Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9.
Alf-Bübchens Heimkehr

Achim war lange schon abgereist. Frisch und froh, vollständig gekräftigt und wieder hergestellt war er in seinen Beruf zurückgekehrt.

»Hast mich so herrlich zurecht geflickt, Vater, tausend Dank,« hatte er dem Vater zum Abschied gesagt. »Ich denke, nun soll's für ein Weilchen dauern.«

Fest hielt er des Vaters Hände und sah ihm mit leuchtendem Blick ins Gesicht.

»So 'n alter Flickschuster wie ich tut eben sein möglichstes, Junge. Das Beste dazu muß ein anderer besorgen. Gott befohlen, Achim, halte dich tapfer.«

Bewegten Abschied hatte Achim von Altchen und Mütterchen Sylvia genommen. Alf-Bübchen hatte er hoch gehoben.

»Fahr wohl, mein duter Tamerad, vergiß den Achim nicht, hörst du!«

»Mis nix verdessen, mis willen mit dehen.«

»Und Sylve-Mütterchen?«

»Auch mit dehen!«

»Und Vater und Altchen?«

Alf-Bübchen hing den Kopf. Solch gänzliche Auswanderung leuchtete ihm denn doch nicht ein.

»Dableiben! Alf-Bübsen und Sylve-Müttersen bald wieder kommen.«

Achim lachte.

»Bleib daheim, Alf-Bübchen. Bei mir mußt du mit Kanonen schießen, das ist kein Vergnügen, sag' ich dir.«

»Dann Alf-Bübsen bei Sylve-Müttersen bleiben. Achim bald wieder tommen!«

»So wird's das beste sein!«

Und Achim war gegangen.

Da war's Januar gewesen.

Wochen waren seitdem ins Land gezogen, Monde, ein Viertel des neuen Jahres war bereits abgerollt.

Die Berichte von Achim und Dieter lauteten gut. Sie standen nun vor dem Examen, waren aber guten Muts und aller Hoffnung voll.

Gerhard desgleichen.

Fast zur selben Zeit sollten die drei Brüder vor den ernsten Wendepunkt gestellt werden. Mütterchen Sylvia zitterte und zagte im Gedanken an ihre »armen Jungen«.

»Ein Glück, daß ich kein Junge bin, Vaterherz. So 'n Examen denk' ich mir einfach gräßlich. Ich wüßte nicht mehr, wie ich heiße, wenn ich danach gefragt würde, das weiß ich sicher.«

»Unsinn Grasmückchen, verleumde mir doch meine Tochter nicht so. Hast noch immer Kopf und Herz auf dem rechten Fleck gehabt.«

Sylvia sah ihn schelmisch an.

»Das Herz allenfalls, Väterchen, aber der Kopf – der Kopf! Da fehlt's!«

»Jetzt hör mir aber auf, Grasmückchen. Du bist doch kein Idiot.«

Doktor Eriksen war ganz ärgerlich. Lustig umschlang ihn Sylvia.

»Deine Tochter! I wo, Papa!«

Da gab er ihr lachend einen Nasenstüber.

Auch von Jörg und Heinz waren fortgesetzt die besten Berichte da.

Der Vater freute sich dessen sehr. Er blieb aber Sylvias leisen Bohrversuchen gegenüber hart wie Fels. Auch zu Ostern sollten sie der Heimat fern bleiben.

»Erst festen, Grasmückchen. Schmieden, schmieden solange das Eisen heiß ist. Dann mögen Hammer und Amboß zur Ruhe kommen. Meine Jungen fehlen mir sehr, Grasmückchen, glaub's nur.«

Altchen sprach im selben Sinne, und Mütterchen Sylvia ergab sich drein.

»Alf-Bübchen kommt in die Flegeljahre, Altchen,« sagte Sylvia eines Tages und streckte das Schelmengesicht durch Altchens Türspalt. »Was glaubst du, was er eben angestellt hat?«

»Nun?«

»Ich sitze im Erker und sticke, gräßlich eifrig, denn die Wäschekiste für Jörg und Heinz soll morgen abgehen. Alf-Bübchen sitzt mit meinem Bilderbuch am Tisch, mucksmäuschenstill und sehr vertieft. Ich achte nicht auf ihn. Auf einmal höre ich ein leises Rieseln und Plätschern. Ich sehe auf. Und Altchen, wahrhaftig, eine Minute lang kann ich mich gar nicht rühren vor starrem Staunen. Alf-Bübchen steht auf dem Stuhl neben dem Ofen, hat eine Tintenflasche – Riesenkaliber, wie Vater sie für die Jungen anschaffte – vom Wandbord genommen; wie er die entdeckt hat, ist mir ein Rätsel. Aber da steht er, hat den Pfropfen aus der Flasche gezogen, hält sie über dem Köpfchen hoch, und die schwarze Brühe läuft ihm über das Blondhaar, das Gesicht, Kittelchen, Höschen, über den Stuhl auf den Boden. Eine ganze schwarze Lache steht schon da. Und Alf-Bübchen wischt mit dem freien Händchen eifrig an sich herum, um ja schön gefärbt zu werden. ›Alf-Bübchen‹, schrei' ich, ›was tust du?‹ ›Mis wollen auch Tintebub sein. Nix immer so dräßlich brav. Alf-Bübsen wollen mal böse Slingel sein.‹ Ganz herausfordernd sieht er mich an und wischt nur immer eifriger. Fast hätte ich gelacht, er war so urdrollig. Zum Glück besann ich mich. ›So, Alf-Bübchen, du willst Mütterchen Sylvia Kummer machen?‹ ›Nix Tummer machen, bloß mal böse Slingel und Tintenbub sein!‹ ›Alf-Bübchen‹, sag' ich da so recht eindringlich vorwurfsvoll.

