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I.
Das Doktorhaus am Graben

Und das jüngste Geißlein, siehst du, mein Alf-Bübchen, das hatte sich in die große Uhr versteckt. Und wie nun der böse Wolf alle die anderen gefressen hatte …« Alf-Bübchen machte sehr große, erschreckte Augen; Sylvia zog den Kleinen ein wenig fester an sich.

»… da legte er sich hin und fing an zu schlafen und fürchterlich zu schnarchen …«

In den weit aufgerissenen blauen Kinderaugen blitzte es.

»Wie Papa!«

»Pst, Alf-Bübchen, nicht naseweis sein! … Also, der Wolf fing furchtbar an zu schnarchen, und wie Klein-Geißlein das hörte, husch! war's aus der Uhr heraus, nahm ein großes, großes Messer und …«

Der Kleine schmiegte sich furchtsam an die Schwester.

»Ja, Alf-Bübchen, das hilft nun nicht, Strafe muß sein! Also, Klein-Geißlein nahm ein großes Messer und schnitt damit, ritsche – ratsche, dem bösen Wolf den Bauch auf. Der merkte glücklicherweise nichts davon, weil er schlief …«

»… und schnarchte,« setzte der Kleine ernsthaft bei.

»Meinethalben,« sagte Sylvia lachend, »… und schnarchte. Da streckte erst ein Geißlein den Kopf aus dem aufgeschnittenen Bauch: ›Tag, Brüderchen‹, dann noch eins, und sie hüpften heraus, und noch eins und wieder eins, bis sie alle sechs wieder heil und ganz draußen waren.«

Alf-Bübchens Gesicht war in hellen Sonnenschein getaucht; er schlug begeistert mit den kleinen Fäustchen auf Sylvias Brust und Schultern.

»Sachte, Alf-Bübchen, sachte! … Und was tat Klein-Geißlein?«

Der kleine Mann horchte atemlos.

»… Das holte sechs schwere Steine und legte sie alle dem Wolf in den Bauch und nähte den …«

Ein furchtbarer Schlag an die Tür des Zimmers machte der Erzählung jäh ein Ende. Die Tür flog auf; eine abenteuerliche Gestalt zeigte sich.

Auf den Schultern eines derben, kräftigen blonden Schuljungen saß ein zweiter, etwas kleinerer, aber ebenso derb und kräftig und blond. Der oben saß, hatte einen weiten runden Mantel umgehängt, aus dessen Falten das lachende Gesicht des anderen vorsah, hatte sich einen großen Hut aufgestülpt und fuchtelte mit den Armen wild in der Luft herum. Beide ließen dabei ein wahrhaft indianisches Kriegsgeheul ertönen. Alf-Bübchen brüllte als dritter im Bunde mit. Er war längst von Sylvias Schoß herunter und tanzte um die beiden herum.

»Jörg, Heinz, Alf-Bübchen auch hinauf, bitte, bitte!«

Schon beugte Heinz, der oben saß, sich willfährig zu dem kleinen Bruder nieder, und Jörg, der Heinz trug, machte Miene, sich auf den Boden zu kauern. Da trat Sylvia dazwischen.

»Jörg, Heinz, wollt ihr wohl! Wie oft hab' ich euch gesagt, daß ihr das nicht tun dürft. Soll Jörg 'nen Buckel bekommen wie der alte Anton, wie? Flink herunter, Heinz, und daß du mir nie wieder –«

Mit derbem Schupps hatte Jörg den Bruder abgeschüttelt, so daß der ins Wanken geriet und dicht vor der Schwester in die Knie stürzte.

Erschreckt beugte die sich nieder. Da hatte Heinz auch schon ihren Hals umklammert: »Gnade, Mütterchen Sylvia, Gnade!«

Lachend wehrte sie sich.

»Laß, Heinz, du reißt mich ja um!«

Doch schon packte sie Jörg von rückwärts.

»Gnade, Mütterchen Sylvia, Gnade!« ahmte er dem Bruder nach.

Und Alf-Bübchen umklammerte dazu die Schwester, wie hoch er eben reichen und was er eben fassen konnte: »Dnade, Mütterchen Sylvia, Dnade!«

Sylvia hätte nun gerne gelacht oder gescholten oder beides zugleich getan, aber die drei Quälgeister benahmen ihr fast den Atem, und sie hatte genug zu tun, nur auf den Füßen zu bleiben.

»Wollt ihr wohl, ihr Schlingel!«

Eine klingende Stimme rief's von der offenen Tür her. In deren Rahmen zeigten sich zwei kräftige Jünglingsgestalten, unverkennbar die älteren Ausgaben der beiden blonden Schuljungen, die dort die Schwester quälten.

»Achim, Dieter, Hilfe!« keuchte die wankende Sylvia.

Da änderte sich im Nu das Bild.

Je eine derbe Faust, Dieters Fäuste, packte Jörg und Heinz am Rockkragen und setzte die Zappelnden eine Strecke weiter ziemlich unsanft zu Boden.

Achim hatte sich Alf-Bübchen gegriffen, und der kleine Mann saß auf der Schulter des großen Bruders, ehe er sich's recht versah. Dort schlang der Kleine die Ärmchen um des großen Bruders Kopf und schmiegte die weiche Kinderwange in das blonde, dichte Kraushaar.

»Achim Alf-Bübchen festhalten!«

Dieter schalt unterdessen.

»Schämt ihr euch nicht, Bengels, Mütterchen Sylvia so zu quälen? Ein schlechter Mann, der nicht rücksichtsvoll gegen Damen ist!«

Wohl waren die beiden rot im Gesicht geworden, lachten aber doch den großen Bruder keck herausfordernd an: »Ha, ha, ha! Mütterchen Sylvia ist doch keine Dame, ha, ha, ha!«

»Was sonst, ihr Schlingel?«

Dieters Blauaugen blitzten, seine Faust hob sich.

Unwillkürlich duckten die beiden die Köpfe und hoben schützend die gekrümmten Arme.

»Ei, eben Mütterchen Sylvia, nichts sonst,« wehrten sie sich.

Lachend trat Sylvia hinzu. »Laß sie doch, Dieter, sie haben ja recht. Ich bin ja doch vor allem euer Mütterchen Sylvia, nicht! Wollten meine Jungen darum streiten?«

Dieters Blauaugen strahlten die Schwester an, seine großen Hände griffen nach ihrem kleinen, braunen Gesicht und hoben es behutsam hoch; fast andachtsvoll sah er drauf nieder.

»Mütterchen Sylvia!« flüsterte er, und eine unendliche Weichheit, eine unendliche Zärtlichkeit lagen im Ton.

Jörg und Heinz wälzten sich unterdes in enger Umschlingung, von der man nicht wußte, war sie freundlich, war sie feindlich, am Boden.

Achim trabte mit dem jauchzenden Kleinen auf den Schultern durchs Zimmer.

»Hü, Hotto-Pferdsen, hü!«

Plötzlich schlug die Stimmung um.

»Alf-Bübsen Hunger haben, Müttersen Sylvia!« klagte ein weinerliches Stimmchen, und der Chor der Großen nahm die Klage auf.

»Wir haben Hunger, Sylvia, Hunger!« klang es lachend, mahnend, zeternd in allen Tonarten und Tonlagen.

Sylvia hob die Hände zu den Ohren und huschte lachend zur Tür.

Dort stieß sie mit der alten Lene zusammen, die eben von der Diele her eintrat.

Sie trug ein Brett mit Riesenkannen, aus denen ein sich leicht kräuselnder Dampf aufstieg.

