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2.
Trude

Das Zimmerchen war merkwürdig behaglich, ein echtes, lauschiges Mädchenstübchen, dabei elegant.

Weiße, mit schmalen Goldleisten geränderte Lackmöbel von zierlicher, leichter Form, weiche, hellfarbige Teppiche und Felle füllten den lichttapezierten Raum. Palmen und Gruppen blühender Pflanzen standen verstreut umher.

Vor das eine Fenster war ein behaglicher Langstuhl geschoben, und darauf dehnte sich in sichtlichem Wohlgefühl eine schlanke Mädchengestalt.

Eine Unmasse weicher seidener Kissen umgab sie. Das blonde Köpfchen bohrte sich in eines und war der Lehne des Lagers zugewandt. Zu Füßen saß auf seinem Gestell ein grüner Papagei, der eben ein Stückchen Zucker verzehrt hatte.

»Süße Trude!« sagte er eben ganz deutlich und schnarrte das R ins Endlose. »Süße Tr-r-r-r-ude!«

»Süße Tr-r-r-r-r-ude!« spottete ein Echo von der Tür her. »Süße Trude! Gilt das nun dem Zucker oder dir?«

Sylvias braunes Schelmengesicht blickte durch den Türspalt.

Trude flog herum und auf die Füße. Kissen, Bücher, Wollknäuel, angefangene Arbeiten, eine Bonbontüte purzelten hinter ihr her. Der Papagei stotterte und kreischte: »Dr-rausbleiben! Dr-rausbleiben!«

Er stellte die Federn. Er war sichtlich sehr ungehalten über den Eindringling.

Nicht so seine junge Herrin.

Mit einem Jubelruf war sie an der Tür, hatte Sylvia umfaßt und vollends hereingezogen.

»Endlich einmal! Böses Ding! Ich weiß ja kaum mehr, wie du aussiehst!« schmollte sie.

»Jedenfalls doch sehr nett,« sagte Sylvia lachend, »was, Trudelchen? Noch gerade so klein und gerade so braun und gerade so lustig. Toujours comme gestern! wie Fräulein Alt in der Nähstunde sagte, wenn man sie fragte, wie's ihr gehe.«

»Ach, die alte Jungfer! Ob sie inzwischen ganz eingehuzelt ist?«

»Respekt vor den alten Jungfern, Trude! Ich werde auch eine!«

»Du?« Trude wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Mit meinen sechs Jungen! Bedenke!«

»Die heiratet doch keiner mit!«

»Eben!«

.

Sylvia lachte. Aber es lag doch ein Zug merkwürdiger Entschlossenheit auf dem jungen Gesicht.

»Ach geh, du bist langweilig mit deinen ewigen sechs Jungen, Sylvia! Hast gewiß wieder ein Bündel Socken zum Stopfen mitgebracht?«

»Geraten, Schatz,« erwiderte lachend Sylvia. »Paß mal auf, wie das Zünglein fliegt, wenn die Nadel den Takt dazu angibt!«

»Puh!« machte Trude. Sie rümpfte das Näschen.

Unbekümmert zog sich Sylvia einen kleinen niederen Tisch zu Trudes Langstuhl hin und begann, ihren Riesenbeutel auszupacken.

»So und nun leg dich mal wieder auf dein Lotterbett, du verwöhnte Prinzeß, komm! So! Und nun laß uns plaudern!«

Trude hatte sich wie zuvor auf ihr Lager gestreckt. Der Papagei kletterte an seinem Gestell und nestelte sich neben ihrem Kopf ins weiche Kissen ein. Mißtrauisch sah er dabei nach dem Störenfried Sylvia. Zuweilen kniff er die Herrin ins Ohrläppchen, wie um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und das trug ihm dann jedesmal einen derben Klaps ein.

Die blonde schlanke Trude und die kleine braune Sylvia waren Nachbarskinder und Freundinnen, »seit sie in den Windeln lagen«, wie Sylvia behauptete.

Trude war das einzige Kind ihrer Eltern und sehr verwöhnt. Ihr Vater, Professor Holle, war am Gymnasium der Stadt angestellt. Er war ein sehr vermögender Mann und konnte den Seinen das Leben in jeder Beziehung ebnen. Die kleine Sylvia dagegen hatte nichts als Pflichten auf ihren Teil bekommen. Aber Sylvia war bei weitem die Frohere.

Wo Trude gähnte und sich dehnte, da jubilierte Sylvia wie ein Grasmückchen und hüpfte ebenso munter umher.

Deshalb hatte ihr Väterchen auch den Namen gegeben. Sie trage ihren Namen mit Recht, behauptete er, sie gehöre wirklich zur Familie der Sylvien.

Wie die beiden nun plauderten!

So flink und emsig Sylvia den Faden durch die Socken zog, so flink und fröhlich wußte sie den Faden des Gesprächs weiter zu spinnen. Sie hatte tausenderlei zu erzählen. »Die Jungen« lieferten Stoff genug.

Und Trude lauschte und lachte und vergaß ganz das Gähnen. Ja, plötzlich saß sie mit einem Ruck aufrecht und griff nach der zu Boden gefallenen Arbeit. Eifer steckt an!

Sylvia schielte nach der Freundin, sie sagte nichts, lachte aber schelmisch vor sich hin.

Da ging die Tür.

»Potztausend dieser Fleiß!« sagte eine Frauenstimme, und Trudes Mama, »Mutter Holle«, wie Sylvias Brüder sie nannten, trat ein.

»Sylvia, Kind, wie nett, daß du da bist! Ein seltener Gast, was Trude?«

»Leider, Mütterchen.«

»Umso erwünschter hoffentlich,« sagte lachend Sylvia. »Altchen läßt grüßen, Frau Professor.«

»Danke, Kind. Wie geht's denn der lieben Frau Rat?«

»Immer dasselbe.«

»Und die Jungen?«

» Toujours comme gestern,« sagte Trude, »was, Sylvia?« Die nickte.

