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8.
Muttersorgen

Ja, das Leben hatte ins alte Geleise eingelenkt, auch bei Jörg und Heinz.

Oder vielmehr, da lenkte es in ein neues und böses Geleise ein.

Schon gleich nach den Sommerferien konnte Mütterchen Sylvia mit ihren beiden Sorgenkindern gar nicht zufrieden sein.

War es bis jetzt schwer gefallen, sie zur täglichen Arbeit zu bringen, so wollten sie plötzlich gar nicht mehr dran und schwindelten sich, wo es anging, drum herum.

Klagen kamen, kein stummer Sorgenblick, kein mahnendes Wort Mütterchen Sylvias half.

Wo sie sonst leicht in Reue und Liebe schmolzen, waren sie plötzlich verstockt und finster. Jörg fing au zu maulen, sich zu widersetzen, der kleine, weichere Heinz lag ganz in seinem Bann.

Mütterchen Sylvia schüttelte sorgenvoll den jungen Kopf. Erstmals in ihrem jungen Leben lernte sie schlaflose Nachtstunden kennen. Was für ein Geist war in ihre Jungen gefahren? Sollte sie Väterchen zu Hilfe rufen? Altchen?

Väterchen hatte gerade jetzt so viel zu tun. Und Altchens Ruhe stören? Diese wohlverdiente Ruhe nach etlichen siebzig Arbeits- und Kampfesjahren. »Denn wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen,« dies Bibelwort klang nach in Sylvias Kopf und Herz – ja, Mütterchen Sylvia war so »wissend« geworden.

Auch hatte sie ja Väterchen und Altchen nicht Tatsachen, schlimme Tatsachen zu berichten. Eine gelegentliche Widersetzlichkeit, ein rasches böses Wort war noch keine große Sünde. Jungen bleiben Jungen.

Nein sie stand ja nur vor etwas Unbekanntem, einem Hirngespinst vielleicht. Ach, leider nein, etwas war da, das fühlte sie, irgend ein unbekannter Einfluß – ein schlimmer Einfluß war im Werke. Aber sie wollte zusehen, warten, wachen – wachen über den beiden mit doppelter Liebe.

Einstweilen wollte sie Altchen und den Vater noch nicht erschrecken.

Vielleicht würde sich ja noch alles zurecht ziehen, vielleicht –

So sinnend kam Sylvia die Treppe herunter.

Da hörte sie im Eßzimmer klägliches, jammervolles Weinen.

Alf-Bübchen!

Mit drei Schritten war Sylvia an der Tür und riß die auf.

Alf-Bübchen lag vor der Tür, die ins Lernzimmer der Jungen führte. Der Kleine mühte sich, mit seiner schwachen Kraft den Spalt zu erweitern, sich durchzuschieben. Von innen wurde offenbar zugedrückt und jetzt – jetzt fuhr eine Faust von drinnen heraus, gab Alf-Bübchen einen derben Stoß, der den Kleinen bis in die Mitte des Gemachs zurückwarf, und dann wurde die Tür krachend zugeschmettert.

»Mach, daß du weiter kommst, alberner Knirps,« hatte eine Stimme dazu gerufen – Jörgs Stimme, ganz entstellt von Wut und Zorn. Sylvia stand sprachlos, bleich unter der Tür. Alf-Bübchen, so roh fortgeschleudert, hatte sich überkugelt, war einen Augenblick wie betäubt liegen geblieben und weinte nun laut und jammervoll auf.

Als Sylvia den Kleinen aufraffte, blutete er aus dem Näschen, das er offenbar am Tischbein angeschlagen hatte.

Alf-Bübchen umklammerte die Schwester.

»Sein furchtbar dräßlich böse Slingel, Jörg, Sylve-Müttersen. Haben arm tlein Alf-Bübsen so stoßen. Sein sauderhaft srecklise Terl! Oh – oh – oh – oh!«

»Still, Alf-Bübchen, still. Was hast du ihm denn getan?«

»Mis dar nists tan. Mis wollen nur auch söne Säbel sehen, mis willen –«

»Einen Säbel, Alf-Bübchen?«

»Ja, wo Jörg in Srank haben. Heinz triefen auch einen und – Sylve-Müttersen, Alf-Bübsen wollen auch söne Säbel haben.«

»Einen Säbel, Alf-Bübchen! Ich weiß nicht, wovon du redest. So, jetzt ist das Näschen wieder sauber, nun hört mein Alf-Bübchen auf zu weinen und geht hinauf zu Altchen. Sylve-Mütterchen will mit Jörg und Heinz reden.«

»Mussen dräßlis Strafe haben. Arm klein Alf-Bübsen sein sauderhaft furstbar fallen. Au – u – u – u!«

Der kleine Mann besann sich wieder auf das ihm angetane Unrecht.

»Au – u – u – u!« wimmerte er.

»Lauf zu Altchen, Alf-Bübchen, flink. Altchen erzählt eine schöne Geschichte.«

Alf-Bübchen trottete der Tür zu.

Sylvia wandte sich nach dem Lernzimmer. Sie zitterte. So roh war Jörg noch nie gewesen. Und keinen Laut des Bedauerns, als er den Kleinen weinen hörte. Nicht einmal nach ihm gesehen hatte er. Und Heinz, ihr guter, kleiner Heinz –

Da fühlte sie sich von unten umschlungen. Zwei kleine Ärmchen faßten von ihrem Kleid, was sie eben fassen konnten. Zwei blitzblaue, noch tränennasse Äuglein sahen sie flehend an.

»Sylve-Mütterchen, Jörg nicht weh tun, bitte, bitte!«

Da hob Sylvia den kleinen Mann hoch und bedeckte das liebe Gesichtchen mit Küssen. Und dann trug sie ihn hinauf zu Altchen.

»Erzähl ihm eine schöne Geschichte, Altchen. Er ist gefallen und hat sich weh getan. Aber er war ein tapferer, guter, kleiner Mann!«

Und Altchen erzählte: »Es war einmal ein großer, tapferer, guter und kluger Mann. Der war aber auch einmal klein gewesen, so klein wie Alf-Bübchen …«

Weiter hörte Sylvia nicht. Sie schloß leise die Tür und ging hinunter zu den zwei Missetätern.

Die saßen beim Schein der Lampe am Tisch, anscheinend tief in die Arbeit vergraben.

»Jörg,« sagte Sylvia, »Jörg, du hast deinem kleinen Bruder sehr weh getan.«

Jörg hob den Kopf nicht, zuckte nur die Achseln.

»Jörg, hast du kein Wort der Entschuldigung?«

»Soll uns ein andermal in Ruhe lassen, der alberne Knirps,« maulte Jörg.

»So redest du von Alf-Bübchen, Jörg, nachdem du ihn so gestoßen hast, daß er sich die Nase blutig fiel? Unser Alf-Bübchen, Mutters Vermächtnis! Jörg, Jörg!«

Ein rührender Appell lag in der Stimme.

