie den Kochlöffel fest gepackt hielt.

»Is es dann wahrhaftig wahr? Ich hab' als gedenkt, die bese Buwe hätte mich angefihrt. Jetzt wackele mer awer alle Knechelcher im Leib vor lauter Freid. Kindche, Kindche, des host de gut gemacht. Awer so heimticksch, daß mer gar nix nit gemerkt hat. Des muß ich sage, des muß ich sage!«

Lene war inzwischen dicht zu Sylvia herangetreten und hatte sie fest an die umfangreiche Brust gezogen.

»Mit Verlaub, Herr Doktor, nix for ungut. Ich hab' das Kind gekennt, wie's noch in de Windele gelege is.«

Das galt Wolf Brandt.

Jetzt setzte sie Sylvia einen schallenden Schmatz rechts und einen links ins Gesicht.

»Werd' glicklich, Kindche! So glicklich, wies dei Mutter selig gewese is. Wenn die des erlebt hätt'!«

Mit zwinkernden nassen Augen sah sie Sylvia ins Gesicht und sah dort die Mehlspuren, die ihre Zärtlichkeit hinterlassen hatte.

Sie fuhr mit der harten Arbeitshand drüber hin, sie zu tilgen, und wischte zugleich allerlei Feuchtes fort, das ebenfalls nicht hingehörte.

Sylvia lachte verlegen.

»O weh, Kindche, do haw ich dich schen beschmiert. Baß uf, daß es kein Deig gibt. Allweil werd nit geflennt, herst de, sonst schennt der Herr Breitigam. Do hawe Se se, Herr Doktor. Aber des sag' ich Ihne, wann Se mir des Kind nit glicklich mache, dann soll doch gleich –«

Drohend schwang sie den Kochlöffel. Alle brachen in Lachen aus.

Lene sah sich im Kreise um und nickte gutmütig.

»Ja, ja, do lache se die Alt' aus. Geschieht er recht. Sie hot jo aach rein Babbelwasser getrunke, kennt mer denke. Jetzt geht se awer und sieht, daß es heit awend was Rechts zu knuspre und zu beiße gibt. Der Mage will alleweil auch sein Deil an so ere Freid. Nix for ungut, Frau Rat, nix for ungut, Herr Doktor. Un noch emal vielmals Glick!«

»Dank dir, Lene! Gute alte Lene!«

Sylvia stand vor ihr und tätschelte ihr die schwammigen Wangen, über die es feucht und unaufhaltsam niederrieselte.

Lene wischte mit dem breiten Handrücken hastig drüber hin und schob Sylvia mit drolligem Eifer zur Seite.

»Platz gemacht, Kindche. Nix als wie enaus. Mei Dippe kreische nach mir wie de kleine Kinner!«

Mit diesem Witz, der ihre Rührung verbergen sollte, zog Lene die Tür hinter sich zu. –

Im alten Hause war wieder eitel Freude und Sonnenschein.

Lange hatte der runde Tisch in Altchens Zimmer nicht einen solchen Kreis von frohen Gesichtern um sich gereiht gesehen.

Vater hatte das Beste beigeschafft, was sein Keller liefern konnte.

Golden blinkte der edle Tropfen in den hohen Gläsern – er begeisterte einen nach dem andern zu Trinksprüchen, die Mütterchen Sylvia feierten und ihr Glück. Erst hatte der Vater gesprochen, schlicht einfach. Achim hatte den Pegasus bestiegen, Dieter mit ein paar Witzen alle danach wieder in die Prosa zurückgeführt. Gerhard pries erst die Schwester, dann den Freund, und Jörg und Heinz markierten den Chor der Zecher mit viel Geschick.

Wolf wurde mit Dank und Bescheidtun nach allen Seiten in Atem gehalten – alle Rollen waren gut verteilt.

Sylvia saß bei Altchen.

Sie barg das Köpfchen an Altchens Schulter.