Ein gewaltiger Brotlaib lag außerdem noch auf dem Brett.

»Hunger, Lene, Hunger!« brüllte ihr der Chorus so erschütternd entgegen, daß sie einen Augenblick wie verdutzt stehen blieb.

Dann zog ein Schmunzeln über ihr breites Gesicht.

»No, daderfor gibt's glücklicherweise Abhilf',« meinte sie seelenruhig und setzte das schwere Brett auf den breiten Anrichtetisch.

Sie wischte sich erst mit der Schürze über das erhitzte Gesicht, streifte dann die Ärmel hoch, hob die Kannen auf den bereits gedeckten, altväterischen Eßtisch und machte sich dran, vom Riesenbrotlaib Riesenstücke abzuschneiden und sie zu einem Riesenberg zu türmen.

Alle bis auf Sylvia hatten inzwischen am Tisch Platz genommen.

Sie stand an der Querseite oben und goß die Tassen voll.

Mit ruhigem Blick überflog sie die Runde. Da fesselte etwas ihre Aufmerksamkeit.

»Aber, Jungens, eure Schulbücher liegen ja noch alle herum. Und Mantel und Hut von eurer Mummerei gehören auch nicht hierher, Jörg und Heinz!«

Wortlos erhoben sich alle, auch die zwei Oberprimaner, Achim und Dieter, und wortlos verschwanden sie mit den beanstandeten Gegenständen.

Als sie dann wieder kamen, ging's an ein fröhliches Schmausen, so fröhlich und eifrig und eilfertig, daß die alte Lene drüben am Anrichtetisch ihre liebe Not hatte, Schritt zu halten in der Lieferung der Brotstücke, und Mütterchen Sylvia zehn Hände hätte haben können, all diese Schnitten in gehöriger Eile mit Butter oder je nach Wunsch mit Pflaumenmus zu bestreichen.

Endlich ebbte die Sturmflut, es trat eine gewisse Ermattung, dann ein Stillstand ein.

Alf-Bübchen hatte schon lange seine Milch geschlürft und sein Weisbrötchen verzehrt.

Belustigt schaute er den eifrigen Brüdern zu.

»Alf-Bübsen sein lang fertig,« sagte er vor sich hin. Dann lachte er Sylvia schelmisch an.

»Droße Jungens« – so nannte er die Brüder immer – »droße Jungens sein wie Wolf, delt, Sylve-Müttersen, können auch so viel fressen!«

»Wart, Knirps,« drohte Achim, der's gehört hatte, war aber noch zu beschäftigt, um sich stören zu lassen.

Sylvia lachte.

»Menschen essen, Alf-Bübchen.«

»Sein nix Mensen!« beharrte der Kleine.

»Was sonst?«

»Droße Jungens! Papa sein Mens, und Altsen sein Mens und Sylve-Müttersen und Lene und – – « lange Pause mit schelmisch herausforderndem Blick auf Achim – »und Alf-Bübsen sein Mens!«

Und schon war der Kleine aus der gefährlichen Nähe des großen Bruders und in Sylvias schützenden Armen.

Lärmend, lachend erhoben sich die »droßen Jungens« nun alle vier, um auf den kleinen, kecken Schlingel einzudringen.

Der barg das Gesichtchen an der Schwester Brust und umklammerte deren Hals.

»Ruhe, Ruhe,« bat diese, »ihr müßt ja doch an die Arbeit. Lauf zu Altchen hinauf, Alf-Bübchen, und sag, ich käme gleich!«

Damit ließ sie den Kleinen durch die geöffnete Tür entwischen. Man hörte seine kleinen Füße eilig über die Diele trippeln, dann eine Treppe hinanpoltern, hörte oben eine Tür schlagen, und dann war alles still.

Sie lachten noch, die vier Großen; der Kleine war zu urdrollig gewesen in seiner eiligen, schuldbewußten Flucht.

»Und jetzt an die Arbeit, jungens,« mahnte Sylvia. »Kann ich einem etwas helfen?«

»Überhören später, bitte!«

»Ich komme mit meiner Rechnung nicht zurecht, Mütterchen Sylvia.« Heinz klagte das.

»Mein Aufsatz,« seufzte Dieter. »Ich wollte, der Professor säße auf dem Blocksberg!«

»Dieter!«

Ein sprechender Blick Sylvias nach Jörg und Heinz hin ergänzte die Mahnung.

Die grinsten beifällig.

Dieter sah es.

»Na, Jungens, braucht nicht so die Zähne zu fletschen. Ich hab' damit nichts Schlimmes gemeint. Ich gab' wer weiß was drum, wenn Vater im Sommer fragte: ›Du, Dieter, da hast du Geld, besieh dir doch gefälligst mal den Blocksberg!‹«

Jörg stieß Heinz verlegen in die Seile.

»Du, wo ist denn der?«

»In der Schweiz,« gab Heinz kühn zurück, und Jörg war zufrieden.

»Hat einer was zerrissen?« fragte nun Sylvia. »Dann bitte ich jetzt um das betreffende Kleidungsstück.«

Verlegene Pause.

»Der Jörg –«

»Der Heinz –«

Es kam fast gleichzeitig.

»Nun?«

»Ja, der Jörg hat –«

»Nein, der Heinz hat –«

»Ruhe! Immer einer nach dem andern. Also Jörg!«

»Ja, der Heinz muß was Scharfes in der Tasche gehabt haben, und als er vorhin auf meiner Schulter saß, da hab' ich mich dran gerissen, und da ist ein Loch im Ärmel gewesen und –«

»Ja und bei mir hat's durchgestochen – ich kann wirklich nichts dazu – aber die Hose ist zerrissen und –«

»Was hast du denn in der Tasche gehabt?« erkundigte sich Sylvia sehr ernsthaft.

»Ach, bloß ein Stück Dachkandel für den Entwässerungskanal in meinen Gartenanlagen, weißt du: ein wundervolles Stück Dachkandel, sag' ich dir, Mütterchen Sylvia. Aber es muß scharf gewesen sein, sieh nur –«

Heinz zerrte an dem Korpusdelikti: ein scharfes Krachen und Reißen.

Hilflos starrte er Sylvia an.

»Du Erzschlingel! Ei meinste dann, des Kind kennt de ganze Dag nur for eich flicke und stichele? Zum Gugug, weis emal her!«

Die alte Lene, die unterdessen den Tisch abgeräumt und alles Geschirr zusammengestellt hatte, trat heran. Mit festem Griff packte sie Heinz, legte die verdächtig geschwollene Tasche bloß und entzog dieser geschickt das besagte »wundervolle Stück Dachkandel«.

Kopfschüttelnd hielt sie es hoch.

»Nein, mer glaubt so was nit, wammer's nit sicht. Des nächste Mol stoppste der vielleicht de Kirchturmspitz in dein Dasch!«

Heinz ließ den Kopf hängen und beantwortete diese Anzüglichkeit mit keinem Laut.

»Laß gut sein, Lene,« sagte Sylvia leise und sanft – Lene war länger als die Kinder im Hause, sagte zu allen du und wurde von allen du angeredet – »laß gut sein, Lene. Ich hab' ja Zeit, ich flick's ihm gerne. Ein andermal weiß ich, daß er an mich denkt, wenn er wieder mal die Taschen so unnatürlich vollstopfen will, was, Heinz?«

Der sagte nichts, aber ein dankbarer Blick aus den trotzigen Augen traf Sylvia, und der Trotz schmolz hin wie Schnee an der Sonne.

»Und nun geht ihr beiden und kleidet euch um, ich warte auf die Patienten,« mahnte Sylvia.

