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4.
Ein Schritt vom Wege

Eine neue große Aufgabe trat an Sylvia heran: Achim und Dieter mußten ausgestattet werden.

Zum Mai war ihr Eintritt beim Regiment vereinbart. Sie sollten zur Gardeartillerie kommen.

So blieben nach Gerhards und dessen Freundes Abreise nur vierzehn Tage, um alles in Ordnung zu bringen.

Väterchen hatte, von Altchen dazu aufgefordert, in rührend vorsorglicher Weise schon Bestellungen aller Art gemacht, ohne Sylvia einzuweihen, und die war jetzt erstaunt und beschämt, zu sehen, daß, während sie bloß der Gegenwart lebte, andere die Zukunft und alles Notwendige ins Auge gefaßt hatten.

»Was hab' ich noch zu lernen, Väterchen!« sagte sie.

»Keiner lernt aus, Grasmückchen,« sagte Doktor Eriksen milde, »keiner, und wenn er ein Methusalem würde. Ich nicht und du nicht und Altchen nicht, ein Leben genügt dazu nicht, Kind.«

Sylvia war nun wieder ganz das eifrige Hausmütterchen.

Sie hatte sich Listen angelegt, was alles zu beschaffen war, und täglich verleibte sie ihrem Hort Neues ein.

Achim und Dieter halfen auch treulich, und da sie praktisch angelegt und bescheidenen Sinnes waren, so war ihr Rat und ihre Hilfe für Sylvia von wirklichem Wert.

Heute waren die Koffer gekauft worden, morgen sollte die große Packerei beginnen. Zwei Tage danach kam der Abschied.

Jörg und Heinz interessierten sich mächtig für alles, was die Abreise der großen Brüder betraf.

Sie planten eine große Abschiedsüberraschung und hatten infolgedessen gewaltig zu tuscheln.

»Sylve-Mütterchen, du mußt uns jedem zwei Mark aus unserer Sparkasse geben. Wir müssen Achim und Dieter ein Abschiedsgeschenk kaufen.«

Sylvia konnte nicht nein sagen, wurde aber trotz Bittens von den beiden nicht ins Vertrauen gezogen.

»'s ist was Wundervolles, Sylve-Mütterchen!«

»Ganz was Herrliches, Mütterchen Sylvia!«

Das war alles, was sie herausbrachte.

»Wenn sie nur keine Dummheiten machen, Altchen,« klagte Sylvia am Abend, den Kopf in Altchens Schoß.

»Laß sie, Kind, eine Dummheit aus Liebe schadet nicht.«

Alf-Bübchen wurde von den Brüdern angesteckt.

»Mis willen auch senken, mis willen auch danz Wundervolles senken.«

»Gut, Alf-Bübchen, komm, setz' dein Mützchen auf. Sylve-Mütterchen geht zur Stadt, da kann Alf-Bübchen mitkommen.«

Alf-Bübchen jauchzte und trippelte dann sehr wichtig neben Sylvia her.

»Mis willen dräßlich viel taufen, Sylve-Mütterchen.«

»Schön, Alf-Bübchen.«

Im Laden fragte dann der kleine Mann mit sehr wichtiger Miene nach dem Preis von allem und jedem.

Der Herr, der verkaufte, amüsierte sich sehr und erwiderte jede Frage mit großer Geduld.

»Was will denn der junge Herr kaufen?«

Alf-Bübchen sah ihn groß an.

»Mis sein teine junge Herr, mis sein bloß Alf-Bübsen. Mis willen Achim und Dieter was senken, was danz Wundervolles. Du mis was deben, liebe Mann.«

Der lachte. Dann legte er alles mögliche vor.

Alf-Bübchen liebäugelte mit einer großen vergoldeten Standuhr.

»Mis willen die senken!«

Sylvia redete es ihm lachend aus.

»Dazu haben Achim und Dieter keinen Platz im Koffer, nimm was Kleineres.«

Schließlich blieb Alf-Bübchen auf vieles Zureden bei einem Streichhölzeretui und einem Taschenbürstchen. Stolz zog der kleine Mann mit seinen Einkäufen ab.

Achim und Dieter fanden die Geschenke bei Tisch unter dem Mundtuch. Sylvia hatte sie zuvor davon verständigt, damit sie sich gebührend erstaunt zeigten.

»Hallo, was ist denn das?«

Alf-Bübchen lauschte atemlos.

»Wer hat uns das hingelegt?«

»Das ist ja herrlich!«

»Wundervoll!«

»Das war sicher Altchen!«

»Oder der Vater!«

»Nein, so schön!«

»Sylvia beichte!«

»Ich war's nicht,« sagte die. »So Schönes könnte ich nicht schenken.«

»Wir auch nicht,« grinsten Jörg und Heinz und stießen sich in die Rippen.

»Mich laßt aus dem Spiel, mein Geldbeutel hat schon so wie so die Schwindsucht,« sagte der Vater.

»Wer war's denn aber?«

»Mis,« sagte ein kleines feines Stimmchen, und Alf-Bübchen strahlte vor Wonne und Stolz.

»Du, Alf-Bübchen?«

Achim und Dieter konnten nicht fertig werden mit Dank- und Freudenbezeigungen.

Alf-Bübchen klatschte in die Hände und krähte dazu.

»Wartet nur, Dieter, Achim, wartet nur, es gibt noch was ganz Wundervolles,« sagten Jörg und Heinz geheimnisvoll.