»Gott sei Dank!«

Die Frau Professor strich ihr über den Krauskopf. »Und du, Kind?« Sylvia riß die braunen Augen auf.

»Ich? Ich bin munter wie ein Fisch im Wasser, froh wie eine Lerche und –«

»Vergnügt wie ein Maikäfer,« setzte Trude lachend hinzu. »Da haben wir ja die ganze Menagerie beisammen.«

Alle lachten, und der Papagei kreischte vor Wonne mit.

»Ich wollte die jungen Damen bitten, bei mir drüben den Tee zu nehmen,« sagte nun die Frau Professor. »Danach halten wir ein gemütliches Plauderstündchen.«

»Ich weiß nicht, ob ich so lange –« begann Sylvia zögernd, aber die beiden anderen schnitten ihr das Wort ab.

»Du mußt, Sylvia, wir lassen dich nicht fort!«

Sylvia fügte sich gerne. Lene mochte einmal sehen, wie sie allein fertig wurde. Alf-Bübchen war bei Altchen, so hatte sie nur für Jörg und Heinz zu sorgen. Achim und Dieter blieben in diesen Examenstagen ohnehin stets länger fort.

Achim und Dieter und das Examen! Die ganze häusliche Last fiel mit einem Male wieder auf Sylvias Schultern, und sie machte ihr Sorgengesicht.

»Was gibt's?« fragte die Frau Professor.

»Das Examen! Achim, Dieter –«

»Beruhige dich, Kind. Mein Mann meint, es gehe vorzüglich.«

Sylvia strahlte. –

Sie saßen beim Tee im Zimmer der Frau Professor. Das war in seiner Art so vollendet wie das von Trude. Nur war alles ernster, dunkler gehalten, Grün und Gold vorherrschend.

Sylvia hatte in einem bequemen Sessel Platz nehmen müssen, und Trude hatte ihr höchst eigenhändig ein Kissen unter den Kopf und eins unter die Füße geschoben.

»Ich bin doch keine alte Frau, Trude,« hatte Sylvia lachend sich gewehrt.

»Einerlei, du sollst dir's auch einmal bequem machen.«

Trude bestand auf ihrem Willen.

Und Sylvia hatte sich eben so recht behaglich zurückgelehnt, hatte ihre Tasse gefaßt und wollte gerade den ersten Schluck des köstlich duftenden Tranks schlürfen, da – gellte die Haustürglocke durchs Haus, als ob Sturm geläutet würde.

Die drei waren entsetzt aus ihren bequemen Sesseln in die Höhe gefahren.

Schon hörte man drunten die Haustür krachend zurückfliegen, und mit Donnergepolter stürzte es die Treppen herauf.

Sylvia wußte alsbald Bescheid, die Sylphentritte kannte sie.

»Meine Jungen,« flüsterte sie, und sie war sehr blaß geworden und hielt sich an der Lehne ihres Sessels. »Was –?«

Da flog die Tür auf, und herein quoll, polterte, stürzte es: das wilde Heer! Vier Gestalten, zwei größere und zwei kleinere, und zuletzt ein kleines, behendes, trippelndes Figürchen im weißen Kleid mit wehenden blonden Löckchen, Alf-Bübchen!

Im Nu war Sylvia umringt, die Jungen lärmten, lachten, schrien auf sie ein. Ganz schwach fiel sie auf ihren Sitz zurück, da war Alf-Bübchen wie der Wind auf ihrem Schoß und schlang die Ärmchen um der Schwester Hals.

»Mis Sylve-Müttersen danz allein haben!« lachte er schelmisch den Brüdern zu.

Jörg und Heinz lagen sich schon in den Haaren. Jeder wollte mit Alf-Bübchen den Platz teilen.

Achim und Dieter beugten sich von ihrer Höhe herab über die Schwester und redeten, nein, schrien zugleich auf sie ein.

»Examen! Mündlich! Schriftlich! Hurra! Geschenkt! Hurra!«

Es war nicht klug zu werden aus dem Wirrwarr.

Sylvia hielt sich die Ohren zu.

»Erbarmen!« flehte sie lachend.

Da kam Achim zuerst zu sich.

Er wandte sich der wie betäubt dasitzenden Frau Professor zu.

»Verzeihen Sie, Frau Professor, daß wir so bei Ihnen einbrechen wie das wilde Heer, aber wir mußten Sylvia doch gleich sagen, daß Dieter und mir das mündliche Examen erlassen worden ist. Wir wollten allein gehen, aber die Bande« – mit einem Wink nach den kleineren Brüdern – »ließ uns nicht. Verzeihen Sie!«

Achims hübsches Gesicht leuchtete und glühte, erwartungsvoll sah er die Schwester an. Die war aufgefahren und hatte Alf-Bübchen auf den leeren Sitz gesetzt.

»Achim, Dieter, die Freude! Jungen, Jungen, was ist euer Mütterchen so stolz. Gebt mal eure Köpfe her, daß ich euch küssen kann!«

Und sie hob sich auf die Zehenspitzen und bot das braune Gesicht den Brüdern zum Kuß.

Achim und Dieter strahlten, und zur Feier des Augenblicks wälzten sich Jörg und Heinz innig umschlungen am Boden. Alf-Bübchen gellte mit dem schrillen Kinderstimmchen dazwischen und schlug in die Hände.

»Sylve-Müttersen, Sylve-Müttersen, Alf-Bübchen auch tüssen!«

Da war Trude sofort zur Stellvertretung bereit, und Alf-Bübchen klammerte die kleinen Ärmchen um sie.