Einen Augenblick war's, als ob sie den alten Jörg von früher wecke.

Er fuhr zusammen und hob den Kopf.

Gleich danach aber zuckte er nur wieder verächtlich die Achseln, pfiff durch die Zähne und tat, als ob ihn die ganze Sache überhaupt nichts angehe.

Heinz hielt den Kopf geduckt und warf nur scheue Seitenblicke auf den Bruder und Sylvia.

»Heinz,« wandte die sich nun an ihn, »Heinz, hast du nichts zu sagen?«

Heinz hing den Kopf nur tiefer und brummte etwas, das wie »nichts getan« klang.

»Jungen, Jungen –« ein tiefer Schmerz lag in der Stimme – »Jungen, was geht mit euch vor? Wie könnt ihr eurem Sylve-Mütterchen so weh tun?«

Die beiden zuckten sichtbar zusammen, aber sie blieben verstockt und stumm.

Sie waren dem Sylve-Mütterchen schon weit aus den Händen geglitten.

Mit Entsetzen wurde dies Sylvia plötzlich klar. Was nun tun?

Ruhe, nur Ruhe und überlegen!

»Wie weit seid ihr mit euern Aufgaben, Jungen?«

Sylvia zwang sich gewaltsam zur Ruhe.

»Bald fertig!«

Kurz und knapp.

»Braucht ihr keine Hilfe?«

»Nein!«

Noch schroffer.

Da wandle sich Sylvia und ging hastig hinaus. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.

Was nun?

Ohnmächtig, ratlos stand die junge Sylvia diesem Wechsel gegenüber.

Nun mußte sie doch zum Vater flüchten. – –

Es war beim Abendessen. Vater hatte die Zeitung neben sich liegen und warf ab und zu einen Blick hinein.

Die Unterhaltung hatte nicht recht in Fluß kommen wollen. Das Grasmückchen zeigte wohl sein altes, liebes Lächeln, aber es war doch von etwas so erfüllt, daß es das Reden darüber vergaß. Jörg und Heinz waren jetzt eigentlich meist stumm. Es fiel dem Vater heute zum ersten Male so recht auf. Er selber war müde. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich.

So sah er dann und wann in die Zeitung. – Plötzlich fesselte etwas seine Aufmerksamkeit. – »Hallo, da hört mal!«

.

Und er las: »Über einen sonderbaren, noch unaufgeklärten Vorfall, der sich diesen Nachmittag ereignete, bringen wir nur eine kurze Notiz und behalten uns weitere Mitteilungen vor. Der Sohn des Fabrikanten B. wurde von zweien seiner Mitschüler, aus einer starken Gesichts- und einer Halswunde blutend, in das Haus seiner Eltern gebracht. Der Patient selbst wie seine Freunde verweigerten jede Auskunft über die Ursache der Verwundung. Wie es heißt, soll sich bei dem Verletzten starkes Fieber eingestellt haben. Der Hausarzt, Doktor Müller, nimmt die Sache nicht leicht.« – »Da soll denn doch! Was die Bengel wohl für Allotria getrieben haben mögen. Und nicht Farbe bekennen wollen! Die sollten mir kommen. Sind's Kameraden von dir, Jörg, was? Weißt du etwas von der Sache?«

Jörg war in die Höhe gefahren.

Irrte sich Sylvia oder zitterte er wirklich?

Er stand vom Tisch abgewendet. Sein Gesicht konnte man nicht sehen.

Er murmelte etwas vor sich hin. Es konnte ebensogut ja wie nein bedeuten als Antwort auf des Vaters Frage.

Es mußte aber doch wohl nein gewesen sein. Denn gleich danach machte er kehrt und stolperte auf die Tür des Lernzimmers zu.

»Noch zu arbeiten,« sagte er dazu. Die Stimme klang sonderbar rauh.

Heinz schlich sich hinter dem Bruder her.

Der Vater sah ihnen nach.

»Woher auf einmal dieser Eifer! Kaum den Löffel gewischt und schon wieder ans Büffeln! Der Jörg gefällt mir nicht, Grasmückchen. Ist er nicht riesig maulfaul und verdrossen? Der Heinz macht's ihm nach, offenbar. Da müssen wir mal dazwischen fahren, Kind, mußt die Bengel wohl ein bißchen forscher anfassen, was?«

Sylvia hob ihm ihr tief erblaßtes Gesichtchen zu. Ein unendlich gequälter Blick traf ihn.

Nun war ja wohl der richtige Zeitpunkt, auch ihren Zweifeln und Sorgen Ausdruck zu geben.

Und doch!

Was faßte sie nur plötzlich so eiskalt an? Hatte nicht Alf-Bübchen von einem Säbel geredet? Einem Säbel, den Jörg im Schrank habe? Einen Säbel!

Die Verwundung des Jungen – Jörgs sichtliches Erschrecken!

O, sah sie denn Gespenster?

»Träumst du, Grasmückchen?« fragte eben der Vater. »Seit einer Viertelstunde verlange ich Feuer, und du sitzt nur immerzu da und starrst mich wie entgeistert an. Was gibt's, Kind?«

»Jörg – Heinz – ich –«

Sylvia stotterte und stammelte. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

Der Vater lachte gutmütig.

»Weil ich was vom forschen Anfassen gesagt habe, he? Das ist dir in die Glieder gefahren. So, so! So 'n arm, klein, bang, scheu Grasmückchen!«

Er schlang den Arm um Sylvia.

»Und nun rasch Feuer, Kind. Dein alter Vater hat eine Zigarre wohl verdient. Er hat Ruhe nötig. Der Tag heute, er war wahrlich recht heiß.«

Sollte ihm Sylvia jetzt mit ihren Zweifeln, ihren Sorgen kommen? Ihm die wohlverdiente Ruhe stören?

Und am Ende waren's wirklich bloß Gespenster, die sie plagten.

War das veränderte Wesen der Jungen nicht vielleicht bloß eine natürliche Wirkung der Flegeljahre, die sich allmählich geltend machten?

Mußten notwendig schlimme Einflüsse – irgend etwas Schreckliches im Werk sein?

Sie quälte sich sicher umsonst. Alles rückte sich von selbst wieder zurecht. Ihre lieben, lieben Jungen – Vaters, Mutters Söhne, die konnten keine krummen Wege gehen. Sicher, sicher nicht!

Andern Morgens wußte sie's besser!

Professor Holle war gekommen. Erregt, tiefernst.

Er hatte nach Doktor Eriksen gefragt. Der war schon auf Praxis gefahren. So ließ er sich zu Sylvia führen.

»Wissen mußt du's doch, Kind,« hatte er traurig gesagt. »Am Ende hört's der Vater noch besser durch dich. Ersparen kann ich dir's nicht.«

Sylvia zitterte so, daß er sie neben sich aufs Sofa niederzog. Er faßte ihre beiden Hände.