»Sein nix Wundervolleres da,« sagte Alf-Bübchen entschieden, und ein Wink von Sylvia veranlaßte Jörg und Heinz zum Schweigen.

»Unser Geschenk kostet aber drei Mark und fünfzig,« raunte Jörg Alf-Bübchen zu. »Was kostet denn deins? höchstens fünfzig Pfennige, was?«

Alf-Bübchen sah mit großen hilflosen Augen von einem zum andern.

»Schäm dich, Jörg,« sagte der Vater ernst. »Der Wert einer Gabe bestimmt sich nicht nach dem Preis, sondern nach dem Sinn, in dem sie gegeben wird. Merke dir das. Und nun, gesegnete Mahlzeit, Kinder!«

»Das letzte Mal, daß wir Achim und Dieter hier haben, Vater,« sagte Sylvia leise.

»Wohl, Grasmückchen, wohl! Wenn die Brut flügge wird, wird das Nest leer. Daran müssen überall die Väter und Mütter sich gewöhnen, Mütterchen Sylvia.«

Sylvia schlug die Augen nieder und hing das Köpfchen.

»Schwer ist's für die Eltern, Vaterherz.«

»Wohl, Grasmückchen, schwer ist's. Laßt mich nur immer Gutes hören, Jungen, dann will ich's nie bereuen, eurem Wunsch nachgegeben zu haben.«

»Das sollst du, Vater!«

»Das sollst du!«

Es klang wie ein Schwur. –

Die Koffer waren gepackt, alles war fix und fertig vorbereitet. Andern Morgens sechs Uhr ging der Zug.

Man saß bei Altchen. Der letzte Abend!

Achim hatte diesmal Sylvias Platz auf dem Schemel neben Altchens Stuhl.

Altchen strich mit der feinen welken Hand über Achims krause Mähne. »Mein Junge, mein alter Junge! Wenn du in der Welt da draußen einmal vor etwas gestellt bist, vor dem dich dein Herz warnt, mein Achim, willst du an Altchen denken, willst du?«

Statt aller Antwort küßte Achim die welke Hand.

Dieter beugte sich von der anderen Seite darüber. Auch ihm strich Altchen liebkosend über den Scheitel. »Mein Dieter,« flüsterte sie, »dein Sinn ist noch ungestümer, dein Blut ist heißer. Dir wird der Kampf naturgemäß schwerer werden. Doch du wirst das Überwinden lernen. Ich kenne meinen Dieter. Gott stärke dich, mein Sohn, Gott stärke dich!«

Stille war's und feierlich wie in einer Kirche.

Da: »Schnetterengdengdeng!« »Bumm!« »Schnetterengdengdeng!« »Bumm, bumm – bumm!«

Ein großer Lärm draußen.

»Jörg! Heinz!«

In richtiger Erkenntnis der Lage stürzte Dieter der Tür zu.

»Jungen, seid ihr toll?«

Jörg und Heinz erschienen strahlend unter der Tür.

Jörg hielt eine riesige alte Trompete, der er Töne entlockte, die klangen, als ob sie aus einer Gießkanne kämen.

Heinz hatte eine noch rauchende, uralte, rostige Reiterpistole gefaßt, die er nun triumphierend hoch hob.

»Achim, Dieter, was sagt ihr nun?«

Die sagten vorderhand nichts und starrten nur ziemlich fassungslos auf die beiden.

»Achim, Dieter, für euch! Ist's nicht wundervoll?«

Etwas ungewiß griffen diese nach den gebotenen Sachen. »Eine Tuba, Achim!« jubelte Jörg.

»Eine Wallensteinsche Pistole, Dieter!« frohlockte Heinz.

»Und für euch!«

»Wahrhaftig für euch!«

»Nehmt doch!«

»Nehmt!«

Jörg und Heinz strahlten und drückten Achim und Dieter gewaltsam die Gaben in die Hand.

Die starrten immer noch sprachlos drein.

»Fein, was?« fragte Jörg.

»Riesig, nicht?« sagte Heinz.

Achim war zuerst Herr über sich und seinen Lachreiz.

Er besah die ihm aufgenötigte »Tuba« von allen Seiten.

»Wahrhaftig kolossal!« stammelte er.

»Schneidig,« platzte Dieter los, »eine ganz schneidige Waffe.«

Und er schwang seine alte Pistole über dem Haupt, als wäre es ein Kriegsbeil und er ein Indianer.

Jörg und Heinz umtanzten ihn.

»Wo habt ihr die Dinger her, Jungens?« fragte nun der Vater, der die ganze Zeit über Mühe gehabt hatte, ernst zu bleiben.

»Vom Levy, Vater, vom Levy.« jauchzte Heinz.

»Er sagt, es seien ungeheuer wertvolle Sachen, und er habe sie uns nur so billig gelassen, weil du einmal seine Frau gesund gemacht habest,« berichtete Jörg.

»Wie viel habt ihr denn gezahlt?«

»Drei Mark fünfzig, Väterchen. Er sagt, es sei dreiviertel geschenkt!« frohlockte Heinz.

»So 'n Schwindler!« sagte Doktor Eriksen leise. »Na warte!«

Laut sagte er: »Ein andermal fragt ihr Sylvia oder mich, ehe ihr eine größere Ausgabe macht, hört ihr? Es gibt immer Menschen, die sich die Unerfahrenheit der Käufer zu nutze machen.«

»Levy ist ehrlich, Vater!«

»Levy ist grundehrlich!«

»Sieh doch nur die prachtvolle Tuba!«

Jörg und Heinz wurden ganz warm.