Einen Augenblick sieht mich der kleine Sünder wieder mit großen, erschrockenen Augen an, dann fällt ihm die Flasche aus den Händen, und er breitet beide Ärmchen nach mir aus. ›Alf-Bübsen nix mehr Tintebub, Alf-Bübsen danz srecklich brav sein.‹ Und nun weint das arme Kerlchen jammervoll; Lene ist schon bei der Säuberung. Was sagst du dazu, Altchen?«

»Da regt sich allerdings der Bube in ihm. Also ein böser Schlingel wollte das Kerlchen auch einmal sein? Ha, ha, ha! Hoffentlich hat er ein Haar drin gefunden.«

Altchen lachte leise vor sich hin, und Sylvia stimmte fröhlich ein.

Dem kleinen Sünder freilich, der nachher noch als halber Mulatte wieder erschien, zeigten beide ein ernstes Gesicht.

Alf-Bübchen schien wirklich »in die Flegeljahre zu kommen«, wie Mütterchen Sylvia es genannt hatte.

Es hatte in der Nacht furchtbar geregnet. Große Schmutzpfützen standen auf der Straße vor dem Hause.

Eben hatte Sylvia Alf-Bübchen entlassen, frisch gewaschen, mit frischem, hellem Kittelchen und Höschen.

Die warme Aprilsonne erlaubte schon leichtere Kleidung.

»Geh spielen, Alf-Bübchen, ich komme gleich!«

Der Kleine nickte und trippelte eilfertig die Treppe hinunter. Die Stufen waren so hoch, er mußte noch immer ein Beinchen vorsetzen und das andere nachziehen.

.

Sylvia hatte im Hause zu tun, eine ganze Weile.

Dann wollte sie sich nach Alf-Bübchen umsehen.

Im Eßzimmer war der Kleine nicht, auch nicht im Zimmer nebenan.

Sylvia trat auf die Diele. Sie hörte Lärm vor dem Hause. Die Haustür stand offen.

Mit zwei Schritten war Sylvia auf der Freitreppe draußen, da bot sich ihr ein Anblick, der sie starr machte vor Staunen.

Alf-Bübchen stand inmitten der tiefsten Schmutzpfütze. In jeder Hand hielt er einen seiner geliebten gestrickten Hampelmänner. In kühnem Schwung hob er einen um den anderen über dem Köpfchen hoch, und – klatsch – klatsch – fiel einer um den anderen in die Pfütze. Es ging im Takt, als ob es Dreschsiegel wären.

Das schmutzige Wasser schlug über Alf-Bübchen zusammen. Der helle Anzug, das rosige Schelmengesicht, das Blondhaar, alles war von Schmutzspritzern übersät.

Um den Kleinen herum standen lachende Kinder, die Beifall johlten.

Als Alf-Bübchen Sylvia sah, schlug er noch kräftiger zu und stampfte zum Überfluß auch mit den Füßen.

»Sylve-Müttersen, mis sein Sweinigel!«

»Das sehe ich,« sagte Sylvia trocken. »Laß sein, Alf-Bübchen, das ist unartig.«

Da ließ der Kleine ganz erschrocken die beiden Hampelmänner fallen und hing das Köpfchen.

»Komm zu mir!«

Und Alf-Bübchen trippelte die Stufen hinauf.

Ein kleines Mädchen hatte die beiden übel zugerichteten Hampelmänner aufgerafft und trug sie ihm nach.

Oben stand Alf-Bübchen vor dem Sylve-Mütterchen, die beiden mißhandelten Lieblinge ihm zu Füßen. Sinnend starrte er drauf nieder.

»Sein noch vieler, vieler drößere Sweinigel als Alf-Bübsen. Arme Hampelmännsen.« Mitleidig raffte er sie auf. Sylvia nahm ihn an der Hand und zog ihn ins Haus.

Alf-Bübchen kam wirklich in die Flegeljahre. Lene streckte den Kopf zu Altchens Tür herein. Sie winkte Sylvia, die dort saß und flickte.

»Komm doch emal, Kindche, ich muß der ebbes zeige!« Lenes Gesicht strahlte. Altchen und Sylvia hoben gleichzeitig den Kopf. »Alf-Bübchen?«

Man war jetzt stündlich auf irgend eine neue Heldentat des kleinen Mannes gefaßt. Lene nickte. Sylvia lachte: »Was nun wieder?«

Und sie war neben Lene.

Die legte den Finger an die Lippen und zog sie an der Hand hinter sich her.

Im Schlafzimmer drüben, man konnte es durch die halbgeöffnete Tür deutlich überblicken, war Alf-Bübchen auf einen Stuhl geklettert, den er vor den Waschtisch gezogen hatte. Geschäftig hantierte der Kleine dort herum. Beinahe hätte Sylvia laut aufgeschrieen, doch Lene preßte ihr die Hand auf den Mund.

Aus dem Spiegel über dem Waschtisch sah man sein schneeweißes Gesicht hervorlugen. Alf-Bübchen hatte sich über und über eingeseift. Nur die glitzernden Äuglein waren der einzig dunkle Fleck in dem weißen Gesichtchen. Der kleine Mann sprach mit sich selber.

Jetzt faßte er das winzige Näslein mit spitzen Fingern und hob es hoch. Drunterher fuchtelte er mit Mütterchen Sylvias Zahnbürste.

»Mis mussen doch den darstisen Bart mal weg triesen. Wollen nix so borstis sein wie Derhard. Alf-Bübsen auch Bart haben jetzt, Mann sein.«

Und stolz nickte der Kleine seinem Spiegelbild zu.

Da mußte Sylvia hellauf lachen.

Im Schreck entfiel die Zahnbürste der Hand des kleinen Barbiers. Das Gesichtchen wollte sich zum Weinen verziehen.

Doch schnell besann Alf-Bübchen sich eines besseren.