Wortlos verschwanden Jörg und Heinz.

Joachim und Dietrich, Achim und Dieter, wie sie von den Geschwistern genannt wurden, die Zwillinge, hatten sich während der Szene verdächtig im altertümlich behaglichen Erker herumgedrückt, hatten hier an den Bankkissen, dort an den Pflanzen merkwürdig viel zurecht zu rücken gefunden.

Man hörte Jörg und Heinz die Treppe hinaufpoltern.

Lene mit dem Geschirrbrett ging auch hinaus, Sylvia öffnete und schloß die Tür für sie.

»Sylvia!« kam's etwas zagend vom Erker her.

»Achim?«

»Mir ist auch was passiert!«

»Her damit,« rief Sylvia lustig.

»Es ist mir zu leid, aber –«

»Mach doch keine Dummheiten, Achim, Alter! Ich werde doch noch Zeit und Lust haben, meine Jungens herauszuflicken. Weshalb wär' ich denn Mütterchen Sylvia.«

»Engel!«

Achim, der gute Junge, war immer ein bißchen überschwenglich. Sylvia quittierte den »Engel« mit gutmütig schelmischem Lachen.

»Na, Dieter?«

»Ja, Sylvchen, ich kann dir nicht helfen, 's ist noch was los!«

»Was denn?«

»Mindestens sechs Knöpfe an den verschiedensten Stücken und Stellen. Und die Socken sind auch durch, und einen riesigen Tintenfleck hab' ich auf der einen Manschette, und mein Taschentuch ist weg.«

»Aber Dieter! Vom neuen Dutzend?«

Bejahend neigte Dieter den Kopf.

»Das ist das Schlimmste!« Mütterchen Sylvias junges Gesicht zeigte bedenkliche Sorgenfalten. »Alles andere läßt sich mit Leichtigkeit machen. Flink, Jungens! Hier nehmt den Korb mit hinauf und legt mir alles, was durchgesehen werden muß, da hinein. Ich gehe inzwischen zu Altchen.«

Höflich und diensteifrig sprang Achim vor und hielt der Schwester die Tür auf. Dann durchschritten die Geschwister zusammen die geräumige Diele.

Einen Augenblick lauschte Sylvia nach den beiden großen Türen hin, die rechterhand in die Wohnräume führten.

»Väterchen scheint noch nicht zurückgekehrt zu sein,« sagte sie. »Er ist wieder nach Seefeld gerufen worden; es ist dies heute schon das zweite Mal,« erklärte sie den Brüdern.

Die drei Geschwister stiegen die gewundene dunkle Eichentreppe hinan, die nach oben führte.

»Kommt doch nachher einen Augenblick zu Altchen und schickt auch Jörg und Heinz; bitte, wollt ihr?«

Damit verschwand Sylvia in einer Tür geradeaus von der Treppe, während Achim und Dieter noch eine Treppe höher stiegen.

Sylvia war in »Altchens« Reich, dem »Friedensport« im Hause, wie der poetisch angehauchte Achim Großmütterchens Zimmer getauft hatte.

Diese beiden Zimmer lagen quer an der Rückseite des Hauses, hohe, luftige Räume, deren Fenster auf den großen, schattigen Garten gingen.

Hier war's so still und so lauschig, hier war's so friedlich und schön. Wie hätte es auch anders sein können, da wo »Altchen« hauste!

Und Altchen?

»Altchen«, wie die Kinder sie nannten, war des verstorbenen Mütterchens Mutter und lebte nach der geliebten Tochter Tod hier mit dem Schwiegersohn und den Enkelkindern weiter.

Wo anders hätte Altchen auch leben sollen?

»Hier in dem alten, lieben Hause bin ich geboren, hier war ich Kind, war Jungfrau. Hier habe ich die Jugend verlebt, habe ich gefreit, hier kamen meine Kinder zur Welt.« Bis hierher pflegte Altchens Stimme, wenn sie das sagte, steigende Wonne auszudrücken, dann verschleierten sich die lieben, sanften Töne immer mehr, wenn Altchen weitersprach: »Und hier habe ich dann erst Vater und Mutter, dann meinen lieben Mann begraben. Hier erreichte mich die Todeskunde der fernen Söhne, hier –« und nun ward die Stimme zum Flüsterton – »hier mußte ich die einzige Tochter in den Sarg legen – hier« – jetzt hob sich die Stimme wieder frischer – »hier müßt ihr mich nun schon behalten, bis man mich auch dorthin trägt, von wo es kein Wiederkommen gibt – dorthin, wo so viele meiner Geliebten mir vorausgegangen sind, die ich dann wiedersehen darf.«

Und die Augen der Greisin, große, leuchtende, sanfte, dunkle Augen, strahlten dann auf wie im Vorgefühl der Wiedersehensfreude. Und wer von den Kindern jeweilig dabei war, der pflegte den Arm um Altchen zu legen und zu sagen: »Aber du willst doch nicht von uns gehen, Altchen?«

»Wie der Herr will, Kind. Ich bleibe gerne noch ein Weilchen. Ich hab' euch ja alle so lieb, und nur der Abschied von euch macht mir das Gehen schwer.« –

Als Sylvia eintrat, saß Altchen am Fenster in ihrem Stuhl – dem Stuhl, an den sie nun schon seit Jahren gefesselt war, denn Altchen war gelähmt vom bösen Rheuma. Alf-Bübchen war auf Altchens Schoß geklettert, hatte die Ärmchen um ihren Hals geschlungen und das weiche Kindergesicht an die faltige Wange geschmiegt. So saßen die beiden und träumten hinaus in die sinkende Dämmerung des abendlichen Märzhimmels, an dem schon die Sterne aufzogen.

Sie hörten gar nicht, daß Sylvia die Tür öffnete und schloß.

Da sagte eben Alf-Bübchen: »Sieh mal, Altsen, die Sternlein da droben, die blitzen und winken: Alf-Bübsen tomm! Alf-Bübsen tomm!«

Wie erschreckt richtete sich die Greisin mit dem Kinde in den Armen auf, fuhr ihm mit der weichen Hand über das sinnende Antlitz und sagte sanft: »Torheit, Alf-Bübchen! Lauf mal dort in die Ecke und spiele, hörst du!«

Alf-Bübchen glitt wie der Wind von Altchens Schoß, und nun hatten die beiden Sylvia entdeckt.

»Sylve-Müttersen!« Mit dem Jubelruf stürzte der Kleine auf Sylvia los.

Die hob ihn empor und preßte ihn fast stürmisch an sich.

»Geh spielen, Alf-Bübchen; Altchen hat recht.«

»Altsen hat immer recht,« meinte der Kleine altklug; man sah, er wiederholte Oftgehörtes, und dann trippelte er gehorsam nach seiner Spielecke.

Sylvia war zur Großmutter herangetreten.

Ein warmer, leuchtender Blick umfaßte die Enkelin; kein Wort, keine Liebkosung hätte innigere Liebe ausdrücken können.

Sylvia faßte die sich ihr entgegenstreckende Hand, schmiegte die Wange darein und zog sich, ohne die Hand loszulassen, ein niedriges Stühlchen herzu.

»So, Altchen, hier darf ich Maria sein,« sagte sie heiter und legte das Köpfchen in den Schoß der Greisin. »Unten wartet nachher die Martha auf mich. Und Martha wird sich riesig tummeln müssen, Altchen; meine Jungens haben alle Patienten heimgebracht!«

Altchen seufzte.