»Mut, Kind, Mut. So schlimm, wie du denkst, ist die Sache nicht.«

Sylvia konnte nicht sprechen. Sie sah ihn nur flehend an. Und er kürzte die Qual.

»Du hast wohl auch gestern in der Zeitung die Notiz von der Verwundung des Jungen gelesen?«

Sylvia nickte.

»Die Beteiligten verweigerten anfangs jede Auskunft über die Ursache. Heute morgen nun haben wir sie zum Reden gebracht. Und Sylphchen –«

Sylvia war zusammengezuckt, wie von einem Schuß getroffen.

»Jörg!« schrie sie auf.

Beruhigend drückte er ihre Hände. Er nickte vor sich hin.

»Jörg ist allerdings auch bei der Sache beteiligt, Jörg und Heinz. Aber nicht so, wie du meinst, Kind. Höre mir ruhig zu. Jungen aus der Sekunda, Tertia und teilweise sogar aus Quarta, zwanzig etwa, scheinen, wer weiß durch was und wen angeregt, eine Art Verbindung nach akademischen Mustern gegründet zu haben. Es hat sich da allerlei ergeben, was sehr zu bedauern ist. Wir Lehrer merkten lange, daß irgend etwas im Werk sein mußte, wir hatten große Klagen in jeder Beziehung. Nun liegt's zu Tage. Georg B., eben der Verwundete, scheint der Haupträdelsführer zu sein. Er ist der Präses der Verbindung. Sie sind von Zeit zu Zeit in einer verrufenen Winkelkneipe zusammengekommen, haben dort geraucht und gezecht. Wie sie zu Hause so gänzlich unentdeckt bleiben konnten, ist ein Rätsel.«

Sylvia zuckte zusammen. Professor Holle sah sie mitleidig an.

»Das soll kein Vorwurf für dich sein, Kind! Du siehst, es ist allen Müttern, nicht dir allein so ergangen. Aber sei dem, wie ihm wolle. Nun gingen die Jungen auch noch einen Schritt weiter, zur Mensur. Wie sie sich Waffen verschafften, ist noch unklar. Georg B.s Verwundung war die erste Folge. Der Junge liegt schwer krank danieder. Sein Gegner, Alfred H. – nicht Jörg, Sylphchen – hat eine leichte Schramme. Hoffentlich gelingt es, den Verwundeten wieder auf die Beine zu bringen. Damit wären denn ja wohl die schlimmsten Folgen abgewendet. Schlimme Folgen gibt's leider noch genug, Kind. Damit komme ich nun zu der Ursache meines Besuchs. Es ist nämlich wohl unumgänglich, daß die Teilnehmer an der Verbindung aus der Schule gewiesen werden. So schwer es uns fällt, wir Lehrer können nicht anders handeln. Ich sage dir das gleich, damit du auf alles gefaßt bist. Es ist eine böse Geschichte, Sylphchen, das ist nicht zu leugnen. Wirtshausbesuch ist an und für sich verboten, und nun noch die Verwundung!«

Sylvia weinte, als solle ihr das Herz brechen.

»Jörg, Heinz – Mutter –« war alles, was sie stammeln konnte.

Professor Holle strich ihr leise über den Scheitel.

»Ja, Kind, es ist schwer, das fühle ich dir nach. Aber Sylphchen, solche Erfahrungen müssen zuweilen die besten, sorgsamsten Eltern machen. Du hast dir keine Pflichtversäumnisse vorzuwerfen, das weiß ich. Nun mußt du durch, Sylphchen, mit Liebe und Geduld. Vater wird – er muß Ernst und Strenge zeigen. Du darfst ihn nicht dran hindern. Aber mildern darfst du, lindern. Das ist das schöne Vorrecht der Frau. Verständige also den Vater, Kind, und laß Essen für die Jungen zur Schule schicken. Wir halten die Beteiligten bis nach geschlossener Untersuchung dort alle in Gewahrsam. Bis zum Abend wird wohl alles beendet sein. Mut, Kind, Mut! Schlecht sind die Jungen nicht. Sie haben aus Leichtsinn und Dummheit gefehlt. Wer weiß, wozu dieser Sturm, der nun über sie hinfährt, gut ist. Kopf hoch, Sylphchen, sollst sehen, es werden noch tüchtige Männer werden!«

Noch einmal strich er über Sylvias gesenkten Scheitel und war gegangen. Sylvia war allein mit ihrer Last.

Jörg, Heinz! Das also war die Ursache ihrer Veränderung! Schlimmen Einflüssen, bösen Lockungen waren sie erlegen.

Hatte sie dennoch irgendwie ihre Pflicht versäumt? Trotz allem zu viel nur an sich gedacht in letzter Zeit?

Wäre es so weit gekommen, wenn Mutter noch lebte? Ach, Mutter, Mutter!

Sie erlag fast dem auf sie einstürmenden Jammer.

Da strich ihr ein kleines weiches Händchen übers Gesicht.

»Sylve-Müttersen nist weinen, nist so srecklich furstbar traurig sein. Alf-Bübsen haben dich auch so–o–o lieb.«

Sie legte das gramvolle Gesicht auf das Schelmengesichtchen, das zu ihr aufsah.

»Alf-Bübchen wird Mütterchen Sylvia nie Kummer machen, versprich mir's!«

»Mis nie nist Tummer machen. Mis furchtbar dräßlich brav sein danze Leben lang.«

Alf-Bübchen warf die Löckchen zurück, schlang die Ärmchen um Mütterchen Sylvias Hals und erwürgte sie fast vor Zärtlichkeit.

Vaters Wagen fuhr vor. Sylvia zitterte plötzlich so, daß Alf-Bübchen erschreckt fragte: »Warum du so wackeln?«

»Lauf zu Altchen, Alf-Bübchen!«

Er wollte Einwendungen machen, ein Blick in Mütterchen Sylvias Sorgengesicht ließ ihn verstummen.

Scheu fuhr er mit der kleinen Hand drüber hin und trippelte wortlos davon.

Sylvia richtete sich auf. Ein zitternder Atemzug, und dann fühlte sie Kraft.

Was sein mußte – mußte sein. Sie stand vor dem Vater. »Väterchen ich bringe Schweres. Wir müssen beide stark sein – beide!«

Und dann berichtete sie ohne Stocken.

Den starken Mann traf der Schlag schwer. »Die Unglücksjungen! Ausgewiesen! Daß ich das erleben muß!«

Nun hatte Sylvia zu trösten. »Sie sind nicht schlecht, Vaterherz. Nur verleitet, nur schwach. Wir holen sie uns zurück in Geduld, in Liebe. Sollst sehen.«

»In Ernst, in strenger Zucht, sage ich.« Vaters Stimme klang grollend, tief verletzt. Sylvia senkte den Kopf.