Durch all den weißen Seifenschaum lachte er dem Sylve-Mütterchen zu: »Mis sein dleis fertis, mis nur noch abwasen. Bart sein son danz fort.«

Konnte Sylve-Mütterchen da zanken? – – Im Garten schien die Sonne so wundervoll warm. August, der neben dem Kutscher zugleich Gärtner war, hantierte pfeifend an den Beeten. Plötzlich winkte er Sylvia, die oben im Erker bei der Arbeit saß. »Freileinche, jetzt komme Se emal do her!«

Sylvia eilte herzu.

»Jetzt, Freilein Sylvche, gucke Se emal do!«

Verständnislos starrte Sylvia auf ein Beet, das ihr nur sonderbar zerwühlt vorkam.

»Fräulein Sylvche, jetzt gucke Se emal mei Tulpe!«

»Ich verstehe nicht –«

»Ei, die sin doch all verkehrt eingepflanzt. Die waren schon so schen am ausschlage. Do hot mer se der klei Racker eraus gerisse und se verkehrt wieder enein gestoppt. Do gucke Se nor, gucke Se!«

»Alf-Bübchen?« Sylvia war ganz starr.

Eben trottete der kleine Sünder von der Straße her ums Haus herum. Kurios sah er aus. Sein Blusenkittelchen war fort. Die Höschen waren im Rutschen, und er hielt sie krampfhaft mit beiden Fäusten gepackt. Dabei schleifte er einen alten Lumpen neben sich her.

»Alf-Bübchen, wie sieht du aus?«

»Was haste dann mit meine Tulpe angestellt?«

Die Fragen kamen fast zugleich.

Alf-Bübchen lachte August ins Gesicht.

»Alf-Bübsen auch mal Därtner wesen. Haben arme tleine Tulpen rumdreht. Sollen unten auch mal Sonne sehen. So lang in dunkle Boden drin west.«

»Ha, ha, ha, ha!« prustete August los.

Alf-Bübchen sah ihn ungewiß an.

»Du nix mussen lachen. Sein so dräßlich talt und duntel da drin. Arme tleine Tulpen!«

August konnte nur lachen.

»Aber wie siehst du aus, Alf-Bübchen? Wo ist dein Kittelchen?«

Mütterchen Sylvia fragte es jetzt sehr eindringlich. Alf-Bübchen sah an sich nieder.

»Alf-Bübsen haben Tittelchen tleine Jung deben. Tleine Jung haben so srecklich rissenes andehabt. Mis sagen: tleine Jung, du mis rissenes deben. Sylve-Müttersen dern danz machen. Da, hier sein kleine Jung sein Tittelsen. Sein sauderhaft, dräßlich rissen. Sylve-Müttersen da, du flicken.«

Dabei schob er mit beglückender Miene den schmutzigen, übelriechenden Fetzen Sylvia zu.

Die wußte nicht, ob sie lachen oder schelten sollte.

»Andre tleine Jung haben Hosenträger wollen. Haben dar teine nicht dehabt. Mis haben meine deben. Papa Alf-Bübsen neue taufen.«

August hatte sprachlos zugehört. Jetzt warf er die Hacke fort. »Na, da soll doch gleich. Wart, ich will die Bengel schon krieche. Das arme kleine Engelche so zu mißbrauche. Dene will ich des Handwerk lege.«

Wie der Blitz war er um die Ecke, nachdem er das »rissene Tittelsen« erst aufgerafft hatte.

Alf-Bübchen starrte verständnislos hinter ihm drein.

»Alf-Bübchen,« sagte Mütterchen Sylvia nur sehr ernst, »du darfst nichts verschenken, ohne Papa oder mich zuvor zu fragen. Willst du das versprechen?«

Alf-Bübchen tat sehr zerknirscht. Ganz wohl war ihm in seiner jungen Haut bei der Sache ohnehin nicht gewesen.

Der Vater und Altchen amüsierten sich stets köstlich über Alf-Bübchens Abenteuer und waren ganz enttäuscht, wenn Sylvia einmal nichts zu berichten hatte.

»Das Kerlchen wird urdrollig,« sagte Doktor Eriksen, »aber weißt du, Grasmückchen, es taugt doch nicht auf die Dauer. Die Streiche könnten mit der Zeit weniger harmlos werden. Alf-Bübchen muß eine Beschäftigung haben.«

Altchen nickte mit dem Kopfe.

»Das glaube ich auch, Sohn. Ich habe schon an einen Kindergarten gedacht.«

Sylvias Augen standen voll Tränen.

»Muß das sein? Ich will das Kerlchen nicht aus den Augen lassen. Nur tut's nicht fort. Die Schule kommt bald genug. Bitte, bitte, mir zuliebe!«

»Wie unsinnig, Grasmückchen. Für den kleinen Mann, der so einsam ist, wäre es das beste, unter Kinder zu kommen. Und du, Grasmückchen, du könntest dann doch einmal Trudes Einladung folgen. Sie ist wegen deiner steten Weigerung, sie zu besuchen, ganz böse auf dich, sagt mir ihr Vater.«

»Macht nichts Vaterherz. War die Trude schon oft. Sie weiß drum doch, daß ich sie lieb habe,« entgegnete Sylvia. »Ihr geht doch wahrlich vor, und solange ich daheim nötig bin –«

Sylvia umfaßte den Vater und sah ihm tief in die Augen.

»Das Grasmückchen muß eben immer seinen Willen haben,« sagte der leise. »So ein eigensinniges Grasmückchen.«

Es klang wie Tadel. Aber in dem Blick, womit er sein Kind ansah, war nichts davon zu lesen.

Altchen schwieg. Ihr warmer Blick aber, der die beiden umfaßte, sprach umso deutlicher.

Und so kam wieder Ostern heran.

In dem alten Doktorhause war es gar still.