»Und diese Wallenstein-Pistole!«

Der Vater brachte es nicht übers Herz, die beiden Enthusiasten zu täuschen und zu sagen, daß das eine eine alte, verrostete, ganz gewöhnliche Trompete, das andere eine ebensolche und noch schlimmere Pistole sei, im Wert zusammen gleich Null.

Achim und Dieter bedankten sich sehr und bewunderten die beiden »Prachtstücke« pflichtschuldig.

»Ihr müßt sie mitnehmen, es gibt einen wundervollen Wandschmuck.«

Etwas zögernd und zweifelhaft stimmten die Beschenkten auf einen Wink Sylvias bei.

Daß die beiden Gaben danach oben auf dem obersten Speicher im geheimsten Schrankgefach verschwanden, dahinter kamen die Geber erst viel, viel später, wo die Entdeckung nicht mehr schmerzte.

Dann saß man noch um Altchens alten, lieben Tisch und trank den Abschiedstrunk, an dem Jörg und Heinz in sehr gehobener Stimmung teilnehmen durften.

Und dann war's spät geworden.

»Zu Bett jetzt, Kinder. Morgen heißt's früh heraus!«

Vater drängte, und alles gehorchte.

Achim und Dieter nahmen jetzt schon Abschied von Altchen, um sie andern Morgens nicht zu stören.

Sie waren sehr bewegt.

»Gott segne euch!«

Altchens liebe, weiche Stimme zitterte.

Aber der zitternde Klang prägte sich tief in die jungen Herzen ein und tönte dort wieder zu manch einer Stunde, da ein Segenspruch dem wankenden jungen Sinn, dem strauchelnden Fuß vonnöten war.

Andern Morgens zu früher Stunde war Leben im alten Doktorhause.

Zwei seiner jungen Insassen zogen hinaus in die Welt, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen.

Die alten Mauern, die die Kindheit so traut umhegt, sie bedeuteten nurmehr die zeitweilige Heimat; sie, die die Welt des Kindes gewesen waren, traten zurück vor der weiten fremden Welt da draußen. –

Der Zug war abgefahren.

Doktor Eriksen umfaßte Sylvia, die fassungslos schluchzend neben ihm auf dem Bahnsteig stand.

»Grasmückchen, Kopf oben! Das ist nun mal so der Lauf der Welt. Ich denke, wir können den beiden getrost nachschauen, was?«

»Wohl, Vaterherz! Nun habe ich schon drei meiner Jungen hergegeben. Ein Glück, daß Jörg und Heinz noch so jung sind. Und Alf-Bübchen – Alf-Bübchen bleibt mir immer!«

»Gott gebe es! Und jetzt Augen gewischt, Grasmückchen; die Jungen haben es ja selbst so gewollt. Möchten sie das Glück in dem Beruf finden, das sie erhoffen!«

Sylvia nickte, seufzte und wischte dann entschlossen die Tränen weg, um Väterchen das alte, sonnige Lächeln, das er so liebte, zu zeigen.

Es war sehr stille geworden im alten Doktorhause nach Achims und Dieters Abreise.

Ein Glück, daß Jörg und Heinz für Abwechslung sorgten. Und das taten sie getreulich nach jeder Richtung hin.

Hatte der eine Tag klaffende Risse gebracht, so brachte der nächste Beulen an irgend einer Körpergegend, am dritten gab's einen Streit zu schlichten, und der vierte brachte irgend sonst eine Dummheit, die gut gemacht sein wollte.

Sylvia war stets geduldig und frisch und heiter. Ihr strahlendes Lächeln war der Sonnenschein des Hauses.

Von Achim und Dieter kamen glückliche, frohe Briefe. Die ersten schlimmen Wochen und Monde, die der erwählte Beruf mit sich brachte, schreckten sie nicht ab. Sie nahmen die Leiden und Freuden von der humoristischen Seite und kamen dadurch leicht über Hindernisse weg.

So war's mittlerweile Ende Juni geworden.

Sylvia saß mit Väterchen oben bei Altchen.

Die vier großen Fenster nach dem Garten zu standen offen und ließen die herrliche Frühsommerluft ein.

Es war sehr dunkel draußen. Nur die Sterne oben am Firmament leuchteten, und zuweilen schwirrte ein Leuchtkäfer im Laubdämmer der Bäume auf.

Sylvia hatte träumend hinausgeblickt.

»Väterchen,« sagte sie jetzt, »es wird Sommer. Wo werden wir diesmal mit den Kindern hingehen?«

»Ja, Grasmückchen, das ist nun so 'ne Sache. Ich wollte schon lange mit dir darüber reden. Sieh mal, Achim und Dieter haben mich eine schwere Menge Geld gekostet, da wäre es nur klug, wir unterließen jede Reise. Die Kinder sind ja gesund, Grasmückchen, und du –«

»Aber natürlich, Vaterherz,« sagte lachend Sylvia. »Weißt du, ich habe einen Plan. Wir ziehen wie früher zu Mutters Zeiten in den Garten. Da kommst du jeden Abend, und Altchen kann auch viel draußen sein. Das wird einfach herrlich, was?«

Sie strahlte.

Doktor Eriksen strich ihr über den Scheitel.

»Aber, Kind, da gibt's keine junge, frohe Gesellschaft und Landpartien und Abends ein Tänzchen wie voriges Jahr in Oberhof.«

»Einerlei, brauch' ich gar nicht, Vaterherz. Ich habe ja meine Jungen und euch.«

Ein liebender Blick streifte Altchen und den Vater.