»Irgendwo muß ich gefehlt haben, Vater, das sehe ich wohl. Aber wo – wo?«

»Du hast redlich das Deine getan, Grasmückchen. Über seine Natur kann der Mensch nicht hinaus. Du gabst endlose Treue und Liebe. Die beiden brauchen Ernst und Strenge.

Die ihnen nun zu zeigen, ist die höchste Liebe, die ihnen zu teil werden kann, daran müssen wir beide festhalten.

Sie gehören unter stramme Zucht, wenn das krumme Holz wieder grad wachsen soll. Ich kann ihnen die nicht angedeihen lassen bei meiner Praxis. Du nicht bei deiner Jugend. So müssen wir sie in fremde Hände geben und –«.

»Vater, nur das nicht! Was würde Mutter sagen!«

Sylvia war außer sich.

»Dasselbe wie ich, Kind, verlaß dich drauf. Und nun mach mir das Schwere nicht schwerer. Sei tapfer, Sylvia, es muß sein!«

Sie senkte das junge Haupt.

»Ich war wohl allzu stolz auf meine sogenannte Pflichterfüllung. Ich habe die Lehre verdient.«

»Mein Grasmückchen, und was soll ich, der Vater, sagen?«

Er beugte sich zu ihr nieder, und sie schlang die Arme um seinen Hals.

»Wir müssen durch, Vaterherz!«

»Das müssen wir, Grasmückchen, das müssen wir. Geh du zu Altchen! Ich will nach den Unglücksjungen sehen.«

Beide gingen sie ihren schweren Gang. –

Es war bei dem Spruche geblieben, den Professor Holle schon angedeutet hatte.

Alle an der sogenannten Verbindung beteiligten Schüler des Gymnasiums wurden ausgewiesen. Mit ihnen Jörg und Heinz.

Der schwerverwundete Junge genas glücklicherweise allmählich. So war das Schlimmste abgewendet. Aber der Leichtsinn der Söhne brachte über viele Familien großes Leid.

Böse dunkle Tage kamen auch für das Doktorhaus, für die beiden Missetäter dort wie für deren Lieben.

Jörg und Heinz trugen aufrichtig schwer an ihrer Schuld, namentlich als sie die Wirkung auf die Lieben daheim sahen.

Am Abend des Unglückstags hatte Sylvia lange an den Betten der beiden gesessen.

Vaters Spruch war gefallen, sie kannten ihr Urteil: Verbannung aus der Heimat.

Jörg hatte beide Arme um Sylvia geschlungen und den Krauskopf an der Schwester Brust geborgen. Ruckweise, abgerissen brach es aus ihm vor: »Heute zum ersten Male nach langer Zeit bin ich wieder ruhig, Sylve-Mütterchen. Jetzt brauche ich nichts mehr zu vertuscheln und kann dich wieder lieb haben. Schlecht bin ich nicht, Sylve-Mütterchen, wahrlich nicht, der Heinz auch nicht. Wir sind so hineingekommen und haben uns zuerst weiter gar nichts dabei gedacht. Dann – puh, Sylve-Mütterchen, ist mir's manchmal erbärmlich gewesen. Das Bier und die Zigarren, puh! Ich bin froh, daß ich's los bin. Das nächste Mal hätte ich mich schlagen müssen, den Säbel hab' ich schon und – Sylve-Mütterchen, glaubst du, daß wir wirklich fort müssen, daß Vater dabei bleibt?«

Angstvoll hing sein Blick an der Schwester.

Die nickte leise, ernst.

»Gewiß, Jörg, Heinz, es muß sein – es muß!«

Jörg biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten, ein paarmal schluckte er, und dann warf er den Kopf zurück. Heinz weinte leise vor sich hin.

»Dann muß es eben sein,« sagte jetzt Jörg fest. »Du sollst sehen, Mütterchen Sylvia, wir machen es wieder gut.«

»Das soll ein Wort sein, Jörg, mein Junge. Komm, Heinz, gib Mütterchen Sylvia einen Kuß. Weine doch nicht so, Junge. Strafe muß sein. Du willst es doch auch wieder gutmachen?«

Heinz nickte heftig und weinte noch heftiger.

»Aber bei dir bleiben, Mütterchen Sylvia, bei dir bleiben.«

Fast hätte Sylvia mitgeweint. Aber sie bezwang sich, hüllte die beiden weich und warm in ihre Decken, wie sie es in den Kindertagen zu tun gewohnt war.

Und wie in den Kindertagen streckten die beiden sich wohlig und hoben zum Schluß den Mund zum Gutenachtkuß.

Und wie in den Kindertagen sagten sie dann beide ihr kleines Gebet und schliefen zum ersten Male, seit sie so große Sünder waren, wieder beruhigt und friedlich wie ganz kleine unschuldige Kinder.

Mütterchen Sylvias Liebe hatte sie sich wieder herübergerettet aus den wilden, friedlosen Wogen der Schuld an den sicheren Strand der Reue und des Friedens.

Besser machen! Gutmachen! Davon waren sie ganz durchdrungen.

Der Abschied vom Elternhaus kam dann sehr schnell.

Sie sollten in der nächsten größeren Stadt bei einem bekannten Professor untergebracht werden.

Sylvia begleitete sie dahin.

Totenblaß, aber tränenlos hatte Jörg vor dem Vater gestanden.

»Leb wohl, Jörg, mein Junge, ich habe dein Wort. Du wirst mir keine Schande machen.«

»Vater, vertraue mir!«

Und er hatte des Vaters Hand fest gegen seine Brust gepreßt und war fortgestürzt.

Der kleine, weichere Heinz zerfloß in Tränen.

Altchen kam die Trennung schwer an. Sie war für einen Hauslehrer gewesen. Sylvia aber stand fest auf des Vaters Seite.

»Strafe muß sein, Altchen, lieb Altchen, auch für mich! Meine Jungen werden mir namenlos fehlen. Und daß andere gutmachen müssen, was ich versah, das tut bitter, bitter weh.«

Nun hatte Altchen an Sylvia zu trösten und vergaß drüber ihr eigenes Leid.

Alf-Bübchen konnte sich in die Trennung von den beiden Brüdern gar nicht hineinfinden.

»Sein dar nix schon droße Mannen, Jörg und Heinz, brauchen nix dehen, wie Derhard und Achim und Dieter. Sein Alf-Bübsen seine Tameraden. Alf-Bübsen wollen nix danz allein bleiben.«

»Aber, Alf-Bübchen, du hast doch Altchen und mich und Lene und Anna und –«

»Alf-Bübsen sein auch Mann, Alf-Bübsen wollen nix nur Mädels spielen und –«

Die Idee von Altchen und Lene als »Mädels« war zu drollig.

In allem Leid mußte Sylvia lachen.

»Aber, Alf-Bübchen, wie unhöflich! Sylve-Mütterchen ist sehr gekränkt.«

»Sylve-Müttersen nix tränkt. Alf-Bübsen Sylve-Müttersen so–o–o lieb haben.«

»Drum also!«

Der Frieden war hergestellt.