Wenn Alf-Bübchen auch noch so sehr lachte und jauchzte und niedliche Streiche die Menge lieferte, die den Brüdern alle getreulich berichtet wurden, eben diese abwesenden Brüder mit der Lust und dem Leben, das sie in die heimischen Mauern brachten, konnte Alf-Bübchen doch nicht ersetzen. Ja, es war sehr, sehr stille daheim.

Etwas Leben brachten die Depeschen von dem glücklich bestandenen Examen von Achim und Dieter.

»Sitzen in der Tinte! Achim, Dieter,« hatte die erste gelautet.

Diese Nachricht konnte man nun deuten, wie man wollte. Mütterchen Sylvia ließ den Kopf hängen und machte an dem Tag vielerlei verkehrt.

»Wollen auch mal Tintenbub sein wie Alf-Bübchen?« hatte der kleine Mann schelmisch gefragt.

Da hatte Mütterchen Sylvia doch lächeln müssen. Es war aber auch für diesen Tag das einzige Lächeln geblieben.

Anderen Tags kam die Erlösung.

»Durch! Achim, Dieter.«

So lautete die zweite Depesche.

»Ob das nun durchgepurzelt oder durchgekommen heißen soll, Grasmückchen?« schmunzelte Doktor Eriksen und versuchte sein lachendes Gesicht in bedenkliche Falten zu ziehen.

Aber Sylvia wußte Bescheid.

»Solche Jungen, Vaterherz, solche Jungen,« sagte sie ganz gerührt und lachte den Vater an.

»Machen uns alle Ehre, Sylve-Mütterchen, was? Nun aber zu Altchen!«

Es war ein großes Freuen in dem alten Hause.

Und noch größer wurde das Freuen, als gegen Abend auch eine Depesche von Gerhard eintraf.

»Examen glücklich bestanden, hurra! Gerhard.«

Der Bescheid über den Ausgang seines Examens, das schon einige Zeit hinter ihm lag, mußte wunderbarerweise am selben Tag eingetroffen sein, an dem die Brüder vor der Entscheidung standen.

»Das ist ein Zusammentreffen, so ein schönes Zusammentreffen,« jubelte Sylvia. »Meine Jungen, nein, meine Jungen!«

Ihr Gesichtchen war wie verklärt. Sie flog durchs Haus, als ob sie beflügelte Sohlen habe, und ihr Vogelstimmchen zwitscherte so lustig und hell, wie es lange nicht geklungen hatte.

Alf-Bübchen trippelte hinterher.

»Sein droße Staatsjungens,« sagte er wichtig. »Alf-Bübsen auch Staatsjung werden.«

Am Abend wurde »Festkommers« bei Altchen gefeiert, wie Doktor Eriksen sagte.

Alf-Bübchen hatte aufbleiben dürfen, und Sylvia hatte die Bilder aller Brüder dazu auf den alten runden Tisch gestellt. Die Bilder der drei Tageshelden waren bekränzt.

Sie stießen an, die vier: Altchen, der Vater, Sylvia und Alf-Bübchen – ungleiche Zechkumpane.

»Unsere Jungen!«

Alf-Bübchen jubelte am lautesten.

»Wenn erst unser Alf-Bübchen Examen macht,« sagte Sylve-Mütterchen, »was tun wir dann?«

Ein Schatten glitt über Alf-Bübchens Sonnengesichtchen.

»Mis nix Examen machen. Mis nix fort dehen. Mis immer bei Sylve-Müttersen bleiben.«

»Aber Alf-Bübchen, du wirst doch groß und mußt auch einmal in die weite Welt hinaus und –«

»Mis nix droß werden, nix Welt inaus. Mis immer dein lieb Alf-Bübsen bleiben!«

Der Kleine war erregt und ärgerlich, und Sylve-Mütterchen schwieg.

Und dann war der frohe Abend zu Ende. Der letzte frohe Abend für lange, lange Zeit.

Es war Juni geworden mittlerweile.

Achim und Dieter standen als wohlbestallte Leutnante bei der Gardeartillerie in Spandau. Ihre Berichte waren andauernd auf den höchsten Ton gestimmt.

Gerhard schrieb an seiner Doktordissertation und blieb an Ort und Stelle, der ihm an der Universität besser zu Gebote stehenden Quellen wegen.

Von Jörg und Heinz liefen fortwährend gute Nachrichten ein. Beide trabten mit Ernst und gutem Willen auf dem glücklich wieder eingeschlagenen rechten Wege vorwärts.

»Prächtige, gute Burschen,« schrieb der Professor, »die nur einer festen Hand bedürfen.«

Alles war so gut und so schön.

Kein Wölkchen trübte den Horizont, wohin Sylvia auch schaute.

Aus dem Schatten, der einmal über ihren sonnigen Weg geglitten war, war Sylvia längst wieder in die Sonne getreten. Auch im Herzen tief innen war Sonnenschein.

Gerhard hatte ja zuweilen Gutes vom Freunde berichtet. Er schien das Reisen von Grund der Seele aus zu genießen.

Seinen Weg also hatte Sylvias Entschluß auch nicht in dauernde Finsternis gelenkt.

Gott war so gut und das Leben so schön!

Da kam eine böse, böse, drohend schwarze Wolke.

Das Essen war eines Abends abgetragen.

Doktor Eriksen saß noch am Tisch. Aber anstatt wie sonst behaglich aus seiner Pfeife zu paffen, hatte er den Kopf in beide Hände gestützt.

Der Lampenschein lag auf seinem Blondhaar, aus dem spärliche silberne Fäden aufleuchteten.

Sylvia war noch einmal bei Alf-Bübchen oben gewesen. Geräuschlos glitt sie zu dem Vater hin und schlang die Arme um seinen Hals.