»Ich habe dich doch schon gebeten, Sohn,« sagte Altchen. »Wozu wäre das Geld, wenn ich meinen Liebsten nicht eine Freude damit machte.«

Altchen sah Doktor Eriksen so recht eindringlich flehend mit den milden Augen an.

Der schwankte. »Grasmückchen soll entscheiden!«

Sylvia zögerte einen Augenblick.

Es war doch lockend, solch freies, sorgloses, schönes Leben für ein paar Wochen.

Dann warf sie den Kopf zurück.

»Wir bleiben daheim, sage ich. Sollt mal sehen, es wird wundervoll draußen im Garten. Und wenn Altchen gar so viel Geld hat – Altchen, die arme Frau, die mit dem Scharlachkind damals, war wieder da. Sie ist furchtbar im Elend, der Mann trinkt und –«

»Gib mir meine Schatulle, Kind, du weißt ja.«

Altchen bot den Schlüssel zum Schreibtisch.

Sylvia holte das Gewünschte.

Und Altchen griff in die Schatulle und drückte Sylvia zwei blitzende Goldfüchse in die Hand.

»Halt Haus, damit, Kind! Zuviel auf einmal taugt nicht.«

»Dank, Altchen, Dank! Ihr sollt sehen, es wird ein reizender Sommer. Wie glücklich das arme Weib sein wird!« –

Sie richteten sich wirklich draußen im kleinen Gartenhause ein.

Lene, die Jungen und Sylvia schliefen da. Altchen kam, wie Wetter und Befinden es erlaubten. Doktor Eriksen verbrachte jeden Abend draußen.

Jörg und Heinz samt Alf-Bübchen genossen die Freiheit sehr. Die einzige Not war, zu wehren, daß die ersteren den Kleinen nicht in allerlei ihm nicht zuträgliche Abenteuer verwickelten.

Alf-Bübchen fühlte sich sehr geehrt durch die Aufmerksamkeit der großen Brüder und tat sein möglichstes, sich ihrer würdig als Mann zu erweisen.

Morgens ruhte er nicht, bis Sylve-Mütterchen ihm das Röckchen hoch steckte, und stolz trippelte er dann in den Höschen hinter den Brüdern drein, ein urdrolliges kleines Figürchen.

Zu seinem vierten Geburtstag, der in den August fiel, sollte er einen Jungenanzug mit Hosen haben. Das hatte Sylvia beim Vater durchgesetzt und freute sich darauf wie ein Kind.

Ein Brief von Trude war gekommen.

»Komm heute nachmittag, ich habe Dir einen wundervollen Plan mitzuteilen.

Trude.«

»Kann ich wohl fort, Lene?«

»Allemal, Kindche, was e Frag'. Ich will die Bengel schon in Ordnung halte.«

Da war Sylvia gegangen.

Trude lag wieder in ihre Kissen vergraben auf ihrem Langstuhl.

Der Papagei, auf der Lehne hockend, schmiegte sich an ihre Wange und kreischte laut auf, als Sylvia ihr braunes Gesicht zur Tür hereinstreckte.

»Tag, faule Trude! Du, der Grüne mag mich aber entschieden nicht.«

Sylvia lachte fröhlich.

»Mein Papchen? I wo, der tut nur so, weil er nicht gestört sein will. Köpfchen krauen, Papeli!«

Der kreischte auf, flatterte und neigte dann den Kopf, sich krauen zu lassen.

Aber nur Trude durfte ihn anrühren. Sobald Sylvia dazu Miene machte, hackte er mit dem Schnabel nach ihr.

Eine Weile spielten sie so mit dem Vogel. Sylvia hatte sich neben Trude gekauert.

Dann schob Trude ihn fort.

»Laß mich in Ruh', Papeli, wir haben etwas zu besprechen. Bist du denn gar nicht neugierig, Sylvia?«

»Nein.«

»Du, 's ist aber was Wundervolles!«

»Wahrhaftig?«

»Kommt Gerhard eigentlich im Sommer?«

Sylvia horchte erstaunt auf.

»Weshalb? Gewiß weiß ich's nicht. Möglich, daß er eine Reise macht und –«

»Umso besser,« unterbrach Trude und wurde dann ein bißchen rot. »Ich meine nämlich, weil wir fort sein werden.«

»Ihr?«

»Nein wir – wir beide!«

»Wir bei–«

Sylvia versagte das Wort.

»Ja, wir beide! Ich soll dich nämlich von meinen Eltern aus einladen, mit mir nach Sylt zu gehen für sechs Wochen. Was sagst du dazu? Ist's nicht herrlich?«

Sylvia war aufgefahren.

Atemlos, mit roten, heißen Wangen und strahlenden Augen stand sie vor Trude.

»Ich – ich sollte mit – an die See, Trude – Trude? Aber das ist ja – ist ja – nicht möglich!«

Da erlosch der Sonnenschein.

Sie hatte »herrlich« sagen wollen, da fielen ihr die Jungen, Väterchen, Altchen, fiel ihr der Haushalt ein, und sie schloß – »nicht möglich«.

Da wurde Trude böse.