Aber als der Abschied dann wirklich kam, weinte Alf-Bübchen heiße, heiße Tränen.

Der Wagen stand vor der Tür, der die Reisenden zur Bahn bringen sollte. August knallte schon eine Weile mit der Peitsche.

Endlich stolperten Jörg und Heinz aus dem Hause, blind vor Tränen. Sylvia folgte.

Lene und Anna schleppten noch Handgepäck herbei.

Man hatte Alf-Bübchen oben bei Altchen gelassen. Vater war auf Praxis.

Sie stiegen ein, der Schlag fiel zu, die Pferde zogen an.

Da klang eine kleine jammernde Stimme vom Haus her: »Alf-Bübsen wollen Jungens noch mal sehen. Alf-Bübsen wollen noch was sagen!«

Eine kleine Gestalt flog mit ausgebreiteten Ärmchen hinter dem Wagen her, die Blondlöckchen wehten im Winde.

Ehe die Pferde noch stehen konnten, war Jörg über den Schlag gesprungen und hielt Alf-Bübchen in den Armen.

»Alf-Bübchen!«

»Du, Jörg,« flüsterte der Kleine wichtig und strich dem Bruder übers Gesicht, »du, Jörg, Alf-Bübsen nix verdessen. Da, du haben noch was senkt.«

Es war die Hälfte seiner Frühstücksemmel, ganz verknabbert und angebissen. Aber Jörg und Heinz verwahrten sie noch lange.

Anna war hinter dem kleinen Mann hergeeilt und hob ihn nun in die Arme. Er weinte laut und streckte die Ärmchen nach dem davonfahrenden Wagen aus.

Der bog um die Ecke. Jörg und Heinz, begleitet von Sylvia, waren fort.

Die Reise verlief sehr trübselig, trübselig auch die Ankunft am neuen Ort.

Wohl war der Herr Professor ein freundlicher, zutrauenerweckender Herr, die Frau Professorin zeigte eine liebe, mütterliche Art. Wohl schienen die Kameraden, drei an der Zahl, frische, frohe Jungen, waren die Räume, die Jörg und Heinz nun Heimat sein sollten, behaglich und traut. Die beiden standen aber wie verloren inmitten all des Neuen und sahen mißtrauisch mit großen, erschreckten Augen um sich.

Sie wichen Mütterchen Sylvia nicht von der Seite.

Einen Tag wollte die bleiben.

Dann kam der Abschied. Jörg und Heinz standen mit dem Professor vor dem zur Abfahrt bereiten Zuge. Sylvia saß drin. Sie schluckten gewaltsam an ihren Tränen, sie wollten »Männer« sein.

Mütterchen Sylvia streckte beiden noch einmal die Hände hin. »Meine Jungen!«

»Mütterchen Sylvia,« schluchzten da die beiden, »ach Mütterchen Sylvia!« Sie standen auf dem Trittbrett oben und umfaßten die Schwester. Alle Manneswürde war vergessen.

»Denkt immer an das, was ihr versprochen habt,« flüsterte Sylvia.

Sie nickten, reden konnten sie nicht, aber die Augen sagten, was dem Munde unmöglich war. Es war ein fester, tiefer Blick, mit dem sie der Schwester ins Auge sahen.

»Gleich geht der Zug, Jungen, flink herunter!«

Mahnend rief's der Herr Professor, und gehorsam sprangen sie ab. Der Schaffner puffte die Türen zu. Ein Ruck lief durch den Zug – ein Pfeifen – die Räder kreisten – fort ging's.

Dort fuhr der Zug, dort winkte Mütterchen Sylvia – dort verschwand ihr liebes, tränennasses Gesicht.

»Und nun mutig dran, Jungen. Ihr habt viel gutzumachen, und das will fest und frisch angepackt sein. Flink die Augen gewischt, die Kopfe hoch! Hinein ins neue Leben!« Aufmunternd sagte es der Herr Professor.

Sie hoben die Köpfe und wischten die Augen, und sie gingen mit frohem Mut ins neue Leben. Und die um sie waren, machten es ihnen leicht.

 

Daheim stand der Vater auf dem Bahnsteig und wartete auf sein Kind.

Sylvia streckte das lächelnde Gesicht zum Fenster heraus, sie winkte mit der Hand.

»Du hier, Vaterherz? Wie lieb von dir!« Da stand sie auch schon vor ihm.

Er sah ernst auf sie nieder. »Ich bringe nichts Gutes, Grasmückchen.«

Sie erschrak. »Alf-Bübchen?«

»Der Kleine ist wohl, Grasmückchen, aber unser Achim – hier, lies!«

Er reichte ihr eine Depesche hin. Sylvia zitterte so, daß er das Papier entfalten mußte.

»Achim sehr krank. Wenn sofort abgeholt, kann er noch transportiert werden, sagt der Arzt. Dieter.« So las er.

»Wann geht der Zug, Väterchen?«

»Grasmückchen, du wolltest – du wolltest wirklich sogleich wieder reisen? Kind, das geht über deine Kraft.«

»Der Zug, wann geht er ab, bitte, wann?«

»In zwei Stunden schon, Kind, eben drum. Du könntest dich kaum daheim für die längere Fahrt vorbereiten. Ich kann leider nicht fort. Kommerzienrat Eilers liegt schwer krank, und die alte Webern – Kind, ich kann dich nicht so ohne weiteres wieder fort lassen.«

»Und Achim?«

Doktor Eriksen senkte den Kopf.

»Unser Achim freilich –«

»Schnell, Väterchen, heim! Einen warmen Mantel brauch' ich, und Altchen muß ich sehn und Alf-Bübchen. Unser Achim, Vaterherz, unser Achim!«

»Wohl, Grasmückchen, wohl!«

»Du mußt ihn unter den Händen haben, Vaterherz, dann wird alles gut.«

»Das gebe Gott, Grasmückchen!«

Still fuhren sie zusammen heim, und Sylvia hielt des Vaters Hand.

Altchen breitete der Enkelin die Arme entgegen.

»Kind, Kind, da sitzt nun die Alte und kann nichts – nichts tun!«

»Die Alte hat ihr redlich Teil getan, lieb Altchen, und tut in Liebe, was sie kann.«

»Kind, Herzenskind, es ist so schwer, tatenlos stillzuhalten.«

»Ich weiß, Altchen, ich weiß. Du nimmst das schwerste Teil auf dich. Gib mir ein Segenswort mit auf den Weg, daß ich unseren Achim in deine Arme führen darf.«

»Ach, Herzenskind, tu deine Pflicht, und der Herr behüte dich!«

Und Sylvia tat ihre Pflicht. Zwei Stunden danach dampfte sie wieder davon auf dem Wege nach Neiße, wo Achim und Dieter nun schon geraume Zeit auf Kriegsschule waren.