»Daß es so viel Glück geben kann, Altchen, nach so viel Leid.«

»Die Sonne scheint auch nie heller, Kind, als wenn sie hinter schwarzen Wolken vorkommt. Es gleicht sich alles aus im Leben. Man muß nur Herz und Sinn dafür offen haben. Unser Herr weiß die Lose weise zu mischen.«

»Daß Wolf gerade hier eine Anstellung findet, daß ich bei euch bleiben darf! Euch behalten, ihn dazu gewinnen! – Altchen, Altchen, womit habe ich das verdient?«

»Wenn's immer nach Verdienst ginge, Kind, wie arm wäre die Welt! Wer verdient wirklich sein Los im Guten wie im Bösen? Keiner ist gut genug fürs Glück, keiner ist schlimm genug fürs Unglück. Wie's der Herr uns schickt, wir müssen's tragen. Danken, danken und wieder danken im Glück; nicht zagen, stille halten und lernen im Leid.«

Mit leuchtenden Augen sah die Greisin zum Sternenhimmel draußen aus.

»Grasmückchen!«

»Vaterherz?«

»Wie viel muß denn nun jeder von uns an Liebe hergeben, damit der da sein Teil kriegt?«

Er zeigte auf Wolf Brandt.

»Kein Tüpfelchen, Vaterherz, kein Tüpfelchen. Ich habe für alle genug. Glaub's nur!«

Wie jauchzend, wie warm das Vogelstimmchen klang.

»Mir ist so viel geblieben,
Ich kann sie alle lieben,
Ohn' etwas zu entwenden
Dem einen lieb und traut,«

zitierte Achim leise.

Stille lag über allen, die tiefe friedliche Stille, die warmes Glücksempfinden in das Menschenherz gibt.

Da, ein Klirren und Krachen!

Erschreckt fuhren alle auf.

Heinz hatte vielleicht des Guten ein bißchen zu viel getan. Er war eingeschlafen und hatte sein Trinkglas umgestoßen. Jetzt fuhr er entsetzt in die Höhe und riß gewaltsam die Augen auf.

Sylvia war schon beigesprungen und hatte helfen wollen.

»Marsch zu Bett, Jungen!« kommandierte der Vater. »Mir scheint es allerhöchste Zeit, daß ihr abtretet. Faß deinen Bruder unter, Jörg, vorwärts marsch!«

Wortlos folgte Jörg, dann streckte er die Hand nach Mütterchen Sylvia aus: »Mitkommen, Sylve-Mütterchen,« flehte er, ganz wie er es vor Jahren getan hatte.

»Sollte eben fehlen,« schalt der Vater.

Aber das Sylve-Mütterchen faßte einen ihrer Jungen rechts, den andern links, brachte sie nach oben und küßte jeden zur Gutenacht.

Und eine gute, gute Nacht zog über dem alten Hause herauf, in dem das Glück wieder Einzug gehalten hatte.

Andern Tags war Pfingstsonntag.

Die echte lachende Pfingstsonne stand am Himmel und besah sich die Welt da unten.

Da gab's so vieles, was zum Lachen war, fand Frau Sonne, wenn's auch bekanntlich für sie nie was Neues gibt. Die alten Torheiten, die alten Fehler, die alten Schmerzen, die alten Freuden, die alten Wonnen, kurz das ganze alte närrische Wesen und Gehaben der Menschlein da unten, das dasselbe war vor tausend Jahren und in aber und aber Tausenden dasselbe sein wird, die gaben ihr Stoff genug zum Lachen.

Frau Sonne ist eben eine große Philosophin.

Und heute lachte sie ganz besonders strahlend, ganz besonders mütterlich wohlwollend auf das alte Doktorhaus herab.

Dort hatte August – wie er es in der kurzen Zeit fertig brachte, blieb ein Rätsel – Maien gepflanzt zu beiden Seiten der Freitreppe.