»Armes Kind!«

»I wo, Altchen, armes Kind! Ja, wenn ich nicht nähen könnte, wie die Trude drüben zum Beispiel. Aber so. Wozu bin ich denn Mütterchen Sylvia?«

»Hast recht, Herz, und die Alte hat unrecht. Gott erhalte dir den frischen Sinn. Je schwerer die Pflicht, je reiner der Gewinn im Innern. Daran müssen wir uns halten.«

»Und ich hab' doch dich, mein Altchen, und Väterchen. Wir drei zusammen wollen unsere Jungen schon durchdringen, daß Mütterchen im Himmel ihre Freude dran haben soll.«

Frisch wie Lerchenton klang die junge Stimme.

Fast leidenschaftlich preßte Altchen den dunklen Krauskopf in ihrem Schoße an sich. Eine Träne lief ihr über die faltigen Wangen, sie sagte aber nichts.

Und immer dichter sank die Dämmerung nieder. Man hörte Alf-Bübchen hinten in seiner Ecke hantieren. Der Flackerschein des offenen Kaminfeuers warf ungewisse Lichter durchs dunkle Zimmer.

Eine Weile saßen Großmutter und Enkelin regungslos. Da pochte es leise an die Tür.

»Herein!« sagte Altchens sanfte Stimme.

Ein Scharren und Kratzen draußen auf der Matte machte Sylvia leise lächeln. Unten stürmten die Jungen ohne diese Rücksicht direkt von der Straße her ins Zimmer. Hier oben waren sie ganz Gesittung.

»Herein!« rief Altchen noch einmal.

.

Da öffnete sich der Türspalt. Das Ampellicht draußen vom Vorplatz warf seinen Schein über vier blonde Köpfe, vier kräftige Gestalten.

»Guten Abend, Altchen!« kam's aus vier Kehlen, zwei helle Knabenstimmen und zwei tiefer getönte, wie sie den ersten Jünglingsjahren eigen zu sein pflegen.

»Guten Abend, Kinder, guten Abend! Aber ruf mir doch mal einer die Anna mit der Lampe. Ich muß meine Jungens doch sehen können.«

Sofort entstand zwischen Jörg und Heinz ein leises, aber energisches Ringen, dem eine sanfte Mahnung Sylvias alsbald ein Ende machte.

Heinz polterte die Treppe hinunter, und man hörte seine rufende Stimme durchs Haus schallen.

Die andern waren inzwischen zu Altchen herangetreten, und jeder hatte sich seinen warmen Kuß von der Greisin geholt. Sie umlagerten deren Stuhl, wie's eben ging, stehend oder am Boden kauernd. Sylvia hatte ihren Platz behauptet. Auch Heinz war wieder erschienen und machte seine Rechte geltend. Alf-Bübchen war ganz gegen seine Gewohnheit mucksmäuschenstille da hinten in seiner Ecke.

»Hier ist gut sein!«

Es quoll aus den tiefsten Tiefen von Achims Seele, und Altchens weiche Hand suchte und fand in der Dunkelheit seinen Blondkopf, der sich an ihre Schulter schmiegte.

Der sinnige Achim war von den Jungen eigentlich ihr Liebling, doch gab sie dieser Erkenntnis vor den andern nicht Raum.

Da kam Anna mit der Lampe.

Anna war Großmutters besondere Pflegerin, eine treue alte Seele, wie Lene fast ein halbes Menschenalter länger als die Kinder im Hause.

Sie wollte die Lampe eben auf den Tisch setzen, da blieb sie wie versteinert plötzlich stehen und blickte schreckensstarr auf irgend etwas hinten in der Ecke, das ihr Entsetzen erregte.

Sylvia bemerkte es zuerst. Sie richtete sich auf.

»Anna?«

Jetzt starrten alle in der Richtung von Annas Schreckensblick und ein Hallo erhob sich.

Alf-Bübchen, das schneeweiß wie ein Unschuldslämmchen in seinem weißen Wollkleidchen vorher in die Ecke geschlüpft war, stand dort im Schein des Kaminfeuers und von Annas Lampe bestrahlt wie ein Kohlenbrenner anzusehen. Schwarz das rosige Gesichtchen, kohlschwarz das von unten bis oben geschlitzte Röckchen, und mit bis über die Ellenbogen geschwärzten Ärmchen mühte sich der kleine Mann, eine kleine schwarze Faust, voll von einem unbestimmten schwarzen Etwas, oben zwischen die Höschen und den kleinen fetten Leib einzustopfen.

»Alf-Bübchen!« kam's entsetzt aus sieben Kehlen.

Alf-Bübchen erschrak.

Die kleine Faust ließ das schwarze Etwas fallen und fuhr mechanisch gegen das geschwärzte Gesicht. Der kleine Mund wollte sich eben schmerzlich verziehen.

Mit schnellen Schritten war Sylvia bei ihm.

»Was soll das heißen, Alf-Bübchen?« fragte sie zwischen Lachen und Zürnen.

Die andern drängten herzu. Da hatte der kleine Mann sich schon gefaßt. Schelmisch lachte er die Schwester an.

»Alf-Bübsen sein Wolf. Tleine Deißlein eben aus Bauch dehüpft. Da, Bauch aufdeschnitten!« Triumphierend hob der kleine Mann beide Teile des geschlitzten Röckchens. »Alf-Bübsen stopfen jetzt Steine nein!« Damit griff die kleine Faust in den Kohlenbehälter und schob, was sie fassen konnte vom schwarzen Inhalt, wieder zwischen Höslein und Leibchen.

Entsetzt tat Sylvia Einhalt. Die Jungen lachten wie besessen: auch Altchen und Anna mußten in die allgemeine Heiterkeit einstimmen.

Alf-Bübchen, der kleine Missetäter, sah von einem zum andern und lachte etwas ungewiß und aufgeregt mit.

Er wollte Sylvia in seiner Verlegenheit umfassen; die wehrte entsetzt ab.

Jörg und Heinz umtanzten ihn.

»Schwarzepeter!«

»Schweinigel, ätsch, ätsch!«

Alf-Bübchen schlug nach ihnen.

Achim und Dieter standen lachend in sicherer Ferne, von ihnen war keine Hilfe zu hoffen. An Altchen getraute sich der kleine Sünder denn doch nicht heran.

Anna blieb als einzige Zuflucht.

Auf sie stürzte er los.

»Anna, bitte, Schweinigel forttragen!«

Es kam so drollig zerknirscht, so rührend hilfsbedürftig heraus. Anna erbarmte sich des kleinen Mannes. Sie nahm ihre große weiße Schürze ab.

»Die kommt in den Waschzuber!«

Damit umfaßte sie den kleinen Kohlenhelden und trug ihn unter jubelndem Hallo ab.

»Ich hab' dem Kerlchen vorhin die Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein erzählt, die hat er nun gleich illustrieren wollen,« erklärte Sylvia, und alle lachten.

»So 'n Knirps!«

»So 'n Krabauter!«

Die Jungens konnten sich in Ausrufen bewundernden Entzückens gar nicht genug tun.

»Jetzt aber an die Arbeit, Jungens, Altchen muß Ruhe haben,« mahnte Sylvia.

Die vier verabschiedeten sich von der Großmutter für heute.

»Gut' Nacht, lieb Altchen, gut' Nacht!«

»Schlaf gut, Altchen!«

»Laß dir was Schönes träumen!«

Damit waren sie zur Tür hinaus, die frischen Jungen.

Nur Sylvia machte sich noch um Altchen zu schaffen, rückte hier ein Kissen zurecht und schob dort die weiche Decke fester um die Knie der Leidenden.