Es war eine lange, böse Nachtfahrt in Gesellschaft banger, trüber Gedanken.

Wie würde sie Achim treffen?

Dieter stand an der Bahn.

»Ich wußte es ja, daß Mütterchen Sylvia kommen würde!«

»Und Achim, Dieter?«

»Ja, unser Achim, Sylve-Mütterchen, komm und sieh selbst.«

Bei Achim fand sie den Arzt, der von Dieter verständigt worden war.

Achim sah fiebrig, hager und schmal aus und streckte Sylvia eine heiße Hand hin.

»Sylve-Mütterchen, heim!«

»Geduld, Achim, erst muß ich mit dem Herrn Doktor reden.«

Achim fuhr auf.

»Heim, ich muß heim, hörst du?«

Es klang herrisch, drohend.

Sylvia sah ihn ernst an.

»Jetzt legst du dich ganz still hin, Achim. Erst will ich hören, was der Herr Doktor sagt. Was er bestimmt, geschieht.«

Geduldig wie ein Lamm legte sich Achim in seine Kissen zurück. Sylvia ging mit dem Arzt ins Nebenzimmer.

»Bravo, Kind, das ist die rechte Art mit unserem Patienten. Den Händen kann ich ihn unbesorgt anvertrauen, merke ich.«

Er erklärte dann Achims Krankheit für einen hochgradig gastrischen Zustand, der möglicherweise typhös werden könne. Noch sei es nicht so weit, und deshalb der Kranke noch transportfähig. Jedenfalls aber, wenn er heimgebracht werden solle, was bei seiner eben in dieser Beziehung nervösen Reizbarkeit sicherlich das bessere sei, dann sei höchste Eile dringend not.

»Ich rate zu sofortiger Abreise, Kind,« schloß der alte, freundliche Herr. »Ich weiß, es ist eine schwere Aufgabe für Sie, aber wie gesagt, wenn Sie den Bruder sicher heimbringen wollen, ist es so das beste.«

Sylvia zögerte nicht.

Kurze Zeit danach saß sie mit Achim im Zuge und eilte der Heimat zu.

Der Kranke war still und fügsam geworden unter Mütterchen Sylvias Obhut. Eine wohlige Ruhe, ein wonniges Gefühl des Geborgenseins hatte ihn überkommen.

Heim, nur heim!

Daheim war Ruhe, Frieden – war Genesung!

Ja, daheim war wirklich Genesung. Doktor Eriksen durfte den Sohn nach langen, bangen Leidenswochen für gesund erklären, Mütterchen Sylvia sich ihren Jungen mit Geduld und Liebe zurechtpflegen.

Als Weihnachten herankam, sah Achim dem Fest aus frohen, klaren Augen entgegen. Und wenn die auch in einem hageren, abgezehrten Gesicht standen, das machte nichts. Lenes Kraftbrühen und Sylvias Sorgen und Mühen würden den blassen Wangen bald wieder Farbe und Fülle geben.

Und Weihnachten kam immer näher.

Gerhard wollte seines Examens wegen, das im Frühjahr sein sollte, zum Feste diesmal nicht kommen. Er gedachte, seinen Doktor gleich nach vollendetem Examen zu machen, und brauchte deshalb noch eine ernste, stille Arbeitszeit.

Dieter bekam keinen Urlaub. Jörg und Heinz sollten fort bleiben, so wollte es der Vater, und Sylvia wagte nicht, dagegen zu reden.

Es würde also wohl ein sehr stilles Fest werden.

Achim und Alf-Bübchen samt Altchen hatten große Geheimnisse.

Statt mit Freuden bewillkommt zu werden, wenn sie das lachende Gesicht zur Tür hereinstreckte, erregte Sylvias Erscheinen jetzt fast stets einen Sturm des Entsetzens.

»Draus bleiben, bitte!«

»Anklopfen!«

»Nicht umsehen!«

»Naus dehen!«

So lautete meist der Empfang.

Sylvia verschwor lachend das Wiederkommen und beklagte sich abends beim Väterchen.

»Sie beißen dein Grasmückchen noch zum Hause hinaus, Vaterherz. So 'n liederliches Kleeblatt!«

»Pst, Grasmückchen, wie unhöflich! Hättest du noch Dreibund gesagt. Dann bildeten wir beide den Zweibund und hielten Widerpart.«

»Ach was, ich bin für eine allgemeine Vereinigung, Väterchen, das taugt mehr.«

»Seid umschlungen Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt! Bravo, Sylve-Mütterchen,« rief Achim.

»Sylve-Müttersen, du müssen danz furstbar überrascht werden,« sagte Alf-Bübchen jeden Abend beim Zubettgehen.

Und die Augen des kleinen Mannes leuchteten, er warf die Ärmchen um der Schwester Hals und erwürgte sie beinahe. Aber er verriet nichts.

»Alf-Bübsen sein Mann, nix alte Wass-Weib,« sagte er wichtig und legte das Fingerchen auf den Mund. Er kopierte Bruder Achim offenbar.

Die Geheimniskrämerei in Altchens Reich wurde immer schlimmer. Seit ein paar Tagen stand im hintersten Winkel ein riesiger Wandschirm, der sichtlich Wichtiges barg.

Solange Sylvia im Zimmer war, patrouillierte Alf-Bübchen davor hin und her, als sei er ein staatlich bestellter Hüter.

Es war ordentlich komisch, die mißtrauischen Augen zu sehen, mit denen er das Sylve-Mütterchen bewachte.

Sylvia hatte auch ihre Geheimnisse drüben im großen Saal, und die hütete sie mit gleicher Vorsicht.

Für jeden der fernen Brüder war ein Kistchen abgegangen, das die Liebe und die Gabe von daheim brachte.

Und jetzt war Heiligabend da.

Alf-Bübchen hatte am Morgen früh schon mit wichtiger Miene jedem der Hausgenossen einen Zettel überreicht, worauf eine Einladung zum Nachmittag stand. Um sechs Uhr in Altchens Zimmer.

Der kleine Mann strahlte und sagte jedesmal: »Du müssen danz pünktlich tommen. Werden danz furstbar dräßlich sön! Mis sein auch dabei!«

Alle, Sylvia voran, zerbrachen sich die Köpfe, was die drei nur vorhaben könnten.

Vater versprach, so gut es sich tun ließe, pünktlich zu sein. Und dann ging jeder an die Pflichten, die der vielgeschäftige Tag ihm brachte.

In Altchens Zimmer war geheimnisvolles Rumoren von früh an. Sylvia war der Eintritt heute gänzlich untersagt.

Und Sylve-Mütterchen hatte selber so viel zu tun, daß sie gar keine Zeit zur Neugier fand, selbst wenn sie gewollt hätte.

Sechs Uhr!

Klingend, tiefen Tons hallte der Schall der altertümlichen Dielenuhr durchs Haus.