»Müde, Vaterherz? War der Tag so schwer?«

»Das war er, Grasmückchen, das war er.« Doktor Eriksen seufzte. »Ich habe viel Leid gesehen. Wieder habe ich zwei kleinen Kindern die Augen zugedrückt. Es nimmt allmählich den Charakter einer Epidemie an. Gott schütze uns!«

»Immer die Masern, Väterchen?«

»Ja, Kind, aber sie werden bösartig. Diphtherie und Lungenentzündung sind im Gefolge. Auch Erwachsene erliegen. Mir ist sehr, sehr bange.«

»Armer Vater, immer so Schweres sehen zu müssen. Komm zu Altchen, Vaterherz. Im Friedensport erholst du dich. Da dringt das Leid nicht hin.«

»Das walte Gott!«

Sie saßen bei Altchen.

»Wo Geld lindern kann, Sohn, da weißt du, wo du's findest. Die Alte sitzt und wartet nur, ob einer sie und ihre Hilfe braucht.«

Doktor Eriksen nickte stumm.

»Dem Peter Müller haben sie heute den ältesten Jungen begraben, ein Kerlchen wie Alf-Bübchen. Zwei kleinere liegen schwer krank. Der Mann ist ganz gebrochen. Hüte nur unser Alf-Bübchen, Grasmückchen, hörst du.«

Sylvia sah ihn mit starren, entsetzten Augen an.

»Alf-Bübchen? Glaubst du –«

Doktor Eriksen senkte den Kopf.

»Kind, ein Arzt hat's schwer, unsagbar schwer. Der Vater in ihm darf wenig oder nicht zu Wort kommen. Als Arzt muß er an jedes Krankenbett treten, und der Vater darf nicht danach fragen, ob er den Liebsten daheim damit die Gefahr ins Haus trägt. Der Herr behüte uns alle.«

Ernst trennten sie sich für die Nacht.

Und die Gefahr wuchs.

Die Epidemie wütete, die Sterblichkeit mehrte sich von Tag zu Tag. Jammer und Herzeleid waren fast in jedem Hause zu Gast.

Im alten Doktorhause hatte man sich ganz in die oberen Räume zurückgezogen. Der Saal war zum Familien- und Eßzimmer eingerichtet. Alf-Bübchen hatte strengen Befehl, niemals und nie allein nach unten zu gehen.

Dort gingen die Patienten, die Hilfesuchenden ein und aus, das war nicht zu vermeiden. Da konnte die Gefahr kommen, man wußte nicht wie.

Man hatte davon gesprochen, daß Sylvia mit Alf-Bübchen vollständig in den Garten übersiedeln solle. Aber das Wetter war in diesem Jahr, ganz dem Kalender entgegen, noch abnorm rauh. Ein Aufenthalt in dem leichtgebauten Sommerhäuschen war noch kaum denkbar trotz des Juni.

So hatte man die Auskunft mit dem Übersiedeln nach oben gefunden. Doktor Eriksen brauchte alle erdenklichen Vorsichtsmaßregeln, ehe er die Seinen aufsuchte – mehr ließ sich nicht tun.

Man mußte eben auf Gott vertrauen, daß er die Gefahr gnädig ablenke.

Noch immer war die Epidemie im Steigen.

Doktor Eriksen kam fast nicht aus den Kleidern. Des Nachts gellte die Glocke wieder und wieder durchs Haus, die ihn zu den Kranken und Sterbenden rief.

Nun beschränkte sich die verheerende Krankheit nicht nur auf die Kinder, auch Erwachsene erlagen ihr in Menge. Namentlich junge Menschen.

Viel Jammer und viel Not war überall.

Doktor Eriksen mit dem weichen, guten Herzen litt unsäglich unter all dem Leid, davon er täglich Zeuge sein mußte, und das er doch nicht abwehren konnte.

Machtlos mit all seinem Wissen, all seinem Können stand er dem Furchtbaren gegenüber.

Nur selten gelang es jetzt Sylvia, ein Lächeln in des Vaters ernste Züge zu locken. Die Augen, die dem Tod jetzt täglich ins Antlitz schauen mußten, waren ernst, so ernst geworden.

Altchens Friedensport war nun Sylvias einzige Zuflucht.

Still und ernst saßen die beiden da zusammen, und hüteten ihr Kleinod – Alf-Bübchen.

Wenn man dem spärlichen Sonnenschein ein wenig die Fenster öffnete, klang der traurige Hall der Sterbeglocke ins Zimmer herein.

Des Herrn Hand lag schwer auf der kleinen Stadt.

Wie froh war Sylvia nun, daß Jörg und Heinz fern der Gefahr waren. Sie wären schwer zu hüten gewesen.

Leichter war das mit Alf-Bübchen. Sylvia ließ ihn einfach nicht aus den Augen. Der Kleine beschäftigte sich in seinem Spielwinkel in Altchens Zimmer. Einmal des Tags ging er an Sylvias Hand spazieren, und da wurde dann stets eine Zeit gewählt, wenn es unten leer war von Patienten, die den Vater aufsuchten.

So schlichen die Tage hin. An jeden heftete sich das Bleigewicht von Kummer und Herzeleid – die Sonne schien gar nicht mehr hervorkommen zu wollen.

Noch war es nur fremdes Leid, fremde Not, die schwer auf den Bewohnern des alten Doktorhauses lastete, aber es kam ein Tag, wo Frau Sorge auch an die eigene Pforte pochte und Einlaß begehrte.

Und wo sie pochte, die graue, unheimliche Gestalt, da half kein Versperren, kein Verrammeln. Sie erzwang sich den Eintritt und hielt Einzug mit ihrem Gefolge von Jammer und Herzeleid.

Auch das alte Doktorhaus mußte ihr seine Pforte weit, weit öffnen.

Es war ein heller, klarer Tag, einer von den spärlichen Sommertagen der letzten Wochen. Leuchtend stand die Sonne am Himmel oben, und strahlte in einer Pracht, als habe es nie Wolken und graue Nebel gegeben.