Das lichte Birkengrün hob sich doppelt jung und frühlingsfrisch von den alten Mauern ab. Die schwanken Zweige nickten und wehten im Frühlingswind. Von Krone zu Krone spannte sich ein Gewinde von lichtgrünen Zweigen – wie eine Triumphpforte war es anzuschauen.

Triumphierend hatte ja hier das Glück wieder Einzug gehalten, triumphierend stand es da oben an der Schwelle; Sylvia an Wolf Brandts Seite, zum Kirchgang bereit.

Auf Wunsch und Bitten Altchens und des Vaters hatte sie heute zum ersten Male das schwarze Trauergewand abgelegt, sich in schlichtes Weiß gekleidet.

Als sie den Festschmuck der Treppe gewahrte, waren ihr die hellen Tränen in die Augen getreten. Unwillkürlich mußte sie des Tags gedenken, da sie, vor nun bald zehn Monaten, durch eben diese Pforte den kleinen Sarg geleiteten, der ihr ganzes Glück zu bergen schien.

Fester schmiegte sie sich an den, der sie geleitete.

Mit warmem, verstehendem Blick sah er auf sie nieder.

»Ich führe dich einer neuen Zeit entgegen, Lieb, die alte bleibt drum doch gegenwärtig.«

Vertrauensvoll ließ sie sich führen.

Wie die Glocken läuteten, jubelten – riefen!

Mit einem Blick überzeugte sich Sylvia, daß alle ihre Lieben ihr folgten.

Den Vater zog sie mit raschem Griff an ihre Seite. Zwischen ihm und dem Bräutigam schritt sie glückselig dahin.

Die drei großen Brüder folgten, Jörg und Heinz hinterher, sehr gesetzt, sehr gehoben im Bewußtsein ihrer neuen »Schwager«-Würde.

Da traten eben Holles heran, der Herr Professor und seine Frau, und beglückwünschten das Brautpaar.

»Sylvchen, Kind, das Schönste, das Beste!«

»Wie die Trude sich freuen wird!«

»Woher wir's wüßten?«

»Ja, so was liegt in der Luft!«

»Ich freue mich, Sie als Kollegen zu begrüßen, Herr Doktor!«

Das galt Wolf Brandt. Professor Holle schüttelte ihm warm die Hand.

Jetzt sah er Jörg und Heinz.

Sie standen etwas ungewiß mit hängenden Köpfen seitwärts.

»Na, Jungen, ich höre, ihr kommt wieder heim? Freut mich. Auf die Garantie hin« – er wies auf den neuen Schwager– »wollen wir's wieder zusammen wagen. Habt euch ja wohl ohnehin da draußen die Hörner abgelaufen, denke ich.«

Sie waren sehr rot, sehr verlegen. Die Mützen hielten sie in der Hand, und Heinz fuhr sich über die heiße Stirn.

»Willst wohl mal fühlen, Heinz, ob alles glatt ist?« sagte lachend Professor Holle. »Na, laß gut sein, wollen's nicht weiter untersuchen. Aber vorwärts, ich denke, es wird Zeit. Die Glocken rufen schon lange.«

Zusammen schritten sie nun der Kirche zu. –

Für den Nachmittag hatte sich Sylvia einen gemeinsamen Besuch von Alf-Bübchens Grab ausgebeten.

»Und zuvor, Wolf, gehen wir in den Garten, ja? und holen, was es da an Blumen gibt, Ist dir's recht? Wer kommt sonst mit? Alle, bitte, bitte!«

Alle kamen sie mit. Wo das Sylve-Mütterchen bat, hätte keiner nein gesagt.

Selbst Altchen wollte nicht fern bleiben und ließ sich von August und Anna im Rollstuhl mitschieben.

So pilgerten sie denn wieder einmal in den alten Garten; wie lange, lange hatten sie das nicht getan! Was alles lag zwischen jener Osterzeit, die Wolf zum ersten Male als Gast sah, und heute!

Lene empfing sie draußen mit festlich gedecktem Kaffeetisch. Sie hatte sich das nicht nehmen lassen.