Dieter griff danach an den Boden, hob den sich dort wälzenden Knäuel ans Licht, stellte die beiden auf die Füße, stieß ihnen in sanfter Mahnung die Köpfe zusammen, und die Ruhe war hergestellt.

Die Frau Professor atmete auf.

»Jungen, Jungen, wie das Sylvia nur aushält!«

Ein Lachchorus antwortete ihr.

»Ach, Mütterchen Sylvia.«

Sylvia lachte am herzlichsten.

»Übrigens, Achim, Dieter, alle Achtung! Mein Mann hat mir schon so etwas angedeutet und ich –«

»Plaudertasche kann's nicht bei mir behalten,« fiel eine gutmütige Stimme vom Hintergrund her ein.

Der Herr Professor war unbemerkt eingetreten.

Stramm standen urplötzlich die Jungen.

»Sylvia, Kind,« fuhr er fort, »deine Jungen machen dir alle Ehre!« Er nickte Achim und Dieter zu.

Sylvia war ernst geworden.

»Wenn Mutter das erlebt hätte!«

Trude stand mit Alf-Bübchen hinter Sylvia, und der kleine Schlingel legte von hinten die Ärmchen um der Schwester Hals, die er mit der Liebkosung fast erwürgte.

Sylvia wandte sich und faßte ihn.

»Gib das Kerlchen her, Trude, er wird dir zu schwer.«

»Alf-Bübsen sein teine Terl!«

Alf-Bübchen schien sehr gekränkt.

»Was sonst?«

»Alf-Bübsen sein« – der kleine Mann suchte nach einer passenden Bezeichnung – »sein Alf-Bübsen!«

Jörg und Heinz hatten sich an die Schwester herangeschlichen. Die Nähe des Herrn Professors war ihnen etwas unbehaglich.

»Mütterchen Sylvia!«

»Sylve-Mütterchen!«

»Komm heim!«

»Lene hat schon 'nen Riesenberg Brote geschnitten!« Jörg lockte stets mit dem Essen, weil es für ihn die meiste Anziehungskraft hatte.

»Du, 's gibt heute Apfelkraut!«

»Nein, Pflaumenmus!«

»Nein, Apf–«

Da lagen sich Jörg und Heinz schon wieder in den Haaren.

Es war wirklich Zeit zu gehen.

»Vorwärts, Schlingel!« Sylvia trieb lachend zur Eile.

»Und dein Tee?«

Trude sagte es sehr enttäuscht.

»Ja, das ist nun nicht anders, da werd' ich wohl verzichten müssen.«

»Bleib doch, bleib! Natürlich bleibst du!« Achim und Dieter taten sehr ritterlich, aber Sylvia wußte Bescheid.

»Ja, Jungen, das ist nun nicht anders, Opfer muß der Mensch bringen können,« sagte sie schelmisch großartig.

Achim und Dieter horchten auf.

»Gute Nacht, liebe Frau Professor, ich werde wohl doch gehen müssen!«

Da wußten Achim und Dieter, von welcher Seite das Opfer gebracht werden sollte.

Unter Lachen wurde Abschied genommen. Im Triumph führten die Brüder Sylvia davon.

»Widerwärtige Bande!« brummte Trude. »Ich begreife Sylvia nicht.«

Der Professor legte den Arm um sein Töchterchen.

»Siehst du nicht, daß Sylvia groß ist in ihrer Pflichterfüllung?«

»Der Mensch hat auch Pflichten gegen sich,« murrte Trude.

»Eben denen kommt er am ehesten nach, wenn er die gegen andere erfüllt. Begreifst du, Trude?«

Sie sah ihn einen Augenblick an, dann ließ sie den Kopf hängen.

»Jedenfalls bin ich froh, daß ich keine sechs Brüder habe,« seufzte sie.

»Womit die sechs Ungeborenen von Herzen einverstanden sein werden,« lachte der Professor. »Schenk mir ein Täßchen Tee ein, Kind; Examenstage sind immer anstrengend. Achim und Dieter sind übrigens prächtige Menschen. Wenn ich –«

Das übrige verlor sich in Murmeln.

Die Frau Professor strich ihrem Manne liebevoll über die Hand, die ihr auf der Sessellehne zunächst lag. Sie kannte seinen glühenden, unerfüllt gebliebenen Wunsch nach einem Sohne.

Er dankte ihr mit einem warmen, stillen Blick.

 

Es war am Abend spät.

Sylvia war eben von Altchen heruntergekommen und saß nun noch im Erker bei ihrem nimmer leeren Flickkorb.

Sie zwitscherte und summte vor sich hin.

Wohltätige Ruhe lag über dem Hause. Die Jungen waren längst zu Bett, selbst Achim und Dieter schien die Rolle als Helden des Tages ermüdet zu haben.

Nebenan war es dunkel, sie mußten also schon oben in ihren Zimmern sein.

Wie sich Altchen und der Vater gefreut hatten! Solche Jungen!

Ein weicher, zärtlicher Ausdruck lag auf Sylvias Angesicht.

Einen Augenblick ruhten die emsigen Hände, Sylvia schaute träumend ins Licht.

Sie hatte nicht gehört, wie es die Treppe niederhuschte, wie die Tür des Zimmers sich öffnete und schloß. – »Sylvia!«

»Mütterchen Sylvia!«

Achim und Dieter standen im Schein der Lampe und saßen auch alsbald rechts und links neben Sylvia, jeder eine ihrer Hände in der seinen.

»Meine Jungen!« Sylvias braunes Gesicht strahlte. »Ich glaubte, ihr wäret längst zu Bett.«

»Zu Bett!« Es klang furchtbar verächtlich.