»Nun laß, bitte, mal den Unsinn, willst du? Du bist doch nicht nur für die andern da. Sie können sich auch einmal ohne dich behelfen, sollte ich denken.«

»Das könnten sie sicherlich, Trudelchen,« sagte Sylvia sanft, »sicherlich; niemand ist unersetzlich, aber – aber – sieh, wo Väterchen das Opfer bringt und zu Hause bleibt, der eine Erholung so nötig hätte, mag ich – ich allein nicht gehen.«

»Papperlapapp – Unsinn – so 'ne Dummheit!«

Trude wurde vor Ärger sehr unhöflich.

»Sei nicht böse, Trude, ich kann wahrhaftig nicht – wahrhaftig nicht!« Sylvia stand das Weinen sehr nahe. Aber Trude wollte nicht hören. Sie hatte einen sehr roten Kopf und war sehr ärgerlich und zornig.

Da kam die Frau Professor herein.

Sie sah alsbald, daß etwas nicht in Richtigkeit war.

»Was habt ihr, Kinder? Hat dir Trude unseren Plan mitgeteilt, Sylvia?«

»Ja, Mutter Holle, liebe, liebe Mutter Holle, und ich bin so, so dankbar, aber – ich kann nicht.«

Nun liefen die Tränen ungehindert über Sylvias Gesicht.

»Weshalb nicht, Kind?«

»Weil – weil – weil Väterchen daheim bleibt, um zu sparen, und ich – ich nicht haben will, was er nicht haben kann.«

Leise, beschwichtigend legte die Frau Professor den Arm um die zuckenden jungen Schultern.

»Aber, Kind, dein Vater wird froh sein für dich, wenn du die schöne Reise und den gesunden Aufenthalt haben kannst. Er –«

»Das weiß ich, Mutter Holle. Aber, bitte, bitte, sagen Sie ihm gar nichts, es täte ihm sonst leid, und ich kann nicht – ich kann wirklich nicht.«

»Auch nicht, wenn wir dich recht herzlich bitten, uns den Gefallen zu tun? Trude soll an die See, meinem Mann bekommt ein Aufenthalt dort nicht. Allein kann Trude nicht gehen, ich möchte meinen Mann nicht allein lassen – du siehst also –«

Sylvia schwankte.

»Ich kann nicht, Mutter Holle, gewiß und wahrhaftig, ich kann nicht. Ich wäre keine Stunde ruhig im Gedanken an die Meinen daheim, und bei ihnen liegt doch wohl meine erste Pflicht, nicht?«

»Das tut sie, Kind, das tut sie, und wenn du durchaus – wenn ich nun erst noch mit deinem Vater spräche?«

»Bitte nicht, bitte, bitte nicht, liebe Mutter Holle.«

Sylvia hatte Mühe, nicht laut hinauszuweinen. Der Verzicht war ihr doch sehr schwer geworden.

Trude war bitterböse. Sie sagte kein Wort, aber das zornrote Gesicht und die blitzenden Augen zeigten, wie's in ihr aussah.

»Dann geh, dann will ich auch gar nichts mehr mit dir zu tun haben!«

»Trude!«

»Nein, geh, ich sage sonst etwas, was mich hinterher vielleicht reut. So 'n albernes Getue verstehe ich nicht.«

Trudes Mutter seufzte. Mit einem bekümmerten Blick auf ihr erregtes Kind zog sie Sylvia zur Tür.

»Komm mit, Kind, vielleicht ist's wirklich besser. Trude besinnt sich und kann dann deinem Handeln die Achtung nicht versagen, wenn sie's auch nicht versteht – leider. Unsere Pläne müssen wir nun eben ändern.«

»Liebe Mutter Holle!« Sylvia beugte sich über ihre Hand. »Und Sie verstehen und sind nicht böse und –«

»Sei ruhig, Kind, ich verstehe, und du bist mir lieb wie zuvor!«

Trude fand dann doch Anschluß an eine befreundete Familie, und alles ordnete sich nach Wunsch. Ob Vater und Altchen von Sylvias Ausschlagen des gebotenen Vergnügens gehört hatten? Fast wollte es Sylvia manchmal so bedünken, wenn der Vater gar so zärtlich und besorgt, und Altchen gar so weich und milde war. Und welch ein Glück Sylvias Dableiben war, das sollte sich erst späterhin ausweisen.

 

Sylvia hatte Väterchen wie allabendlich bis zum Gitterpförtchen des Gartens gebracht. Doktor Eriksen hatte den Arm um sein Töchterlein geschlungen und sah mit ihr zum nachtdunkeln Himmel auf, von wo die Sterne herunterleuchteten, strahlten und funkelten. Von unten aus dem Talkessel, wo die Stadt lag, flimmerten und blitzten auch Sterne, aber die waren von Menschenhand entzündet und hielten den Vergleich nicht aus mit den göttlichen Schwestern oben.

»Väterchen, sieh doch den Orion. So hell, meine ich, hat er noch nie geleuchtet. Ich sehe deutlich den Jakobsstab.«

»Siehst du auch den Polarstern? Kann du ihn finden?«

»Nichts leichter. Dort, da im kleinen Bären!«

»Richtig!«

Sinnend schaute Doktor Eriksen zum Himmel auf.

»Ob Gott wohl in der Unendlichkeit, in der Unbegrenztheit oder in der Beschränkung größer ist? Ich weiß immer nicht, was ich mehr bewundern und anstaunen soll, die Myriaden von Welten da oben oder die Zartheit der Bildung jedes winzigsten Lebewesens, die Mannigfaltigkeit im Hervorbringen jedes Mösleins, jedes Halms.«

Sylvia schmiegte sich an den Vater.