Im ersten Grün prangten die Kastanien, die Blütendolden streckten ihre weißen und roten Kerzen dem Lichte zu.

Der reichbesetzte Tisch drunter, über den grün-goldene Lichter streiften, sah doppelt festlich und einladend aus.

»Ach – O!«

Mit einem Wonneseufzer stürzten Jörg und Heinz drauf los. »Das ist doch das Netteste!«

»Schämt euch, Jungen!« Achim und Dieter riefen's fast gleichzeitig.

Aber die Hast, womit sie die langen Beine unter Lenes Tisch schoben, sah gar nicht nach Widerspruch aus.

Und merkwürdig – den anderen allen ging's ähnlich, obgleich sie es nicht in Worte kleideten. Der Mensch ist eben eine sonderbare Mischung von Poesie und Prosa – Magen und Gemüt.

»E Wunner!« hätte Lene gesagt, wenn man sie drum gefragt hätte, »Esse und Drinke hält Leib und Seel' zusamme!«

Sie ließen es sich sehr, sehr wohl sein.

Auf Lenes Wohl wurde mit den Kaffeetassen angestoßen, und diese Huldigung schmeichelte ihr sehr.

Danach aber wurde rasch abgeräumt, und jetzt bedeckte sich der Tisch mit anderem Gottessegen.

Die kleinen Frühlingskinder: Veilchen, Primeln, Vergißmeinnicht, Strauchblüten aller Art, Päonien, Lilien lagen da zuhauf.

Sie wanden Kränze, sie banden Sträuße, alle halfen.

Und dann beluden sie Altchens Rollstuhl damit, nahmen selbst, was sie tragen konnten, und machten sich auf den Weg, Klein Alf-Bübchen zu besuchen. Altchen widersprach, als sie ihr den Rollstuhl mit der Blumenlast beluden!

»Kinder, eitel bin ich nicht, aber den Vergleich halte ich nicht aus. Ich muß ja wie 'ne getrocknete Morchel unter all dem Blütenzeug aussehen.«

Das hatte noch einmal stürmische Heiterkeit erweckt, dann wurden sie stiller und stiller, je näher sie ihrem Ziele kamen.

Allen im Geiste sichtbar, trippelte Klein Alf-Bübchens lichte Gestalt neben ihnen her. Sie sahen sein Schelmengesichtchen, sie hörten sein Zwitscherstimmchen. Jedem fiel irgend ein kleiner rührender oder drolliger Zug ein.

Nein, Alf-Bübchen war nicht vergessen. Alf-Bübchen würde mit ihnen fortleben, was auch andere Zeiten brachten.

Und dann waren sie vor dem kleinen Grab, das sie unter Blüten bargen.

Sylvia stand an den Vater gelehnt, sie schluchzte.

»Grasmückchen, Kopf hoch! An dem kleinen Mann dort unten hast du das Deine treu getan. Er ist geborgen. Daß jeder so vor jedem Grabe stehen könnte! Sieh auf, Grasmückchen, dir bleibt noch viel zu tun.«

Und Grasmückchen hob den Blick und sah in des Vaters helles Gesicht, sah die zwei guten dunklen Augen jenes anderen, die so warm zu blicken wußten und ihr nun so viel bedeuteten, sah Altchen, die Brüder alle – ja, ihr war viel geblieben. Viel zu tun – viel zu lieben!

Und Mütterchen Sylvias liebes Auge wurde hell. Getröstet hob sie den Kopf – sah in das Leben, das vor ihr lag. Solch ein reiches, schönes Leben! Alles den Ihren sein dürfen wie bisher, und alles dem Einen!

Dieser Eine – Wolf Brandt – zog nun Mütterchen Sylvias Arm durch den seinen. Zwischen den Gräbern hin schritten sie dem Ausgang zu, aber die Augen waren am Sonnenhimmel oben. Zu lichten Höhen hob sich Herz und Sinn, einer frohen, glückseligen Zukunft entgegen.


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