»Wenn Männer von ihrer Zukunft reden, kennen sie keinen Schlaf,« sagte Achim pathetisch.

Sylvia riß die Augen auf.

»Männer?« Sie wollte lachen, doch sie sah, wie ernst es den Jünglingen war, und sie wurde sofort ernst.

»Was gibt's, Achim, Dieter? Was gibt's, Jungen? Wenn ich noch so sagen darf.« Jetzt blitzte der Schelm doch durch.

Sie beachteten es nicht.

»Sylvia, wir können nicht studieren.«

Sylvia war plötzlich ganz blaß geworden.

»Nicht studieren? Und Vater?«

»Du mußt's ihm sagen, Sylvia, wir wollen Offiziere werden.«

Da war's heraus.

»Offi–!« Die letzte Silbe blieb Sylvia im Halse stecken.

Sie sah ratlos von einem zum anderen.

»Jungen, Jungen, was soll das werden?«

»Vater wird mit sich reden lassen,« meinte Achim.

»Der Mensch hat ein Recht auf seine Zukunft,« murrte Dieter.

»Und Onkel Kurt? Habt ihr vergessen, daß Vaters einziger Bruder bei Wörth fiel? Hundert- und hundertmal habe ich ihn sagen hören, daß seine Söhne nie–«

Sie fielen ihr ins Wort, ließen sie nicht ausreden.

»Sylvia!«

»Mütterchen Sylvia!«

»Wirst Du für uns eintreten beim Vater?«

Sie war ganz blaß geworden.

»Muß es sein?«

Angstvoll forschte ihr Auge in den beiden Jünglingsgesichtern.

»Es gilt unser Glück, Sylvia!«

Sie atmete tief auf.

»Dann zählt auf mich!«

Achim legte den Arm um ihre Schultern, und Dieter renkte ihr fast den Arm aus, so schüttelte er ihre Hand.

»Mütterchen Sylvia!«

»Dank, Mütterchen Sylvia!«

Dann waren sie gegangen.

Sylvia saß noch lange im Erker, aber die sonst so emsige Hand ruhte.

Ob sie es noch heute abend Väterchen sagte? Der blieb lange. Was er wohl sagen würde? Ob sie den Jungen mehr hätte abraten sollen?

Was wohl Mutter getan haben würde?

Sylvia sann nach.

War's denn mit Gerhard glatt gegangen?

Nein! Der wollte durchaus Mediziner werden, und Vater, der wußte, wie schwer dieser Beruf just war, hätte dem Sohne gern das Leben leichter gemacht. Er hatte ihn zum Juristen bestimmt.

Aber Gerhard blieb fest, und die Mutter stand auf seiner Seite.

Sylvia hatte sie einmal zu dem Vater sagen hören: »Dein Sohn lebt ein Leben für sich. Du darfst es nicht nach deinem Sinne ummodeln wollen, auch in der besten Absicht nicht!«

Sylvia sah ihren Weg klar vor sich.

Wo nur Väterchen blieb? Er war nach dem Nachtessen noch zu einem Patienten geholt worden.

Eine Weile wartete Sylvia noch, dann löschte sie die Lampe, sah noch einmal in der Küche bei Lene und Anna nach und ging dann nach oben. Väterchen liebte nicht, wenn sie zu lange aufblieb.

Oben lag Alf-Bübchen in seinem kleinen weißen Bettchen und schlief.

Er lag auf dem Rücken, hatte die Ärmchen nach oben geworfen; die kleine Brust hob und senkte sich in regelmäßigem Atmen; die goldenen Löckchen fielen ihm über das schlafheiße Gesicht. Sylvia beugte sich über den kleinen Schläfer.

»Was wird aus meinem Alf-Bübchen werden?« schoß es ihr durch den Sinn.

Da fühlte sie, wie sich die kleinen Arme weich um ihren Hals legten, die großen blauen Augen waren aufgeschlagen und sahen sie an, doch wie im Traum. Leise flüsterten die roten Lippen: »Sein Engelein da wesen, Alf-Bübsen holen tommen, Alf-Bübsen wollen Müttersen Sylvia bleiben.« Und schon fielen die Ärmchen zurück, die Augen schlossen sich – Alf-Bübchen schlief weiter. Es hatte Sylvia ganz eigen überkommen. Sie sank vor dem Bettchen in die Kniee und barg ihr Gesicht in den Kissen.

»Gott im Himmel, schütze mein Alf-Bübchen!«

Nebenan trat der Vater ins Zimmer. Er klopfte leise an die Verbindungstür.

»Noch wach, Kind?«

»Ja, Väterchen!«

»Schlaf wohl, mein Grasmückchen!«

»Gute Nacht, Vaterherz.«

Mit einem Schlag war Sylvia in der Wirklichkeit zurück.

Ob sie's dem Vater jetzt noch sagte? Nein, mochte er eine ungestörte Nachtruhe haben, er brauchte seinen Schlaf. Morgen früh dann –

Ehe der Gedanke zu Ende gedacht war, war Sylvia entschlummert. – –

Väterchen hatte Sprechstunde von neun bis zehn Uhr. Das Frühstück nahm er stets auf seinem Zimmer. Die Seinen sahen ihn meist erst bei Tisch, oft sogar nicht vor dem Abendessen. Nach dem Frühstück, ehe sie zum Gymnasium gingen, hatten Achim und Dieter ihre Schwester noch einmal beiseite gezogen.

»Wann wirst du's sagen?«

»Nach der Sprechstunde!«

Sylvia sah ein bißchen erregt und blaß aus, aber sehr entschlossen.

Die Brüder hatten ihr still die Hand gedrückt und waren gegangen.

Achim war sehr erregt gewesen.

»Engel!« hatte er ihr noch zugeflüstert. »Unser guter Engel!«

An den überschwenglichen Achim mußte Sylvia denken; sie schmunzelte vor sich hin.