»Und der Mensch, Väterchen, mit seinem Herzen, seinem Gefühl!«

»Hast recht, Kind, immer Größeres, immer neue Wunder, je länger wir sinnen. Gute Nacht, Grasmückchen. Der große Gott behüte mir gnädig meinen kleinen Augentrost.«

»Gute Nacht, Riesenvater! Beug dich mal von deiner Höhe herab, daß ich dir einen Kuß geben kann,« sagte Sylvia schelmisch.

Er willfahrte, und dann war er gegangen. – –

Das kleine Häuschen lag träumend inmitten der blühenden Wildnis, und seine Bewohner träumten ebenfalls.

Lene warf sich unruhig oben auf ihrem Lager hin und her. Es war doch recht heiß, und sie wagte nicht, ein Fenster zu öffnen. Nachtluft war gefährlich, das hatten schon Mutter und Großmutter gesagt, da mußte es wahr sein. So schmorte sie in den heißen Sommernächten lieber in ihrem eigenen Fett.

Was war das?

Schritte im Kies?

Lene setzte sich auf.

Sie hörte nichts weiter.

Es mußte bei Jörg und Heinz nebenan in der Kammer gewesen sein.

Die Jungen schliefen immer so unruhig.

Getröstet legte sich Lene aufs Ohr und war in wenigen Minuten wirklich entschlummert.

Sylvia, die mit Alf-Bübchen in dem Zimmer unten neben dem Wohnzimmer schlief, hatte auch etwas gehört.

Lauschend hob sie den Kopf.

Da – ganz deutlich. Der Kies draußen knirschte unter einem verstohlenen Schritt.

Der da ging, wollte offenbar nicht gehört werden.

Sylvia zitterte an allen Gliedern. Sie setzte sich auf, um besser hören zu können.

Wieder der Schritt, nun schon näher.

Da huschte Sylvia aus dem Bett und eilte aufs offenstehende Fenster zu, wo sie vorsichtig durch den vorgelegten Laden hinausspähte.

Richtig, dort im Schatten der Kastanien bewegte sich etwas, löste sich etwas von einem der dicken Stämme los und trat gegen das Haus zu.

Ein Mann, offenbar ein Mann!

Sylvia war wie zu Stein erstarrt.

Und jetzt – jetzt schritt er direkt auf Sylvias Fenster los; da war er schon ganz dicht heran.

Sylvia regte sich nicht, spähend blickte sie hinaus.

Und nun – ja wahrhaftig, jetzt hob er die Hand und – pochte. Erst leise, ganz leise, dann etwas lauter – noch lauter. – Eben wollte Sylvia, auf der es wie ein Alpdruck lag, aufschreien, da hörte sie eine Stimme ganz dicht an ihrem Ohr.

Und die Stimme war ihr bekannt, die Stimme sagte leise, ganz leise und stehend: »Sylvia, Sylphchen, hör' doch, wach' auf!«

»Gerhard!« Damit war Sylvia auch schon durchs Wohnzimmer auf den kleinen Flur geeilt und öffnete leise, ganz leise, um die oben nicht zu stören, die Haustür. Der draußen stand, schlüpfte herein und umfing die kleine weiße Gestalt drinnen.

»Sylphchen, mein Sylphchen!«

»Gerhard, wo kommst du her? Warum in –«

»Pst – nur leise, du sollst alles erfahren.«

In Hast zog Sylvia den Bruder ins Wohnzimmer.

»Gerhard, um alles, du bringst Schlimmes.«

»Gutes nicht, Sylphchen, und – Sylphchen, du bist meine einzige Rettung.«

Nun zitterte Sylvia an allen Gliedern. »Ich muß mir etwas umnehmen, Gerhard, ich friere plötzlich so. Setze dich aufs Sofa, ich bin gleich wieder da.« Stumm ließ sich Gerhard aufs Sofa fallen.

Mit fliegenden Händen nestelte Sylvia derweilen ihre Röcke fest, nahm eine Jacke, überzeugte sich, daß Alf-Bübchen fest schlief, und war wieder bei dem Bruder. »Was ist's, Gerhard?«

»Ich habe gespielt, Sylvia.«

»Und –?«

»Und habe Schulden gemacht.«

»Wie – wie viel?«

»Hunderttausend Mark.«

»Hunderttausend Mark!«

Atemloses Entsetzen. »Und morgen – morgen abend muß ich sie haben, wenn ich – wenn ich nicht ein Ehrloser sein will.«

»Wie –« Sylvias zitternde Lippen brachten nichts weiter hervor.

»Wie's kam?« Gerhard lachte bitter. »Ja, wie das so kommt. Schlechte Gesellschaft, selber ein Schwächling, ein Feigling – falsche Scham, Torheit und da war's. Wolf –«

»Dein Freund Wolf hat mitgespielt?«

»Nein. Wolf warnte mich lange, er zog sich zurück. Mir schmeichelte der Umgang mit den vornehmeren Korpsbrüdern, ich hörte nicht auf Wolf. Einmal schlug einer ein Spielchen vor, es verlief harmlos, dann kam's öfter, zuletzt – gestern –«

Er schlug beide Hände vors Gesicht und warf sich im Sofa zurück.

Sylvia stand zitternd neben ihm, strich ihm dabei aber doch beruhigend über den Kopf.

»Gerhard, Gerhard, sei nur erst ruhig. Wie hast du dir denn meine Hilfe gedacht?«

Er hob das verstörte Gesicht.

.