Lene streckte den feuerroten Kopf zur Küchentür heraus. Ihre Haubenbänder starrten in schier bedrohlicher Steife und Weiße. August, im Sonntagsrock, schob sich linkisch und verlegen hinter ihr her; Anna, ebenfalls im Festgewand, erschien oben an der Treppe.

Sylvia pochte an Väterchens Tür.

»Vaterherz, 's ist sechs Uhr, der wichtige Augenblick ist da!«

»Gleich, Grasmückchen, gleich!«

Dann stand auch er bereit, den Arm durch Grasmückchens Arm geschoben, und alle harrten des Zeichens zum Einlaß vor der geheimnisvollen Tür.

Drinnen hantierte es noch geschäftig herum.

Man hörte Alf-Bübchens Wisperstimmchen, und dann war alles eine Weile still.

Jetzt setzte es in reinem, vollen Klang ein:

»Vom Himmel hoch, da komm' ich her
Und bring' euch wunderbare Mär.«

Es war Achims Bogenstrich. Achim hatte als Knabe schon gerne und viel Geige gespielt. Anna hatte die Tür geöffnet.

Unwillkürlich blieben alle wie festgewurzelt, denn was sie sahen, war ein wirklich rührend fesselndes Bild.

Eine hohe, schlanke Fichte füllte den Hintergrund des Gemachs. Unzählige Lichter strahlten von ihren Zweigen. Davor auf erhöhtem, mit Tannengrün verkleidetem Tritt stand Alf-Bübchen im weißen, wallenden Gewand, so wie man die Engelein abgebildet sieht. Flügelein waren ihm angeheftet, einen Reif trug er im Blondhaar und hielt einen schimmernden, strahlenden Lilienstengel in Händen.

Die lieblichzarte Schönheit des Kindes wirkte so überirdisch verklärt, daß Sylvia förmlich angstdurchbebt des Vaters Arm fester faßte.

Auch den Vater durchrieselte etwas, dem er keinen Namen hätte geben können. Beruhigend strich er über Sylvias Arm.

Lene, Anna und August hielten den Atem an.

Achims Geigenspiel verklang.

Da winkte Alf-Bübchen mit dem Fingerlein.

Es stimmte so niedlich zu des Engeleins Rolle. Fast andachtsvoll folgten sie dem stummen Wink und traten ein.

Altchen im Sessel hinten hatte die Hände gefaltet und schaute still nach dem Engelein.

Und nun erklang ein kleines, silbernes Stimmchen:

»Vom Himmel hoch, da tomm' is her
Und bring' eus wunderbare Mär,
Denn Dott der Herr hat mis desandt
Als Bote in der Menschen Land.

Soll tünden, daß Herr Jesus Trist,
Der Herr für eus deboren ist,
Zu lösen eus mit starker Lieb'
Aus Not und Tod und Sündentrieb.

Und weil die Lieb' so stark und treu,
So tommt sie jedes Jahr aufs neu
Und pocht ans Herz von droß und tlein:
Tu weit dis auf und laß mis ein.

Drum da die Lieb' heut feiert Fest,
Sie es sich auch nist nehmen läßt,
Daß sie desdleisen wie im Deist
So auch in Taten sich erweist.

Was Liebe hier für eus ersann,
Nehmt fröhlich es und freundlich an,
Und Müttersen Sylvia soll zu den Daben
Auch noch den Weihnachtsengel haben!«

Damit schwieg das silberne Lispelstimmchen. Und der kleine Weihnachtsengel trippelte eilfertig die Stufen herunter, sich in Mütterchen Sylvias ausgebreitete Arme zu stürzen.

Achim fing ihn auf.

»Halt, Weihnachtsengel, erst hübsch die Pflicht getan.«

Und Weihnachtsengelein besann sich, trippelte unter den Baum, wo Päcke aufgestapelt lagen, und reichte jedem sein Teil, das Gesichtchen von schelmisch-freundlichem Lächeln verklärt. Die dicke Lene und Anna waren ganz gerührt. Lene griff nach dem Händchen, das ihr die Gabe bot, und drückte einen schallenden Schmatz darauf.

»So e Engelche! Weiß Gott, wie e leibhaftig Engelche geradewegs vom Himmel erunner.« Weihnachtsengelein stand vor Mütterchen Sylvia und reichte ein kleines Päckchen hoch.

»Du aufmachen, Sylve-Mütterchen.«

Sylvia griff danach.

»Was haben wir denn hier? Laß mal sehen Engelein.«

Ein Kästchen von Leder kam zum Vorschein, so eins, das Schmuck zu bergen pflegt.

Sylvia öffnete.

Auf weißem Samt blinkte ihr ein Kleeblatt aus Email entgegen. Ein ziemlich großes dreiblätteriges Kleeblatt und ein Brillant funkelte als Tautropfen inmitten.

»Du müssen umdrehen!«

Sylvia wandte das Kleeblatt.

Auf der Rückseite blickten ihr die drei wohlgelungenen, winzigkleinen Köpfe von Altchen, Achim und Alf-Bübchen entgegen.

»Vom liederlichen Kleeblatt«, zog sich als Inschrift drum herum.

»Sein sauderhaft sön, nicht, Sylve-Müttersen? Mis sein auch bei, aber nix Alf-Engelein, sein Alf-Bübsen.«

»Und das soll ich haben?«

Alf-Bübchen strahlte und nickte.

Sylvia konnte sich nicht satt sehen, konnte nicht genug danken.

Jeder hatte etwas bekommen, das ihn sehr freute – die kleinste, unbedeutendste Gabe hätte gefreut, so vom strahlenden Weihnachtsengelein geboten.

Sie konnten die Blicke nicht von dem Kleinen wenden, der die leibhaftige Verkörperung seiner Rolle war.

So sehr, daß der Vater und Sylvia es wieder und wieder fast unheimlich empfanden.

Sylvia wollte des Gefühls mit Gewalt Herr werden.

»Und nun sagt mal, ihr drei Verschwörer, wie ihr das alles fertig brachtet?«

»Achim hatte die Ideen und hat sie auch ausgeführt,« sagte Altchen.

»Und mis haben srecklis sauderhaft viel lernen müssen und sind Engelein wesen,« rühmte Alf-Bübchen wichtig.

»Und Altchen schickte sich mit Geduld in den Trubel und lieferte den nervus rerum.« Das sagte Achim.

.

»Bravo, das nenne ich Teilung der Arbeit, wobei was herauskommt!« versetzte lachend Doktor Eriksen.

»Und Alf-Bübchens Gewand?«

»Achim!«

»Und die Flügel?«

»Achim!«

»Der Lilienstengel?«

»Achim!«

Das war ein Frage- und Antwortspiel zwischen Altchen und Sylvia.

Lachend wandte sich Sylvia an Achim.