Achim war der poetisch Veranlagte in der Familie. Außer seinen rhetorischen Überschwenglichkeiten, die das bekundeten, ging die Sage unter den Brüdern, er mache Verse. Keiner wußte es gewiß, und Sylvia, die genaue Kunde hätte geben können, hütete sich wohl, ihn dem Spott der Brüder preiszugeben. Sie hatte oft schon Zettel oben in seinem Zimmer gefunden mit den untrüglichsten Beweisen.

Der gute Achim war auch etwas zerstreut und unordentlich, wie es richtige Dichter sein müssen.

Im Anfang war Dieter sein Vertrauter gewesen. Aber Dieter mit seiner biderben, hausbackenen Natur eignete sich dafür nicht.

Achims erhabensten poetischen Flug durchschnitt er mit irgend einer trockenen Bemerkung, die wie ein kalter Wasserstrahl wirkte. Und als er einmal bei Tisch zum Vater, der den verträumten Achim aufrütteln wollte, lachend gesagt hatte: »Vater, Achim braucht dich als Arzt. Gibt's kein Mittel gegen die Dichteritis?« – Da war er ein für allemal von seinem Posten als Vertrauter abgesetzt worden.

Achim wandelte seitdem seinen Höhenpfad als Poet einsam wie alle echten Poeten. Im Alltagsleben war er dem Zwillingsbruder ein guter Kamerad. Ja, Sylvia schmunzelte vor sich hin, als sie daran dachte.

Dann ging sie, wie sie es allmorgens tat, in die Zimmer der Jungen, um dort aufzuräumen.

Alf-Bübchen war bei Altchen und Anna. Sylvia hörte sein helles Stimmchen, als sie an Altchens Zimmer vorbei nach oben ging.

»Alf-Bübsen noch mal Wolf sein, bitte! bitte!«

Anna lachte. »Sollte fehlen! Sei du heute mal ein schneeweißes Lämmchen!«

»Bitte, Alf-Bübsen swarze Wolf sein!«

Das Stimmchen klang weinerlich. Sylvia sah das schmerzlich verzogene kleine Gesicht vor sich.

Da klang Altchens liebe, weiche Stimme: »Komm, Alf-Bübchen! Großmama erzählt dir eine Geschichte.«

Ein Jauchzen des kleinen Mannes, ein Trippeln über den Boden hin – da war er geborgen.

Sylvia konnte seinetwegen außer Sorge sein.

Bei Heinz und Jörg hatte Sylvia aufgeräumt. Kein kleines Stück Arbeit.

Dann trat sie bei Achim und Dieter ein.

Hier sah's schon etwas gesitteter aus.

Dieter war sehr ordentlich, nur Achim machte von seinem Vorrecht als Poet Gebrauch.

Richtig, da lagen auch wieder ein paar Zettel.

Sylvia sammelte sie.

Unbegreiflich, daß Dieter nicht schon längst dahinter gekommen war. Er mußte wohl den ihm offiziell entzogenen Posten als Vertrauensmann insgeheim auf eigene Faust weiter versehen.

Sylvia besah die Zettel.

Auf einem stand:

»Sylvia, hehrer Engel du,
Laß mich küssen deine Schuh –«

Die letzte Zeile war durchstrichen und dafür stand:

»Neig dich mir in Himmelsruh,
Auf zu dir schlag' ich die Wimpern« –

Hier war der Poet gestrandet; ein Reim auf Wimpern war schwer zu finden gewesen.

Sylvia lachte schallend auf.

»Armer Achim, das nenn' ich aber auch eine Sackgasse. Wimpern! Wimpern! Wahrhaftig, da mach' mal einer einen Vers drauf. Ich wüßte nur ›stümpern‹, und das ist für einen Poeten immerhin ein zweifelhaftes Wort.«

Auf einem zweiten Zettel stand:

»An sie, die ich meine,
Die Braune, die Kleine,
Die wie eine Mutter
Uns reichet –«

»Das Futter!« prustete Sylvia los.

Dem Poeten selbst mußte nicht wohl gewesen sein bei der Sache. Er hatte die Reimerei von vorn angefangen:

»An sie, die ich meine,
Die Braune, die Kleine,
Die klug stets und weise
Uns reichet die Speise
Für Seele und Leib –
Ein göttliches –«

Weiter ging's auch hier nicht.

Dem Poeten war wohl der Gegensatz zwischen der »Braunen«, der »Kleinen« und dem »göttlichen Weib« denn doch etwas zu schroff gewesen.

Sylvia lachte wieder, aber es klang etwas Zärtliches durch.

»Ich bin seine Muse, entschieden! Alter Achim!«

Über den dritten Zettel lachte Sylvia nicht.

Darauf stand:

» An meine Mutter.

Die du so früh entrissen uns hinieden,
Wie kannst du dorten weilen ganz in Frieden.
Denn die an deiner Statt uns blieb zurück,
Sie wäre dein, und sie ist unser Glück!
Nicht daß wir jemals dich darum vergessen,
Haben wir einstmals doch dich ja besessen,
Und wer entbehrte ohne herben Schmerz
Wohl Muttersorge, einer Mutter Herz?«

Sylvia sah lange auf den Zettel, und Träne um Träne fiel leise darauf nieder.

Das hatte Achim geschrieben? Ja, es war seine Handschrift. Wer wußte, ob nicht doch etwas in dem Jungen steckte!

Das mußte Altchen lesen und Väterchen –

Der Vater?

Hatte sie denn nicht etwas vom Vater gewollt?

Richtig! Achim und Dieter!

Sie sah auf ihre Uhr.

Zehn Uhr!