»Hast du nicht die Haushaltkasse? Vater gibt dir, soviel ich weiß, immer ein paar Monate voraus. Dann dein Erspartes – Sylvia, hab Erbarmen.«

»Ich soll Geld aus der Kasse nehmen? Und wie willst du's ersetzen?«

»Wenn ich Zeit habe, treibe ich die Summe schon bei irgend jemand auf. Wollte es jetzt schon tun, hatte aber allerlei Pech damit, weil es zu sehr drängte! Die Zinsen zahle ich von meinem Zuschuß, und wenn ich erst verdiene – Sylvia, du darfst mich nicht stecken lassen!«

»Gerhard, geh zu Vater, Gerhard. Laß uns ihm alles gestehen.«

»Niemals!«

»Er ist so gut, Gerhard!«

»Niemals! Eher – Sylvia, sag' ja oder nein!«

Er war aufgesprungen und stand zu voller Höhe aufgereckt vor der kleinen, zitternden Schwester.

»Ich kann nicht, Gerhard. Wirklich, ich kann nichts heimlich aus der Kasse nehmen. Meine Patengelder und was ich sonst habe, will ich dir gerne geben, aber das sind nur einige tausend Mark; woher den Rest?«

»Leb' wohl, Sylvia!«

Er war schon an der Tür.

»Gerhard!«

Der unterdrückte Schrei klang so verzweifelt, so todesbang, daß Gerhard unwillkürlich stehen blieb.

»Bleib, Gerhard, bleib, komm zu Vater. Ich gehe mit. Beim Andenken an unsere Mutter beschwöre ich dich, geh nicht fort, geh so nicht fort! Vater ist gut, Vater findet einen Ausweg, vertraue ihm. Gerhard, Gerhard, tu's mir zuliebe.«

Weinend, schluchzend, an allen Gliedern zitternd, hing sie an seinem Halse.

Er versuchte, sie fortzuschieben. Sie ließ nicht ab, sie weinte, sie flehte, sie umklammerte ihn.

»Denk an unsere Mutter, Gerhard. Du warst ihr Liebling, ihr Stolz. Denk, wie sie leiden würde. Ich weiß, auch sie würde sagen, komm zum Vater, Sohn, vertraue auf sein Herz. Ich stehe an ihrer Stelle hier und flehe: komm zum Vater, Gerhard.«

Da war sein Stolz gebrochen.

»Mütterchen Sylvia!«

Er faßte die kleine, zitternde Gestalt in seine festen Arme und setzte sich mit ihr aufs Sofa.

Dort saßen sie lange, lange, die Geschwister. Viel redeten sie nicht zusammen, aber Gerhard hatte den Kopf an Sylvias Schulter gelegt, und sie streichelte und liebkoste ihn, als ob sie Alf-Bübchen neben sich habe.

Da wurde er allmählich ruhig und stille. Ein großer, heiliger Entschluß rang sich in seinem Herzen empor. Die Stunde neben der kleinen, milden, weichen und doch so festen Schwester hatte ihn zum Manne gemacht. Um seinetwillen sollte Sylvia keine Träne mehr vergießen.

Da fuhr ein blendender Schein über seinen blonden Scheitel und ließ ihn golden aufleuchten.

»Die Sonne, Gerhard, die Sonne!« jubelte Sylvia auf. »O, nun ist alles gut. Die verjagt alle Schatten und alle Gespenster. Sollst sehen, es wird alles gut.«

»Wohl, Sylve-Mütterchen,« meinte er leise und innig, »es wird alles gut! Und nun geh und schlafe noch ein paar Stunden, damit du frisch bist. Ich will auch schlafen.«

Sylvia stand auf.

Einen Augenblick sah sie ihn besorgt und ungewiß an.

»Gerhard, du versprichst –«

»Ich verspreche, Mütterchen Sylvia,« sagte er leise und innig. »Sorge dich nicht um mich. Ich gehe den Weg, den du mir gewiesen hast. Er ist der beste, Gott segne dich!«

Ohne ein weiteres Wort, nur mit einem warmen, dankenden Blick ging Sylvia ins Nebenzimmer.

Gerhard nestelte sich auf seinem Sofa zurecht, und ein tiefer, beruhigender Schlaf umfing die beiden, die eben so schwere Stunden zusammen durchgerungen hatten.

Ein schrilles, durchdringendes Kreischen störte den Frieden des traumumfangenen Häusleins.

»Zu Hilf! Dieb, Merder! E Mannsbild, e fremd Mannsbild! Zu Hilf! Dieb! Merder! Ach Gott, ach Gott!«

Mit diesem melodischen Morgengruß weckte Lene die Schläfer.

An allen Gliedern zitternd, mit einer Hand die nur übergeworfenen Röcke festhaltend, mit der anderen die gerutschten Strümpfe hochziehend, so stand sie inmitten des Wohnzimmers und starrte mit vortretenden Augen nach der auf dem Sofa hingestreckten Gestalt.

Die begann sich zu regen und zu dehnen.

»Auch noch auf unser Soffa. So e Frechheit. Will er wohl mache, daß er – Ä–e–e–e–e–e!«

Das erneute Quietschen, das in ein Ächzen ausklang, galt dem Ruck, womit der »Mörder« auf dem Sofa sich aufrichtete.

»Zu Hilf! Zu Hilf! Ach du liewer Himmel, er hat mich ja schon an der Gurgel! Zu Hilf! Zu Hilf!«

Lene war blind und taub vor Entsetzen.