Altchens Fenster waren alle weit geöffnet, den milden Hauch einzulassen. Nur ab und zu noch zog der dumpfe Hall der Glocke, die so Banges kündete, durch die Luft. Aufatmen und Friede nach der schweren Zeit der Not schienen wieder Einkehr halten zu wollen.

Auch des Vaters Augen hatten etwas weniger bang dreingeschaut. Etwas vom alten frohen Schein hatte drin aufleuchten wollen.

»Grasmückchen, ich glaube, wir zwingen nun den grimmigen Feind. Fast liegt er schon zu Boden. Noch ein paar Wochen –«

Und wie in erlösendem Atemzug dehnte sich die breite Brust.

»Wie glücklich will ich sein, Vaterherz, deinetwegen – und um all der anderen Menschen willen.«

»Um unser aller willen, Kind,« sagte Doktor Eriksen ernst. »Du ahnst gar nicht, wie groß die Gefahr war. Und noch ist sie nicht vorüber, Grasmückchen, noch nicht. Also immer Vorsicht!«

»Keine Bange, Väterchen,« entgegnete Sylvia lachend.

Ja, das Grasmückchen lachte wieder. Lange hatte der Vater den Ton nicht gehört. Er klang ihm noch im Ohr nach, als er danach am Bett eines kleinen Patienten stand, den er der Faust des grimmen Feindes hatte entreißen dürfen.

Gottlob, die Wendung war da!

Sylvia kam singend die Treppe von oben, aus der fernen Brüder Reich herunter.

Jörg und Heinz hatten um allerlei leichtere Kleidungsstücke gebeten. Die sollten sie heute haben.

Sylvia streckte den Kopf zu Altchens Tür herein.

»Altchen –«

Altchen nickte. Sie lag im Sessel zurückgelehnt und hatte die Augen geschlossen. Das Strickzeug war den nimmer rastenden Händen entglitten. Ein verklärender Sonnenstrahl lag auf dem lieben alten Gesicht.

Sylvia legte mechanisch den Finger auf die Lippen. Ebenso mechanisch glitt ihr Blick in Alf-Bübchens Spielwinkel.

Leer!

Ein unklares Angstgefühl packte sie, um alsbald heißem Schreck, starrem Entsetzen Platz zu machen.

Sie hörte Alf-Bübchens Zwitscherstimmchen unten von der Diele her. Ein fremdes Kinderstimmchen antwortete.

Eben sagte Alf-Bübchen: »Danz tot?«

»Ja, ganz dot,« sagte das fremde Stimmchen. »Sie hawenen in de Sarg gelegt und hawenen auf em Kirchhof vergrawe, und Blume hat er gekricht, und ich hab' auch derbei sein dirfe.«

Alf-Bübchen schlug die Händchen zusammen und jubelte: »Mis willen auch Blumen haben, mis willen auch beisein!«

»Awer do muß mer weine!«

»Weinen? Alf-Bübsen nix weinen. Tomm, Mädelsen, mit Alf-Bübsen spielen.«

Wie gelähmt hatte Sylvia oben an der Treppe gestanden und dem Stimmchen gelauscht.

Jetzt schrie sie auf: »Alf-Bübchen! Zu mir!«

Sie flog die Treppe hinunter.

Quer über die Diele trippelte Alf-Bübchen, ein kleines Mädchen an der Hand.

Wortlos riß Sylvia den kleinen Mann an sich. Wortlos flog sie mit ihm die Treppe hinauf und rettete ihn in Altchens Zimmer.

Die Kleine stand unten, hob das Fingerchen zum Mund, sah sehr verängstigt drein und begann bitterlich zu schluchzen.

Da öffnete sich die Tür zu Doktor Eriksens Sprechzimmer. Des Kindes Mutter kam heraus.

Sie sah sehr gebeugt und elend aus. Zwei Kinder hatte sie begraben und das dritte nur mit knapper Not ins Leben gerettet.

»Worum flennste?«

»Ei, des Bibche war do. Ich hab' mit em spiele solle, awer sie hot en jo fortgetrage.«

Doktor Eriksen, der hinter der Frau aus der Tür getreten war, hatte es gehört und begriffen.

»Alf-Bübchen!«

Es klang wie ein Schrei.

»Weshalb bringen Sie die Kleine mit?« herrschte er die Frau an. »Sie wissen doch, daß man den Tod von Haus zu Haus tragen kann.«

Die Frau war leichenblaß geworden.

»Verzeihe Se, Herr Doktor. Unsereins hat ewe niemand ze Haus, und ich hab' Angst gehabt, das Marieche kennt sich verkälte, da hab' ich se liewer mitgenomme und –«

Doktor Eriksen hörte schon lange nicht mehr. Er lief die Treppe hinauf und in Altchens Zimmer.

Zitternd trat ihm Sylvia entgegen, das angstvolle Gesicht von Tränen naß.

»Alf-Bübchen. Vater –«

»Ich weiß, Kind, ich weiß.«

Altchen jammerte. »Ich trage die Schuld, Sohn, die Alte schlief auf ihrem Posten ein. Sie taugt nicht mehr.«

In den alten Augen standen Tränen.

Alf-Bübchen sah verständnislos mit erschrecktem Gesichtchen von einem zum anderen und begann plötzlich bitterlich zu schluchzen.

Doktor Eriksen hob ihn von Altchens Schoß auf seinen Arm.

»Still, Alf-Bübchen, nur still!«

»Mädelsen sein Brüdersen sein danz tot. Alf-Bübsen wollen auch Blumen haben!«

Fester preßte der Vater sein Kind an sich.

»Still, Alf-Bübchen, still!«

Verhaltene Angst lag in der Stimme.

Bei Alf-Bübchen schlug die Stimmung plötzlich um.

Er schmiegte das Gesicht an Vaters Bart und griff mit beiden Händchen zausend hinein.