Die Sprechstunde war zu Ende. Gebe der Himmel, daß sie nicht schon zu spät kam!

Sie flog die Treppe hinunter.

Wieder hörte sie Alf-Bübchens helles Stimmchen, hielt sich aber nicht weiter auf.

Der Warteraum war leer. Aber drinnen im Sprechzimmer hörte sie noch Vaters tiefen Baß, und eine zitternde, weinerliche Frauenstimme klagte ihr Leid.

Aufatmend setzte sich Sylvia in einen der großen Ledersessel, die um den Mitteltisch standen. Sie war also doch nicht zu spät gekommen.

Drinnen hörte man jetzt die Tür nach der Diele gehen. Der Vater verabschiedete seine letzte Patientin. Dann trat er ins Zimmer zurück und summte ein Lied vor sich hin.

Sylvia steckte den Kopf zum Türspalt herein.

»Väterchen!«

»Grasmückchen, du?«

»Väterchen, hier ist noch jemand, der Schmerzen hat.«

»Du, Grasmückchen?« Es klang ängstlich. Er trat auf sein Kind zu.

»Nicht körperliche, Väterchen. Oder doch – hier und hier!«

Der Schelm legte die Hand auf Kopf und Herz.

»Also Kopf- und Brustweh! Hm! Puls fühlen!«

Er blieb sehr ernst. Sylvia streckte den Arm hin.

»Beschleunigt! Zunge zeigen!«

Jetzt blitzte ihm der Schelm aus den Augen.

Eben wollte Sylvia das Zungenspitzchen vorstrecken, da überkam sie doch der Ernst der Sache, den ihre siebzehn Jahre für einen Augenblick vergessen gehabt hatten.

Sie warf sich dem Vater an die Brust.

»Väterchen!«

»Grasmückchen!«

Vaters Arme hielten sie fest.

»Väterchen, ich habe dir etwas zu sagen, aber versprich, daß du sehr gut sein willst.«

»Bin ich das nicht stets?«

Wie zärtlich, wie gut die Stimme klang!

Noch dichter schmiegte sich Sylvia an den Vater.

»Väterchen, Achim und Dieter können nicht studieren, sie wollen Offiziere werden.«

Den Vater traf's wie ein Schlag. Er schob sein Kind von sich.

»Offiziere? Das leid' ich nicht!«

Aufgeregt ging er im Zimmer auf und ab.

Sylvia stand und lehnte sich an den Tisch. Angesichts seiner Erregung war sie plötzlich sehr ruhig geworden.

»Vater!«

Er hörte nicht.

»Nein, niemals! Niemals!« stieß er heraus und stürmte noch erregter hin und her. »Meine Söhne Offiziere? Niemals!«

»Vater!«

Jetzt blieb er stehen.

»Sag kein Wort, Kind, ich tu's nicht. Die Jungen müssen parieren. Alles andere – nur nicht Offizier. Mein Bruder Kurt – du weißt doch, Sylvia!«

Sylvia wußte, aber Sylvia ließ sich nun nicht mehr einschüchtern.

»Sylvia, du wirst deinen Brüdern Mutter sein,« hörte sie der toten Mutter Stimme, und sie sah ihr brechendes Auge flehend auf sie gerichtet.

»Vater,« sagte sie ernst, »denkst du noch daran, wie Mutter damals für Gerhard eintrat?«

Sie sah ihm fest in die Augen, er senkte den Blick.

Er war stehen geblieben – er war ruhig geworden.

Jetzt öffnete er die Arme und Sylvia flüchtete hinein. Die Erregung machte sich bei ihr nun doch in Tränen Luft.

»Mein tapferes Mädchen,« sagte er weich und strich ihr über den Scheitel. »Ich werde mit den Jungen reden, Grasmückchen, und dann wollen wir sehen, was sich tun läßt. Bist du zufrieden?«

Ob sie zufrieden war! Leuchtenden Blickes küßte sie den Vater, reden konnte sie noch nicht.

»Und nun geh, Kind, ich muß fort. Zu Tisch werde ich heute wohl schwerlich daheim sein, ihr wartet nicht!« –

Achim und Dieter hatten sich also mit der Entscheidung über ihre Zukunft bis zum Abend gedulden müssen.

Und jetzt, eben jetzt waren sie beim Vater drin.

Sylvia saß droben bei Altchen.

Ein von grünen Schleiern gedämpftes Dämmerlicht herrschte in dem weiten Gemach, nur hie und da blitzte der Bronzebeschlag irgendeines Möbelstückes auf.

Hier in dem Raume konnte man sich an den Anfang des Jahrhunderts zurückversetzt glauben. Er war mit »Urväter Hausrat« vollgepfropft. Jeder Tisch, jeder Stuhl, jeder Schrank erzählte von Gewesenem, und Altchen hatte sich von keinem dieser Zeugen einer alten, lieben Zeit trennen wollen. Die hellen, blitzend polierten Kirschbaummöbel mit ihren blinkenden Beschlägen sahen trotz ihrer steifen, altväterischen Form aber auch gar so behaglich aus. Unwillkürlich sah man sich nach der dazu gehörigen Bewohnerin im ausgeschnittenen, kurztailligen Kleid mit dem kurzen Röckchen, den Kreuzbänderschuhen und der hochgetürmten Haartracht um.

Die fehlte. Sylvia war ein durchaus modernes Menschenkind. Aber Altchen in dem altmodischen schwarzen Kleid und dem runden Kragen, mit der umfangreichen schwarzen Spitzenhaube auf dem silberweißen Scheitel – Altchen konnte recht wohl für die Vertreterin dieser alten Zeit gelten. Sie war eben mit ihrer Zeit alt geworden.