»Achim, Alter, du bist ja das reine Mädchen für alles. Nähnadeln, Pinsel, Schere, mit allem kannst du hantieren. Sag nur, woher die Lilien so leuchten?«

»Eine kleine elektrische Spielerei, Sylphchen, nichts weiter!«

»Jedenfalls war alles sehr gelungen, was, Lene?«

»Des will ich meine. Am gelungenste des Engelche. Den pack nor bei de Flügel, Kind, sonst witscht er der fort, eh des denkst.«

Hastig schlang Sylvia die Arme um Alf-Bübchen und preßte ihn fest an sich.

Dann richtete sie sich auf und strich sich leicht übers Gesicht, als wolle sie etwas fortscheuchen, das zum frohen Abend nicht stimmte.

Sie hob den kleinen Weihnachtsengel auf Altchens Schoß.

»So, sitz still, Alf-Engelein. Sylve-Mütterchen geht mal sehen, ob nicht irgendwo noch ein Engelein anpocht.«

Und Sylvia huschte zur Tür, Lene folgte.

Bald darauf hörte man den silbernen Klang eines Glöckchens durchs Haus klingen.

Wie der Wind war Alf-Bübchen herunter von Altchens Schoß und riß die Tür auf.

Strahlender Glanz brach aus der Tür des Saals.

»Sein noch mal Engelein tommen! Mis wollen Engelein sehen!«

Alf-Bübchen stand auch schon auf der Schwelle, und leuchtender Schein verklärte die kleine weiße Gestalt. Eifrig spähte er um sich.

Drinnen stand nochmals ein Lichterbaum, und auf weißgedeckten Tischen drunterher war alles ausgelegt, was Liebe ersinnen konnte, die Liebsten zu erfreuen. Aber von einem Engel war nichts zu erblicken. Alf-Bübchen schien sehr enttäuscht.

»Tönnen der tein Engelein nicht sehen,« klagte sein weinerliches Stimmchen. Da nahm Sylvia den Kleinen an der Hand und führte ihn zu einem Tisch, worauf stand, was ein kleines Jungenherz zu entzücken vermag.

Und Alf-Bübchen wandelte sich denn auch urplötzlich vom Engelein in einen sehr irdischen, überglücklichen kleinen Jungen. Altchen wurde im Stuhl herzugerollt, Achim, der Vater, alle waren bedacht und erfreut worden. Jedem war irgend ein Herzenswunsch abgelistet. Sylvia stand ganz beschämt vor den überreichen Gaben, womit die Liebsten nah und fern sie bedacht hatten.

Auch Lene, Anna und August hatten auf dem weihnachtlichen Gabentisch reiche Geschenke vorgefunden.

Und nun sollte es zu Tisch gehen.

»Soll Anna dem Kleinen nicht erst den Engel ausziehen?« fragte Doktor Eriksen lachend. »Gansbraten und Engel stimmt wenig zusammen.«

Zur Feier des Tages durfte Alf-Bübchen aufbleiben und mit den Großen essen. »Aufessen« nannte es der kleine Mann in knapper Fassung.

Alf-Bübchen wehrte sich.

»Mis willen Engelein bleiben!«

Man ließ ihm den Willen.

Bei Tisch ging es sehr heiter zu.

Es wurde der fernen Lieben gedacht, von denen nur Gutes gemeldet war. Sie hatten alle geschrieben. Gerhard sehr geschäftig und voll Eifer. Dieter ärgerlich ob des versagten Urlaubs. Jörg und Heinz endlich des Heimwehs voll. Der Professor, bei dem sie waren, hatte nur Gutes zu berichten gewußt. So lag nur der eine Schatten über der Festfeier daheim, daß nicht alle unter dem Lichterbaum versammelt sein konnten.

Alf-Bübchen ließ sich den Gänsebraten trotz des Engelgewandes vorzüglich schmecken. Er stieß mit seinem Milchbecher wieder und wieder auf die Brüder da draußen in der Welt an, wie er es die anderen mit den Weingläsern tun sah.

Man saß danach bei Altchen oben.

Achim hatte die Lichter des Baumes noch einmal entzündet.

Sie sollten von selbst ausbrennen und erlöschen.

Alf-Bübchen hatte sich auf Mütterchen Sylvias Schoß zurechtgenestelt und starrte mit Zwinkeräuglein in den Kerzenschein.

Sie waren alle stumm geworden und hingen ihren Gedanken nach.

Ein Flämmchen und das andere sprühte auf und erlosch.

Es wurde dunkler und dunkler im Gemach.

Alf-Bübchen hatte sich aufgerichtet und verfolgte mit großer Aufmerksamkeit und Andacht dies Aufsprühen und Erlöschen. Stumm wies er mit dem Fingerchen nach jedem sterbenden Flämmchen.

Nur wenige flackerten und knisterten noch am Baum.

Da sah er dem Sylve-Mütterchen mit großen Augen ins Gesicht.

»Sein Sternlein wesen von Himmel oben. Dehen jetzt wieder heim zum lieben Dott und tleine liebe Engelein. Alf-Engelein wollen auch heim dehen, Sylve-Mütterchen!«

Da war das letzte Lichtlein erloschen. Die Stimme des Kleinen verklang im Dunkel.

Wie ein Bann lag es über allen.

»Zünde die Lampe an, Achim. Alf-Bübchen träumt sonst, ehe er im Bettchen liegt. Sylvia, Kind, laß Anna den kleinen Mann schlafen legen, es ist Zeit!«

Altchen fand zuerst Worte. Die weiche Stimme klang verschleiert.

Sylvia hatte Alf-Bübchen fest umschlungen.

»Ich bringe ihn selbst hinüber.«

Alf-Bübchen wollte sich wehren, aber Sandmännchen kam und drückte die sich sträubenden Blauäuglein zu.

»Gib mir das Kerlchen, Grasmückchen.«

Schweigend legte Sylvia den kleinen Schläfer in Vaters Arm.

»Wir müssen ihn fest, fest halten, Vaterherz.«

Wie Schluchzen lag's in der Stimme, wie Angst und Beben.

»Wohl, Grasmückchen, wohl. Was an uns liegt –«

Der Schluß blieb unverständlich. Sorgsam und zärtlich trug der Vater seinen kleinen Jungen hinüber in sein Bettchen.

Stille lag über dem alten Doktorhause. Wieder war eine Weihnacht drüber hin gezogen. Wieder war der festliche Strahlenschein der Weihe-Nacht erloschen, um dem Alltagslicht der dreihundertvierundsechzig folgenden Tage Raum zu geben. Wohl dem, der sich einen Vorrat vom festlichen Schein im Herzen geborgen hatte, davon zu zehren im Dämmer des Alltags.

Sylvia wachte noch lange. Sinnen und Sorgen bedrückte ihr das junge Herz. In kreisendem Wirbel hasteten die Gedanken von den Lieben daheim zu den Lieben draußen.

Endlich war auch sie entschlummert – lag und träumte.


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