»Böse Bart, mis titzeln, müssen furchtbar dräßlis zausen!«

Fast leidenschaftlich schlang Doktor Eriksen den Arm um den Kleinen.

»Au, du mis weh tun. Mis wollen zu Sylve-Müttersen dehen,« sagte er schon wieder ganz weinerlich.

»Nimm den Bengel,« sagte Doktor Eriksen nun mit erzwungener Heiterkeit und reichte ihn Sylvia hin. »Kopf hoch, Grasmückchen, nur Ruhe, Altchen! Von irgend welcher Schuld kann ja überhaupt nicht die Rede sein. Es war eben eine Verkettung von Umständen, die sich nicht ändern läßt. Nur nicht zagen! Grasmückchen geht und zieht den kleinen Mann um. Wasche ihn gründlich, Grasmückchen, ich schicke dir eine Lösung herauf, die du ins Wasser tust. Ich muß fort, lebt wohl, ihr Lieben; Kopf hoch, hört ihr! Bange machen gilt nicht!«

Damit war er gegangen.

So sorglos, wie er sich gab, war ihm nicht zumute.

Voll Eifer tat er seine Pflicht, eilte vom Krankenbett zum Sterbebett, spendete Rat und Hilfe, wo immer man dessen bedurfte. Aber sein Herz war daheim bei den Liebsten.

Was würde er am Abend dort finden?

Und er fand anscheinend alles beim alten.

Sylvia kam ihm freudestrahlend entgegen.

Alf-Bübchen hatte den ganzen Tag munter gespielt; mit gutem Appetit gegessen und schlief nun ruhig und fest.

Sylvia schlang die Arme um des Vaters Hals.

»Väterchen, Gott ist gut!«

»Wohl, Grasmückchen, hoffen wir das Beste.«

Sie hatte kein Ohr für den gepreßten Ton, sie war zu glücklich. Sie war ja noch zu jung, und die Jugend lebt dem Tag.

Am folgenden Abend trat Sylvia dem Vater anders entgegen. »Alf-Bübchen ist sehr aufgeregt, Vater. Er war den ganzen Tag schon krittelig und kann nicht schlafen.«

Still trat Doktor Eriksen an Alf-Bübchens Bett.

Alf-Bübchen sah ihn mit großen, glänzenden Augen an. Der kleine Mund war eigensinnig verzogen.

»Mis willen nix slafen, mis willen spielen. Du nix brauchen nein sagen. Alf-Bübsen wollen wieder mal böse Slingel sein.«

»Gut, Alf-Bübchen. Was wollen wir spielen?«

Der kleine Mann war offenbar auf Widerstand gefaßt gewesen, diese bereitwillige Nachgiebigkeit entwaffnete ihn sofort.

»Mis nix spielen, mis slafen.«

»Gut, soll ich dir ein Geschichtchen erzählen?«

Erstaunt sah Alf-Bübchen den Vater an. Das war noch nie vorgekommen.

»Du können Sichtchen zählen? Ja? Mis das dar nist wußt haben. Du zählen!«

Doktor Eriksen saß fest. Erzählen war nicht seine starke Seite.

»Es war einmal …,« begann er. Das war der sicherste und beste Anfang.

Alf-Bübchen dachte anders.

»Mis nix wollen war einmal, alte dumme war einmal! Wollen vieler andere Desiste haben.«

Alf-Bübchen war ganz rot und ärgerlich.

Sylvia wollte sich ins Mittel legen. Doktor Eriksens Ehrgeiz aber war erwacht.

»Heute war ich bei einem kleinen Jungen –«

Alf-Bübchen spitzte die kleinen Ohren. »Mariesen sein Brüdersen, ja?«

»Nein, mein kleiner Junge hatte kein Schwesterchen. Er ist seiner Mutter einziger lieber kleiner Junge.«

»Mis sein Mama im Himmel, oben sein lieber tleiner Junge, mis wollen Mama dehen.«

Alf-Bübchen machte ein ganz weinerliches Stimmchen.

Aber der Vater fuhr sehr ruhig fort: »Der kleine Junge, von dem ich erzähle, konnte nicht schlafen. Und da weinte seine Mama und sagte: schlaf doch, mein Söhnchen, schlaf. Der liebe Gott schickt dir auch ein Traumengelein, das spielt mit dir und –«

»Mis willen auch Traumengelein haben, mis –«

»Und da schlief der kleine Junge ein und seine Mama –«

»Mis willen auch slafen, mis willen furchtbar dräßlis dern slafen.«

Alf-Bübchen drückte plötzlich das Köpfchen ins Kissen und kniff die Äuglein zu.

Doktor Eriksen strich ihm über die weiche Stirn und faßte nach des Kleinen Puls. Angstvoll hingen Sylvias Augen an dem Vater.

Er nickte ihr zu.

»Kopf hoch, Grasmückchen, 's ist kein Fieber da.«

Sylvia atmete auf.

Der kleine Mann schlief dann ein. Aber in der Nacht schlief er sehr unruhig. Und anderen Tags war eben doch das Fieber da. Doktor Eriksen mußte es zugeben.

»Mut, Grasmückchen,« sagte er freilich, »nur Mut. Es kann nur ein verdorbener Magen sein. Noch sind keine roten Flecke vorhanden!« Aber sehr zuversichtlich klang die Stimme nicht.

Auch die roten Flecke kamen.

Die böse Krankheit, die schreckliche Krankheit war da. Der grimme Feind hatte Einzug gehalten in dem Hause, das so lange verschont geblieben war.

Jetzt galt es, ihn zu bekämpfen.

Sylvia wich Tag und Nacht nicht von dem Lager des Lieblings. Jede Hilfe wehrte sie ab, sie wollte von keiner Pflegerin hören.

Und der Vater ließ sie gewähren. Er wußte, in Zeiten der Not erhalten wir doppelte Kraft, unsere Pflicht zu tun. Da eint Liebeskraft sich der Körperkraft, und die beiden leisten Undenkbares.