Draußen stürmte es die Treppe herunter: Jörg und Heinz, die Lene zu Hilfe eilten.

Sie rissen die Tür auf. Jörg schwang einen Schürhaken, Heinz ein Beil.

»Wo, wo ist er?«

»Do – do, ach du liewer Himmel!« jammerte Lene. »Gebt bloß Obacht, der schmeißt eich alle Knoche im Leib zusamme, so e –«

Eine Lachsalve Jörgs und Heinz' folgte. Lene riß die angstverquollenen Augen auf.

Jörg und Heinz umtanzten den »Mörder«, der sich mittlerweile in seiner ganzen Höhe erhoben hatte.

»Ei du barmherziger Himmel, des is jo –«

»Gerhard, Gerhard!« jauchzten Jörg und Heinz. »Die Überraschung!«

»Jawohl! Bloß daß mer de Dod dervon hätt' hawe kenne,« maulte Lene. »For so Iwerraschunge dank' ich.«

In Anbetracht ihres noch etwas fragwürdigen Anzugs aber machte sie sich nun schleunigst davon.

Alf-Bübchen streckte sein schlafheißes Gesichtchen zur Tür herein.

»Alf-Bübsen wollen auch Derhard sehen. Derhard sein nix Dieb und Mörder!«

Lachend wurde der kleine Mann hereingezogen, und die vier Brüder drückten sich zusammen aufs Sofa, bis Sylvia kam, Jörg und Heinz zum Anziehen jagte und Alf-Bübchen zum gleichen Zweck mit fortnahm.

Beim Frühstück gab's dann viel zu erzählen. Jörg und Heinz wollten jede Einzelheit von Gerhards nächtlicher Ankunft wissen.

Sylvia beschrieb haarklein, wie sie Schritte gehört, hinter dem Laden gekauert habe, und wie dann das Pochen ertönte zugleich mit Gerhards Stimme.

Jörg und Heinz fanden es furchtbar interessant, auch Alf-Bübchen krähte vor Wonne.

Lene allein blieb wortkarg und ärgerlich.

»Von so Dummheite kennt mer de Dod hawe. Ich bin fors Dageslicht und die grade Weg und –«

»Hast recht, Lene,« sagte Gerhard, der sich eben erhob, »und drum gehe ich jetzt zu Vater. Ihr bleibt da, Jungen, hört ihr. Ich kann niemand brauchen. Behüt dich Gott, Mütterchen Sylvia, bald hörst du von mir.«

Sylvia sah ihn angstvoll an.

»Gerhard, soll ich –?«

»Bleiben sollst du und gut sein. Ich esse schon allein aus, was ich mir eingebrockt habe.«

»Mis willen mitessen, bitte, mis willen dern mitessen, Derhard!«

»Schön, Alf-Bübchen. Heute mittag kannst du mitessen. Mütterchen Sylvia!«

Damit faßte er noch einmal Sylvias beide Hände, sah ihr tief in die Augen und war gegangen.

 

Gerhard stand vor dem Vater. Er hatte ihm alles, alles gebeichtet.

Doktor Eriksen war sehr ernst, sehr bewegt.

Gerhard sah ihn angstvoll an.

»Sag' nur ein Wort, Vater,« flehte er.

»Das will ich, mein Sohn. Vor allem will ich dir danken, daß du sofort zu mir kommst und mir rückhaltlos vertraust. Das –«

»Vater, sprich nicht weiter, ich verdiene das nicht. Mütterchen Sylvia hat mir den Weg gewiesen.«

»Das Grasmückchen? So, so.«

Gerhard berichtete stockend.

»Wollte also nichts heimlich tun ohne den alten Vater, das Kind, was? Hatte mehr Vertrauen zu mir als mein großer Junge. Das – das schmerzt.«

»Vater!«

»Ja, mein Sohn. Das Vertrauen der Kinder ist erst gleichsam das ehrende Zeugnis, das sie den Eltern ausstellen, das Zeugnis, das sagt: Du hast deine Pflicht an mir getan. Und das, mein Sohn, das hast du dem alten Vater nicht geben wollen – nicht geben können?«

»Vater, ich schämte mich.«

»Gott sei Dank, das mußtest du, und du hast alle Ursache dazu. Aber dann – Vertrauen, mein Sohn, Vertrauen! Und nun laß uns beraten.«

»Und Vater, ich schwöre – nie, nie wieder –«

»Ich weiß, mein Sohn, ich weiß, und ich glaube es. Aber schwöre nicht. So 'n Schwur ist eine Art Abschlagszahlung, mit der man sich von einer Schuld zu erleichtern glaubt. Nicht schwören – handeln! Also bis zum Abend mußt du das Geld haben?« –

Und er hatte es bis zum Abend.

Wie von einer erdrückenden Last befreit, heißen Dank, glühende Liebe, unerschütterliche Vorsätze im Herzen, fuhr Gerhard zu seiner Universitätsstadt zurück.

Er tilgte seine Schuld, und Wolf Brandt hatte weiter kein Warnen nötig.

Die Rolle, die Mütterchen Sylvia bei diesem Erlebnis des Freundes gespielt hatte, erfuhr Wolf auch gelegentlich.

Das Bild, das er von ihr aus den Osterferien in sich mit fortgenommen hatte, vertiefte und verklärte sich dadurch noch mehr.

Glücklich, wer ein solches Herz sein eigen nannte, sei es nun als Schwester oder als –

Wolf verlor sich in immer tieferes Sinnen und Grübeln.


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