Sie hatte deren Stuhl zum Tisch herangeschoben, befestigte den Lampenschirm am richtigen Platz und legte Strickzeug, Buch und Patiencekärtchen zur Hand.

»Ich muß leider gehen, Altchen. Mein Flickkorb ist heute ungewöhnlich inhaltsvoll. Auch haben die Jungen allerlei Anliegen in betreff Aufsatzes, Rechnungen, Überhören und dergleichen. Am Abend komm ich noch für ein Stündchen mit Väterchen.«

»Geh, Herzenskind. Die Alte bleibt in guter Gesellschaft. Sie hat so viel liebe Erinnerungen, die sie besuchen.«

Die Tür fiel hinter Sylvia zu. Lange starrte die Greisin sinnend darauf hin.

»Gott segne das Kind!« Ein leuchtender Schein verklärte das alte milde Gesicht.

Und dann kamen die Erinnerungen, von denen sie gesprochen hatte, und leisteten Altchen Gesellschaft. Liebe, längstentschwundene Gestalten drängten sich um sie her. Vater, Mutter, die Geschwister – wie weit lag das dahinten. Dann der geliebte Mann, die beiden Söhne, die als junge Kaufleute ausgezogen waren, ihr Glück zu suchen in fernen Ländern, es gefunden hatten und – hatten lassen müssen in jungen Jahren, weit, weit fort von der Heimat. Dann kam eine einzelne Gestalt – war's Sylvia? – Nein, die zarte, kleine, zierliche, schmale Sylvia mit dem bräunlichen Gesichtchen, den großen braunen Augen und dem dunklen Kraushaar war nur deren getreues Ebenbild. Es war Sylvias Mutter, neben ihr ein großer blonder Mann, dann drei blonde Söhne, die braune Sylvia und wieder drei blonde Söhne. Das war ein Glück gewesen in dem alten Hause! Achtzehn volle Jahre hatte es gedauert. Achtzehn ungetrübte lange Jahre des Glücks, und nun schienen sie wie ein Tag. – Gerhard, der älteste Sohn, der Student, war eben siebzehn gewesen, da kam Alf-Bübchen, Klein-Alfred, der Spätling – Heinz, der Jüngste, war schon neun Jahre alt – und die Mutter – die Mutter ging. Sie mußte fort von den Liebsten, die ihrer noch so sehr bedurft hätten. Sie ging, und auf Sylvias zarte Schultern hatte sie eine schwere Last gelegt.

Altchen seufzte tief auf in ihrem Sinnen.

Sylvia war stets ein frühreifes, kluges Kind gewesen. Von ernsten, gewaltigen Schauern gepackt stand die Vierzehnjährige am Totenbett der Mutter.

Wie nach dem letzten Notanker griff die Sterbende nach der Hand des Töchterchens.

»Sylvia, du wirst deinen Brüdern Mutter sein, du wirst Klein-Alfred nicht verlassen. Schwöre mir's!«

Und auf die Knie sinkend schwor es Sylvia in die fast schon erkaltende Hand.

Und was Sylvia geschworen hatte damals vor nun schon drei Jahren, das hatte sie mit eiserner Treue gehalten.

Es war rührend, zu sehen, wie das junge Kind sich mühte, Vater und Brüdern die Mutter zu ersetzen. Das Schicksal, das harte, unerbittliche, hatte Sylvia frühe gereift. Sie war in jungen Jahren zum sorgenden, stützenden, helfenden Weib geworden, dabei aber das heitere, frische, frohe Kind geblieben, das sie stets gewesen war.

»Mich umweht's wie ein frischer Lufthauch, wenn das Kind mir nahe kommt,« hatte schon die Mutter immer gesagt, und genau so war Sylvia geblieben.

Die schwere Pflicht konnte sie nicht zu Boden drücken, sie hob sie im Gegenteil, wie jede richtig erfaßte und erfüllte besonders schwere Pflicht es tun sollte, über sich selbst hinaus in reinere Sphären.

»Arme Sylvia!« wollten die Freundinnen sie manchmal bedauern, wenn sie wieder einmal zu irgend einem gemeinschaftlichen Vergnügen nicht Zeit hatte.

»Na, hört mal, Kinders, so zu bedauern braucht ihr mich gar nicht. Ich bin doch immer fidel wie ein Maikäfer. Wenn ich mich abends ins Bett lege und schon schlafe, ehe ich noch recht liege, dann weiß ich doch, weshalb und wofür ich mich abgerackert habe.«

Den Nachsatz: »was nicht jede von sich sagen kann«, verschluckte Sylvia, und die Freundinnen hörten ihn aus dem etwas betonten ich des Vordersatzes auch nicht heraus.

So ging die kleine braune Sylvia ihres Weges, unbekümmert, fröhlich wie eine Lerche vom Morgen bis zum Abend. Der blonde Riesenvater, die sechs blonden Brüder, die dem Vater nacharteten oder nachzuarten versprachen, Altchens »Friedensport«, das alte, liebe Haus in seiner altväterisch behäbigen Vertraulichkeit, Lene und Anna, die treuen Seelen, nicht zu vergessen – das war Sylvias Welt.

Der Lohn blieb nicht aus. »Mütterchen Sylvia« war den Ihren zum Mittelpunkt, war in deren Welt die Sonne geworden, um die sie kreisten als getreue Trabanten.

Und das alte, behagliche Haus, das diese Welt umschloß, »das Doktorhaus am Graben«, wie es jetzt im Städchen allgemein hieß, das war eine Heimat, in der man sich wohlfühlen mußte.

Früher im Besitz des Patriziergeschlechts, der Kamphausen, die Kaufherren gewesen waren, so lange man denken konnte, des Patriziergeschlechts, als dessen letzter Rest nun »Altchen«, die »Frau Rat« noch oben in ihren Zimmern saß, früher hatte dies Haus das »rote Haus am Graben« geheißen.

Da war Arnold Eriksen, der blonde nordische Enakssohn, gekommen und hatte die zierliche braune Magda Kamphausen, das einzig übrig gebliebene Kind ihrer Eltern, heimgeführt. Das heißt, er hatte auf flehentliches Bitten der Eltern sich entschlossen, sein Heim in Magdas Heim zu gründen. Arnold Erikson war Arzt, ein bald bei hoch und niedrig beliebter Arzt, und so war das rote Patrizierhaus allmählich zum »Doktorhaus am Graben« geworden.

Seine Mauern hatten im Lauf der Jahrhunderte viel Leid und viel Glück gesehen. Im gerechten Ausgleich hatte das eine dem anderen die Wage gehalten, wie das ja meist zu geschehen pflegt, obgleich's der Mensch nicht gelten lassen will, der in seinem Unverstand oder in seiner Ungeduld die Leidensjahre doppelt zählt, ihm selber unbewußt.

Trotzig, festgefügt stand das alte Haus, als wolle es weiteren Jahrhunderten die kraus verschnörkelte Stirn bieten. Himmelan strebte sein spitzer Giebel, von kunstvollem Schnitz- und Balkenwerk und nach oben sich verjüngenden Fensterreihen geziert. Eine wuchtige, zu beiden Seiten, von schmiedeisernen Kandelabern flankierte Freitreppe führte zu der prächtig geschnitzten schweren Haustür, deren massiv eiserner, altertümlicher Klopfer beinahe weißblank gescheuert war von den vielen Händen und Händchen, die täglich danach faßten, mit dröhnendem Schlag Einlaß zu begehren.