Über dem Sofa an der Wand hing ein großes Ölbild, eine jugendliche Mädchengestalt im weißen Kleid. Ein breiter, rosenfarbiger Gürtel schlang sich unter der Brust her, ein langer rosenfarbiger Fransenschal war um die zarten, entblößten Schultern gelegt. Unter künstlich getürmtem Haarbau sahen zwei milde, große dunkle Augen ins Weite. Das waren Altchens Augen, und das junge Mädchen war Altchen selbst. Aber damals, als das Bild gemalt wurde, war Altchen noch jung und ihre Zeit noch nicht die alte Zeit gewesen.

Die Greisin hatte ihren Stuhl zum Tisch heranschieben lassen. Sylvia saß auf einem niedrigen Sitz dicht neben ihr, hatte die Arme um sie geschlungen und barg das Gesicht in ihrem Schoße.

»Altchen, sie bleiben so lange. Ich kann's kaum erwarten. Wie kannst du so ruhig sein?«

»Das lernt sich, Kind. In der Jugend, da pocht das Herz und schlägt und hämmert, als müsse es Takt halten mit den unruhigen Gedanken im jungen Hirn. Dann kommen Zeit und Erfahrung und hängen Gewicht um Gewicht an die Herzenshämmerlein; da wird das Getriebe ruhiger und ruhiger, bis es dann zuletzt ganz stillsteht.«

Altchen nickte leise vor sich hin. Sylvia schlang die Arme noch fester um das Großmütterchen.

»Es hat auch sein Schönes, Kind, wenn man so wie auf hoher stiller Warte über dem Treiben steht. Die da unten sich abhasten und jagen und drängen, sie ahnen nicht, wie unnütz diese Hast ist. Es geht doch alles demselben Ziele zu – demselben Ziele!«

Wieder nickte die Greisin vor sich hin.

»Aber die Jugend braucht Kampf, die Jugend braucht Leben und Streben! Der Most muß schäumen und gären, damit der Wein sich kläre! Übrigens, da sind sie, Kind!«

Die Tür hatte sich geöffnet und drei Gestalten waren eingetreten. Achim und Dieter, die den Vater zwischen sich führten.

Sie waren nicht laut und lärmend, obgleich die erregten, leuchtenden Gesichter keinen Zweifel über die gefallene Entscheidung ließen. Sie wußten, daß Vaterliebe ihnen heute ein Opfer gebracht hatte, das dem Vaterherzen nur unter schwerem Kampfe abgerungen war.

Doktor Eriksen ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, nachdem er die ihm gebotene Hand der Greisin still gedrückt hatte.

»Da wären wir also so weit! Grasmückchen wird zufrieden sein!«

Sylvia war zum Vater gehuscht und hatte die Arme um seinen Hals gelegt.

»Väterchen!«

»Es war hart, Grasmückchen!«

Die sonst immer so feste Stimme klang merkwürdig unsicher.

Das schnitt Achim ins weiche Herz.

»Vater, wenn es dir gar so schwer wird –«

»Still, Junge, still. Es ist nun entschieden! Wie war's, Grasmückchen? ›Dein Sohn lebt ein Leben für sich. Du hast kein Recht, es nach deinem Sinn modeln zu wollen, auch in der besten Absicht nicht – auch in der besten Absicht nicht‹; ja, ja!«

Er sah mit gesenktem Kopf vor sich hin, als ob er der Stimme lausche, die das einst gesagt hatte.

»So hat eure Mutter gesprochen, als sie für Gerhard eintrat, und Grasmückchen hier hat mich heute zur rechten Zeit daran gemahnt. Ja, ja, das Grasmückchen!«

Es war eine Weile ganz still. Jeder hing den eigenen Gedanken nach. Dann riß sich der Vater gewaltsam aus den Träumen.

»Genug des Grübelns und Kopfhängens jetzt!« rief er frisch. »Jungens, wie wär's, wenn wir eine Flasche Wein auf eure Zukunft leerten? Ob Altchen das Gelage bei sich duldet?«

Altchen nickte nur. Sie hatte bis jetzt an den beiden Enkeln herumgestreichelt und geliebkost, die, wie sie es aus der Kinderzeit gewohnt waren, sich dicht an sie herangenestelt hatten. Bei Altchen blieb man immer Kind, und das eben erwachende Gefühl der Manneswürde vergaß sich gar zu leicht bei ihr.

»Grasmückchen sorgt für Gläser, was? Und wir drei steigen zusammen in den Keller und sehen, was wir für den feierlichen Augenblick Geeignetes auf Lager haben. Vorwärts marsch, ihr Krieger in spe

Unter Lachen und Scherzen polterten nun die drei hinunter. Sylvia mußte Altchen geschwind noch einmal umarmen und huschte dann hinterher.

Danach saßen sie alle fröhlich um Altchens Tisch, dem ungefügen runden Tisch mit der schön eingelegten Platte und dem plumpen, ungeschlachten Fuß, der in drei gewaltige dicke Metallklauen auslief. Altchen hatte sich von dem alten ungefügen Ding nicht trennen wollen, obgleich es ungebührlich Raum versperrte.

»Der hat schon so viel fröhliche und so viel traurige Menschenkinder um sich gesehen. Wenn der reden könnte! Was wüßte er alles zu erzählen. Wenn ich an dem Tische sitze, fühle ich mich nie einsam. Wie heißt's einmal irgendwo? Im neuen Raum ein alter Tisch, und man ist nicht allein!« So pflegte Großchen zu sagen.

Heute nun sah das alte Ungetüm von Tisch nur strahlende Augen und glückselige Menschenkinder.

Da sich Doktor Eriksen nun einmal zu dem Entschluß durchgerungen hatte, war er auch ganz dabei. Wie jede edle Natur, machte er das gebrachte Opfer nicht lastender durch steten Hinweis darauf. Er freute sich an der Freude seiner Jungen.