Die Haustür führte unmittelbar auf die »Diele« den breiten, viereckigen Raum inmitten des Hauses, auf den alle Zimmertüren mündeten. Der Raum erhob sich durch zwei Stockwerke hindurch, und eine herrlich geschnitzte altersdunkle, spiralisch gewundene Holztreppe mitten an der hinteren Querwand vermittelte die Verbindung. Zwei Galerien mit reichem Säulengeländer führten in der Höhe der oberen Stockwerke an den Wänden her von Tür zu Tür. Ein riesiges buntes Glasfenster oberhalb der Haustür spendete das nötige Licht.

Im Erdgeschoß, rechts von der Diele, waren Warteraum und Sprechzimmer Doktor Eriksens. Links hatten »die Jungen« ihr großes Lernzimmer, und dahinter lag das behagliche Wohn- und Eßzimmer der Familie, Sylvias Reich. Daneben nach hinten quer, unmittelbar an die Diele stoßend, war die große schöne Küche, Lenes Glück und Stolz.

Im oberen Stockwerk nahmen Altchens Zimmer, mit dem »Urväter-Hausrat« aus hellem bronzebeschlagenem Kirschbaumholz vollgestopft, die ganze Rück-, die Gartenseite des Hauses ein. Nach vorn zu lag rechts ein großer Raum, zu dem eine hohe Flügeltür führte, der Festraum des Hauses, die »gute Stube«. Links waren zwei Schlafräume; Vater benutzte den einen, den anderen Sylvia mit Alf-Bübchen.

Noch höher oben hausten die Jungen, dort lagen auch Gasträume.

In den Giebelgeschossen befanden sich die Vorratsräume, Lenes und Annas Privatreich.

Unmittelbar hinter dem Hause zog sich der große schattige Garten bis zu dem »Graben«, dem alten nun mit Wasser gefüllten Festungsgraben des Stäbchens hin, und dort lagen auch Hof und Stallung.

Vor dem Hause war ein großer, freier Platz. In früherer Zeit hatten dort winzige Winkelbauten kleiner Leute gestanden. Die Neuzeit mit ihren Anforderungen an Luft und Licht hatte sie niedergelegt und Rasenplätze, Gebüsch- und Baumgruppen dafür geschaffen. »An der Promenade« hieß nun der freie Platz. Der »Entenpfuhl« hatten die Winkelgäßchen früher geheißen.

Sylvia saß im großen, behaglichen Wohn- und Eßzimmer, dem Haupt- und Sammelraum der Familie. Sie saß im geräumigen, breiten Erker nach dem Garten zu. Zwei Stufen höher lag er als der übrige Raum und ein wuchtiges Holzgitter trennte ihn davon. Kissenbelegte Truhen und ein altväterischer Sessel standen da um einen länglichen Tisch. Eine Hängelampe warf ihren Schein drüber hin. Sylvia hatte ihren Flickkorb neben sich am Boden stehen, und die bereits kurierten Patienten türmten sich auf dem Tische. Mit roten, heißen Wangen beugte sich Sylvia über die Arbeit, und der Lampenschein umflimmerte ihr braunes Kraushaar mit blitzenden Lichtern.

Im Nebenraum hörte man murmelnde Stimmen, zuweilen ein lautes Wort, einen Ausruf, ein Auflachen, dem alsbald ein energisches »Pst!« Einhalt tat. Da drinnen lernten die Jungen.

Über Sylvias Gesicht huschte bei jedem Ton von dorther ein Zug, als ob sie aufhorche, und ein jeweiliges Lächeln oder irgend ein bedauernder Laut zeigte ihre Anteilnahme an den Vorgängen.

Doch ließ sie sich weiter nicht stören.

Zuweilen kam's von drinnen:

»Sylvia, Karl der Große?«

»768–814,« beantwortete Sylvia, ohne eine Miene zu verziehen, den etwas dunklen Anruf. Sie kannte ihre Leute.

»Sylvia, Lessing?«

»Minna v. Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan der Weise, Laokoon, Hamburgische Dra–«

»Danke, danke!«

»Sylvia, auswärts -t-s oder t-z?«

Das war Jörg.

Brüllender Lachchorus.

»Schäm' dich was. T-s.«

Pause.

»Mütterchen Sylvia!«

Wenn Heinz so schmeichelte, gab's was Besonderes.

Richtig, da streckte er auch schon den Krauskopf zum Türspalt herein.

»9 x 18?«

Es klang jammervoll hilflos.

»Oh, du Mathematikus! 9 x 10?«

»Achtzig, Heinz!« hörte man von drinnen flüstern.

»Acht–« wollte der wiederholen, da merkte er den Possen. Wie ein Füllen stieß er nach hinten aus.

»Neunzig,« sagte er dann weinerlich.

»Gut! 9 x 8?«

Man hörte ihn murmelnd die ganze Leiter der Achter herunterhaspeln. Mit 4 x 8 hatte er angefangen, das war für ihn noch fester Grund.

»Fünfmal, sechsmal, siebenmal, achtmal –« die Stimme hob sich im Verhältnis, nun triumphierend: »Neunmal acht macht zweiundsiebzig, zehnmal acht –« er war im Zuge.

»Halt. Neunmal acht?«

Hilflos stockte er.

»Du hast's ja doch eben gesagt. Na, flink! Zehnmal acht macht achtzig. Also acht weniger macht –?«

Ein Glück, daß es dunkel war. Man hätte sonst vielleicht sehen können, daß Heinz die Finger zu Hilfe nahm. So brauchte man's doch nur zu vermuten.

»Drei und sieb– zweiundsiebzig,« stieß er triumphierend hervor.

»Gut, also: neunzig und zweiundsiebzig sind –?«

Endlose Pause. Boshaftes Kichern von innen.

»Sind –?«

Heinz mußte die Sprache verloren haben.

»Sind – ?«

Sylvia blieb ganz geduldig.

»Neunzig und siebzig –?«

Pause.

»Nimm doch neun und sieben!«

Heinzens Finger bewegten sich verdächtig.

»Sechzehn,« triumphierte er.

»Null dran!«

»Hundertsechzig!«

»Zwei dazu?«

»Hundertzweiund– danke, Sylve-Mütterchen.«

Es klang sehr zerknirscht.

Drinnen erhob sich ein Schaufeln und Scharren.

»Ruhe!« gebot Sylvia. Sie lächelte vor sich hin. Ein Riese würde Heinz nicht werden, wenigstens kein Adam Riese.

Ob Alf-Bübchen wohl nun fest schlief nach der gründlichen Reinigung, die der kleine »Wolf« hatte über sich ergehen lassen müssen?

Sie lachte leise vor sich hin.

Was Väterchen wohl zu diesem neuesten Streich seines Kleinsten sagen würde?

Wo aber Väterchen nur blieb?

Sie hob lauschend den Kopf und ließ den Blick durch die Tiefe des Zimmers nach der Tür schweifen, die zur Diele führte. Das Zimmer mit seiner dunklen Täfelung und den schweren, altersschwarzen Eichenmöbeln lag fast in Finsternis. Vom hohen Kachelofen her, in dem ein Feuer lustig prasselte, huschten zuweilen einzelne Lichter über den Boden nach der Wand hin, und dann blitzte hier der Metallrahmen eines Bildes, dort irgend ein blinkendes Gefäß aus Zinn oder glasiertem Ton auf.

Daß sich die Tür schon ein ganzes Weilchen zuvor leise geöffnet und wieder geschlossen hatte, um eine hohe Gestalt, von der man nur die unbestimmten Umrisse sah, einzulassen, das hatte Sylvia in ihrem Arbeitseifer gar nicht bemerkt.

Der Eingetretene stand im tiefsten Schatten und blickte schweigend nach dem beleuchteten Erker hin, wo die emsig schaffende, jungfrische Mädchengestalt, als einziger Lichtpunkt im Zimmer, ein gar liebes Bild bot.

Sein Blick mußte magnetische Gewalt haben. Sylvia hob das Gesicht lauschend und spähend.

Da traf ein neckischer Flammenschein vom Ofen her etwas goldig Blitzendes.

Es war kein Bilderrahmen und auch kein Ziergefäß. Sylvia erkannte es alsobald – Vaters Bart!

»Väterchen!«

Mit dem leise unterdrückten Jubelruf war Sylvia auf und an des Vaters Brust.

»Mein Grasmückchen! Mein Ameischen!«

Wie fernes Grollen kam's aus des Riesen Brust, und als ob sie ein zerbrechliches, zartes Luftgebilde wäre, so vorsichtig umfaßte er das Töchterchen.

Mit bedeutsamem Blick nach der Tür des Nebenzimmers – sie fürchtete die Störung für die lernenden Brüder da drinnen – legte Sylvia den Finger warnend an den Mund.

Schon war's zu spät.

Die Tür flog krachend zurück, und Jörg und Heinz voran, kamen die vier angestürzt.

»Vater!«

»Vater!«

»Guten Abend, Vater!«

»Da bist du ja!«

»Guten Abend, Jungen! Sachte, sachte!«

Das galt Jörg und Heinz, die sich alsbald je eines Beines des Vaters bemächtigt hatten und dran herauf kletterten wie an einem Baumstamm.

Mit raschem Griff faßte er sie derb am Kragen und stellte sie auf die Füße.

»So, Jungen. Laß mir meine Beine in Frieden, habt ja jeder selber zwei gerade abgekriegt, Gott sei Dank. Flink an die Arbeit, Schlingel! Seht doch Mütterchen Sylvias Sorgengesicht! Ich werd's schön kriegen, wenn ich euch noch länger störe. Hab' mich ja doch nur zur Stelle melden wollen. Achim, Dieter, bis nachher, bis nachher, Kinder! Flink an die Arbeit! Bis nachher, Grasmückchen!«

Damit war er zur Tür hinaus, und man hörte auch schon drüben über der Diele die Tür seines Zimmers hinter ihm zufallen.

Im Nu ward die alte Ordnung hergestellt. Dasselbe Bild zeigte sich wie zuvor. Das dunkle, vom Flammenschein zuweilen durchleuchtete Zimmer, die nebenan murmelnden Lernenden und droben im hellen Erker die emsige Sylvia. Nur war ihr junges Gesicht noch um einen Schein sonniger, wärmer geworden, der Abglanz des eben Erlebten lag darauf. – –

Der große viereckige Eßtisch stand gedeckt. Die riesige Messinghängelampe darüber war entzündet.

Lene und Sylvia hantierten noch eifrig am Anrichtetisch und Büfett herum, immer fehlte noch etwas.

Achim und Dieter reckten die ungeschlachten Glieder je auf einer Truhe des Erkers. Jörg und Heinz wälzten sich irgendwo im Schatten als unbestimmbarer Knäuel am Boden.

Sylvia mühte sich eben, ein Brett voll Tassen vom Büfett nach dem Anrichtetisch zu tragen. Es wurde ihr offenbar recht sauer.

»Na, Jungen, und das könnt ihr mitansehen? Alle Wetter, das muß ich sagen! Seid mir ja nette Pflanzen! Gib her, Grasmückchen!«

Wie die Posaune des Gerichts war Vaters Stimme von der Tür erklungen. Doch ehe noch die beschämten Jünglinge herzustürzten, die raufenden Jungen sich heranwälzen konnten, hatte der Vater dem Töchterchen die Last schon abgenommen und sie an die gewünschte Stelle gebracht.

»Nur immer höflich und aufmerksam,« mahnte er sehr ernst. »Sylvia tut so viel für uns; wo wir's ihr erleichtern können, müssen wir's tun!«

Achim und Dieter waren sehr beschämt.

»Verzeih, Vater, wir –«

»Wir räkelten 'n bissel dort rum,« vollendete Dieter freimütig. »Soll besser werden das nächste Mal!«

»Na, dann nichts für ungut,« sagte der Vater mit Humor.

»Als ob ich von Marzipan wäre,« schmollte Sylvia.

»Beinahe, Grasmückchen, beinahe! So 'n ganz kleines, wunderfeines Spinnwebchen!«

»Na, hör mal, Vater, dann find' ich Gerhards ›Sylphe‹ denn doch noch bezeichnender,« meinte Jörg altklug. »Sylphen sind doch Luftgeister und –«

»Grasmücken leben auch nicht im Wasser, Naseweis. Schlag mal nach in deinem Brehm bei Grasmücke und erzähl mir, was du da findest. Mein Grasmückchen bleibt mein Grasmückchen! He?«

Das galt Sylvia. Und der große blonde Mann mit den blitzenden Blauaugen und dem welligen Blondbart – die echte urdeutsche Reckengestalt – beugte sich nieder zu der kleinen, bräunlichen Tochter und sah ihr mit unendlicher Zärtlichkeit in die großen sanften Rehaugen.

»Bleib mal unten, Väterchen, einen Augenblick, daß ich dich küssen kann. Wenn du erst wieder da droben in deiner olympischen Höhe bist –«

Sie schlang die Arme um seinen Nacken und vollendete den Satz mit einem zärtlichen Kuß.

»Und nun zu Tisch! Ich habe einen Wolfshunger!«

Bei dem Wort »Wolf« stand Alf-Bübchen als Kohlenbrenner deutlich vor aller Augen, und unter Hallo berichtete man dem Vater das Abenteuer.

»Wie aber in aller Welt hat der Knirps sein Röckchen schlitzen können?« fragte er, nachdem er sich weidlich ausgelacht hatte.

»Weiß der Himmel, wo er die Schere her hatte,« seufzte Sylvia. »Er muß sie irgendwo erwischt haben. Wie 'ne Dohle ist der hinter so was her, man kann nicht genug aufpassen.«

»Werd' mal mit ihm reden!«

Sylvia schaute so erschrocken auf, daß alle lachen mußten.

»Nur keine Angst, dem Herzblatt passiert nichts!« neckte Achim.

Sylvia hörte es nicht, unverwandt sah sie den Vater an.

»Mutters Vermächtnis!« flüsterte sie, und zwei leuchtende Tränen liefen ihr über die Wangen.

Alle waren ernst geworden, selbst Jörg und Heinz hörten auf, sich gegenseitig freundschaftlich zu knuffen.

Langsam nickte der Vater.

»Eben darum,« sagte er ernst, und Sylvia senkte errötend das Gesicht.

Still hatte man sich zu Tisch gesetzt und zu essen angefangen.

Der Vater brach zuerst den Bann.

»Wißt ihr, daß ich einen Brief von Gerhard habe? Er meldet sich zu Ostern mit einem Freunde an – wenn's Mütterchen Sylvia paßt, natürlich.«

Der Doktor beugte sich über den Tisch und sah dem Töchterchen ins Gesicht.

»Ob's mir paßt! Na, Jungen, was sagt ihr?«

Sylvia strahlte schon wieder.

Jörg und Heinz waren sich zur Feier des Augenblicks gegenseitig in die Haare gefahren und zausten sich fröhlich.

Achim und Dieter schauten sehr vergnügt drein.

»Wie heißt der Freund?« fragte Dieter.