Jetzt hob er sein Glas.

»Jungen, eure Zukunft. Nun macht mir aber auch Ehre, damit ich weiß, weshalb ich dem Vaterland das Opfer bringe!

»Sollst sehen, Vater!« Es lag wie ein Schwur in Achims Stimme.

»Stramme Kerle werden wir sein in der Uniform, was Vater?«

Dieter reckte die breite Gestalt und warf den Kopf zurück. Dieter war immer ein bißchen eitel gewesen und hatte sich ein ganz klein wenig zu gut getan auf seine größere Kraft dem etwas zarteren Achim gegenüber.

»War's nur die Uniform, Dieter?«

Der Vater fragte es etwas mißtrauisch, zweifelnd.

»Auf Ehre nicht, Vater!« Dieters Blauaugen blitzten. »Nein, aber das Vaterland schützen, es mit der Waffe in der Faust verteidigen dürfen – sein Leben dafür zu lassen, wenn's not tut, das –«

Er besann sich plötzlich und sah scheu nach dem Vater hin.

Der nickte ihm ernst zu.

»Das ist echter Soldatensinn, mein Sohn. Wohl dem Mann, der seinem Stand Begeisterung entgegenbringt!«

Sylvia saß zwischen Altchen und dem Vater. Mit leuchtenden Augen sah sie von einem ihrer Lieben zum andern.

»Alf-Bübsen auch Wein trinken, Alf-Bübsen auch Soldat werden!« klang da plötzlich ein kleines weinerliches Stimmchen von der Tür her.

Keiner hatte die gehen hören. Nun wandten sich aller Augen dahin.

Dort stand Alf-Bübchen in seinem langen weißen Nachthemd und preßte die Händchen gegen die blinzelnden Augen. Den kleinen Burschen blendete offenbar noch das Licht.

Sylvia hatte ihn schon in den Armen.

»Aber Alf-Bübchen!«

»Alf-Bübsen auch Waffe in Faust haben,« sagte der kleine Mann weinerlich. »Alf-Bübsen tann nix mehr slafen.«

Sie mußten alle lachen über die drolligen Worte des Kleinen. Der Vater streckte die Arme nach seinem Jüngsten aus. »Komm, Hemdenmatz!«

Da krähte der kleine Mann vor Wonne, war wie Quecksilber aus Sylvias Armen geschlüpft und nestelte sich auf Vaters Knie zurecht.

Sylvia hüllte ihn in eine weiche Decke.

So saß Alf-Bübchen und lachte schelmisch von einem zum andern. Herausfordernd blinzelte er die großen Brüder an.

»Ätsch, droße Jungen, Alf-Bübsen auch Soldat werden, ätsch! Alf-Bübsen auch Säbel in seine Faust haben.«

»So'n Knirps,« rief lachend Dieter.

»Dieter auch Tnirps wesen,« gab Alf-Bübchen prompt zurück. »Alf-Bübsen danz furchtbar droß wachsen, viele, viele drößer als Dieter, viele drößer als Achim!«

Dieter griff mit der breiten Hand über den Tisch herüber nach dem Kleinen. Krähend klammerte sich Alf-Bübchen an den Vater.

»Wenn du aber Soldat wirst, Alf-Bübchen, mußt du auch schießen,« sagte jetzt Achim.

Der kannte seine Leute. Alf-Bübchen schrie immer und hielt sich die Ohren zu, wenn Jörg und Heinz nach Beendigung ihrer Schulaufgaben mit der Knallbüchse kamen, die sie oft zum Entsetzen der älteren Brüder mit großer Ausdauer zu handhaben pflegten.

»Alf-Bübsen nix sießen!« sagte der kleine Mann sofort und verzog das Gesichtchen.

»Dann kannst du auch nicht Soldat werden!«

»Denn nist!« sagte Alf-Bübchen sehr gefaßt.

»Was aber nun, Alf-Bübchen?« fragte Sylvia sehr bedenklich.

Der Kleine sah sie einen Augenblick schlau an.

»Mich Müttersen Sylvia werden!«

Und er krähte und lachte und schlug in die Händchen, daß alle mitlachen mußten.

»Geht auch nicht, Alf-Bübchen,« sagte nun Altchen, »geht auch nicht, mein Jungchen, dazu sind deine Haare nicht lang genug.«

Alf-Bübchen sah sie zweifelnd an und tastete mit den kleinen Händen in den wirren Löckchen herum.

»Noch wachsen,« sagte er dann kurz.

»Aber Jungen kriegen die Haare doch immer kurz geschnitten. Sieh doch den Vater und Dieter und mich!« sagte Achim.

Alf-Bübchen sah kritisch von einem zum anderen, dann seufzte er tief auf, er wußte sich offenbar keinen Rat.

»Alf-Bübsen dann Engelein werden und zu liebe Mama in Himmel kommen,« sagte er plötzlich sehr entschieden und streckte Sylvia die Ärmchen hin.

»Alf-Bübsen so müde sein, Bettsen dehen!« Es klang sehr weinerlich. Der Vater hatte wie erschreckt den Kleinen fest an sich gepreßt. Jetzt erhob er sich und reichte ihn Altchen zu.

»Sag Altchen gute Nacht, Alf-Bübchen. Vater trägt den kleinen Mann selbst hinüber in sein Bettchen.«

Da wollte der Kleine vor Vergnügen aufkrähen, aber mitten drin schlief er schon.

Der Vater trug Alf-Bübchen ins Bettchen zurück. Sacht legte er den schlafenden kleinen Mann in die Kissen. Sylve-Mütterchen war mitgekommen. Eine Weile noch standen die beiden und sahen sinnend auf den kleinen Schläfer.


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