»Ohne wär' er mir lieber, man hätte mehr von ihm,« meinte Achim.

»Wolf Brandt,« beantwortete der Vater Dieters Frage.

»Ach, der Bauer!« sagte Dieter geringschätzig.

»Dieter!« mahnte Sylvia.

»Na, das ist er doch. Seine Eltern wohnen hier irgendwo im Gebirge und er –«

»Er hat sich aus eigener Kraft mit Stundengeben so weit gebracht. Alle Achtung, Dieter! Ob du das wohl fertig brächtest?« Der Vater sagte es sehr ernst.

Dieter murmelte was vor sich hin. Achim kam ihm zu Hilfe, er lenkte ab.

»Hattest du einen schweren Tag, Vater?«

»Wie man's nimmt, Achim. Ein Arzt sieht immer Schweres und Trübes.«

»Das er leicht machen kann und macht, Väterchen.«

Sylvias Vogelstimmchen sagte das.

»Wohl, Grasmückchen! Sag mal, kannst du morgen die alte Webern besuchen? Mir scheint, ein Frauenblick und eine Frauenhand täten dort einmal not. Hast du Zeit?«

»Hab' ich immer, Vaterherz!«

Fröhlich wie Lerchenton klang's und tat wohl bis ins Mark.

»Gott erhalte dich so altmodisch, Grasmückchen. Nicht Zeit haben zu irgend was, ist ja eben die Modekrankheit.«

»Wirklich?« fragte Sylvia unschuldig verwundert. –

Das Essen war beendet, die getürmten Schüsseln blank geputzt.

»Trägt sich leichter fort, Lene, was?« schmunzelte Doktor Eriksen nach der Alten hin.

Die nickte.

»Gott sei Dank, Herr Doktor. Wann's meine Buwe emal nit mehr schmeckt, dann quittiert die alt Lene de Dienst. Da derfor simmer da! Alloh, die Dier aufgemacht, ihr Deiwelsplanze!«

Das galt Jörg und Heinz, die sich wieder einmal im Verein auf dem Boden vor der Tür zu schaffen machten.

Sylvia brachte dem Vater die Pfeife.

»Dank, Grasmückchen. Setz dich mal jetzt hübsch neben mich.«

»Gleich, Vaterherz, muß nur noch die Socken holen. Ein Paar ist noch zu flicken.«

»Wer hat denn das wieder verbrochen? Donner und Doria, wem gehören die Dinger?«

In komischem Zorn sah der Vater um sich, seine Blauaugen blitzten, und er stieß furchtbare Dampfwolken von sich. Schelmisch schob ihm Sylvia das Korpusdelikti zu. Er entfaltete die Socken. Plötzlich trat ein etwas erstaunter, komisch verlegener Zug in sein Gesicht. Er zwinkerte dem Töchterchen zu.

»Mach mal flink, Grasmückchen, und sag's niemand, ich glaub', die Dinger kenn' ich.«

Eine dröhnende Lachsalve der Söhne folgte.

»Wollt ihr wohl, Racker! Na, Achim und Dieter, fertig?«

»Nein, Vater,« seufzte Achim, »noch der Aufsatz.«

»Mein Extemporale,« stöhnte Dieter.

»Soll ich –« begann Sylvia.

»Nichts da, Grasmückchen, wir zwei beide gehen zu Altchen hinauf. Guten Abend, meine Herren.«

Und das Töchterchen unter den Arm fassend – Sylvia sträubte sich umsonst – verschwand Doktor Eriksen.

Oben saß Altchen beim Schein der verhüllten Lampe. Altchens Augen waren nicht mehr so stark. Etliche siebzig Jahre hatten sie gedient in Freud und Leid, zur Arbeit und zum Weinen, sie mußten jetzt geschont werden.

»Guten Abend, ihr Lieben, da seid ihr ja. Ich habe schon auf euch gewartet.«

Die weiche Stimme ging unmittelbar zum Herzen.

»Guten Abend, Mutter. Ja, da sind wir. Ich habe Grasmückchen den Schlingeln da unten entführt. Hatten noch allerlei Anliegen.«

»So recht, Arnold, so recht. Setz dich hierher, Kind, so hübsch nahe, daß ich dein liebes Gesicht sehen kann. Und nun hole dir dort die Flasche, Arnold, Anna muß sie ja hingestellt haben. Laß nur ja die Pfeife nicht ausgehen, hörst du, und dann erzähl' mir etwas von der Welt draußen, Sohn.«

»Ist noch immer so rund und so buckelig und das Menschenvolk genau so widerborstig, wie es immer gewesen ist,« lachte der.

»Glaub's wohl, glaub's wohl,« nickte die Greisin. »Aber Sohn, der zehnte ist doch allemal was wert, nicht? Und über den vergißt man dann die neun anderen. Wenigstens war's zu meiner Zeit so.«

Er griff mit seiner festen Hand nach der weichen, welken der alten Frau, die er fest umschloß.

»Und so soll's bleiben, dazu verhelfe uns Gott in Gnaden. Und auch dazu, daß ich meine sechs blonden Jungen in dem Sinn erziehe; das eine braune Mädel ist schon auf dem besten Wege dahin!«

Er nickte dem Töchterchen unendlich zärtlich zu.

Altchen strich liebevoll über den braunen, jungen Scheitel, der an ihrem Knie lehnte.

»Für das Kind sind noch alle gleich,« flüsterte sie. »Sie braucht noch keinen zehnten, um neun aufzuwiegen, was, Sylvia? – Sylvia hob den Krauskopf.

»Ja, Altchen?« Sie hatte offenbar nicht gehört, und sie sperrte dazu die braunen Augen ganz verdächtig weit und gewaltsam auf.

»Geh zu Bett, Kind, dir fallen ja die Augen zu.«

»I wo, Altchen, Einbildung!« Sylvia griff mechanisch nach den mitgebrachten Socken. Da faßte Vaters Hand danach, ein Ruck und die Arbeit lag in einem dunklen Winkel. »Daß dich! Order pariert, Grasmückchen! Fort, ins Nest! Eins, zwei, drei!«

Und Grasmückchen dehnte sich, wischte sich die verschlafenen Braunaugen aus und fand, daß Vaters Rat sehr weise sei.

Sie sagte den beiden Lieben »Gute Nacht« und huschte zur Tür hinaus.

Jörg und Heinz polterten just nach oben, die alte Lene hinterher.

Da fielen Achim und Dieter Sylvia aufs Herz.

Sie huschte die Treppe hinunter.

Da saßen die beiden, und die Arbeit schien nicht eben raschen Fortgang zu nehmen.

»Sylvia!«

»Mütterchen Sylvia!«

Wie erleichtert das klang!

Urplötzlich hatte Sylvia ganz vergessen, wie schläfrig sie war.

Nun ging's an ein Wispern und Raunen, ein Kritzeln und Knistern, ein Aufblick, ein halbes Wort und man war verständigt.

Und wußte Sylvia sonst keine Ab- und Aushilfe, wo ein Stocken kam, so saß sie nur still dabei, und schon das gab Mut.

Anderthalb Stunden, und die geplagten Jünglinge stöhnten befreit auf. Leise, leise wurden die Bücher beiseite gepackt. Leise, leise huschte es die Treppe hinan.

Als der Vater dann später aus Altchens Zimmer trat und noch einmal die Runde durchs nächtliche Haus machte, da schmunzelte er mit einem Blick in das dunkel gähnende Lernzimmer der Jungen:

»Ging also auch ohne das Grasmückchen! Ha, ha, ha, ha!« Dann war Stille im Doktorhaus am Graben.


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