Bei Alf-Bübchen nahm die Krankheit zuerst einen ganz normalen Verlauf.

Der Ausschlag trat kräftig zutage. Der kleine Mann hatte wenig Fieber und war verhältnismäßig munter und bei gutem Appetit.

Doktor Eriksen fing an zu hoffen – sollte der Leidenskelch so an ihnen vorübergehen?

Wie er es heiß erflehte, um des geliebten Jüngsten, um des Grasmückchens willen! Er selber, wenn es sein mußte, er war im Feuer gefestet, er hatte den bitteren Trank schon einmal bis zur Neige geleert. Und seinen starken Mannesschultern ließ sich gar mancher Pack aufbürden. Das Grasmückchen aber, das Grasmückchen, das würde zusammenbrechen unter der Last, wenn – wenn –

Doktor Eriksen konnte den Gedanken nicht zu Ende denken.

Alf-Bübchen wollte das Sylve-Mütterchen nicht von der Seite lassen. Alf-Bübchen war ein sehr anspruchsvoller kleiner Patient in diesen ersten Tagen.

»Sylve-Müttersen, mis sein so sauderhaft dräßlis langweilig. Du mussen spielen mit mir. Du mussen vorlesen. Du mussen Desiste zählen.«

So ging's von früh bis spät; und geduldig erfüllte Mütterchen Sylvia den geringsten Wunsch ihres kleinen Patienten.

Alf-Bübchen fühlte sich stark als der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Er heischte Tribut auch von den fernen Brüdern.

»Sylve-Müttersen müssen droße Jungens sreiben, arm tlein Alf-Bübsen sein danz sauderhaft dräßlich trank. Sein Osterei worden!«

Schelmisch lachte der kleine Mann und besah die rotgesprenkelten Händchen. Der Vater hatte heute früh gefragt: »Nun, wie geht's denn heute meinem kleinen Osterei?«

Und Alf-Bübchen-Osterei hatte der Witz sehr gefallen.

Wie Sylvia jede Miene des kleinen Lieblings belauschte! Wie jedes Lächeln ihr Sonnenschein brachte, jeder Wehelaut ihr Pein gab!

Abends stieg dann wohl das Fieber, und Alf-Bübchen wurde erregter und flüsterte Unzusammenhängendes vor sich hin. Aber nach Mitternacht fiel die Hitze, der Schlaf kam, und morgens sah Alf-Bübchen aus fast klaren Äuglein in die Welt und in Mütterchen Sylvias Sorgengesicht.

Täglich kamen von den Brüdern Anfragen, täglich gingen Berichte an sie ab.

Auf Alf-Bübchens Bettchen lagen die Briefe, und der kleine Mann wußte jedes Wort auswendig, das sie enthielten. Er kam sich ungeheuer wichtig vor.

Altchen wurde jeden Morgen zum kleinen Kranken ans Bett gerollt.

»Mis immer noch trank sein, Altsen,« begrüßte sie der Kleine allmorgendlich, »aber mis bald wieder sund werden: Papa sagen.«

Altchen nickte mit dem lieben stillen Gesicht.

»Das will ich hoffen, Alf-Bübchen. Altchen ist sehr allein ohne ihren kleinen Spielkameraden.«

»Armes Altsen,« sagte dann Alf-Bübchen sehr nachdenklich. »Du nix sollen lein sein, du darfen Alf-Bübsen sein Saukelpferd haben. Dann du sehr verdnüst sein, ja?«

Altchen nickte lächelnd. »Danke, Alf-Bübchen, du bist sehr gut. Aber was schreiben denn die Brüder?«

Und mit wichtiger Miene kramte Alf-Bübchen die Briefe vor, deutete mit dem Fingerchen die Zeilen entlang und las dazu ungefähr, was Mütterchen Sylvia ihm zuvor vorgelesen hatte. Die drolligsten Wendungen kamen zu Tag, aber Altchen hütete sich, den kleinen Mann durch Lachen aus der Fassung zu bringen.

Und Sylvia stand glückselig daneben, ihr braunes Gesichtchen leuchtete und strahlte, und ohne daß sie's wußte, liefen ihr Tränen über die Wangen – Freudentränen!

Ja, es schien wirklich, als ob der Leidenskelch an den Einwohnern des alten Doktorhauses ungeleert vorübergehen sollte.

Doktor Eriksen fuhr eben am Hause vor. Müde, sehr müde stieg er aus seinem Wagen. Es lastete so unbegreiflich schwer auf ihm, obgleich er heute vor keinem einzigen Sterbebett hatte stehen müssen, und obwohl daheim die tiefen Schatten sich gnädig lichten wollten.

Er fühlte eben doch allmählich die Nachwirkungen der schrecklichen Zeit, die hinter ihm lag. Er mußte sich Ruhe gönnen, wenn erst Alf-Bübchen –

Sylvia flog ihm die Treppe herunter entgegen.

»Väterchen, ich muß es dir gleich sagen. Denke dir, Alf-Bübchen ist plötzlich so viel wohler. Die roten Flecken sind fast ganz weg. Väterchen, Väterchen, unser Alf-Bübchen ist gerettet!«

In dem Eifer und dem Jubel, womit sie den Vater empfing, sah sie dessen Erschrecken, dessen Erblassen nicht.

Er machte sich frei und hastete die Treppe hinauf, sie ahnungslos hinter ihm her.

Droben sah ihm Alf-Bübchen mit unnatürlich glänzenden Augen entgegen. Der Kleine streckte dem Vater triumphierend beide Händchen hin.

»Mis nix mehr Osterei. Da! Mis sein wieder danz tlein sauber lieb, sund Alf-Bübsen!«

Der Vater faßte die kleinen Händchen, er preßte sie an sein Gesicht.

»Still, still, Alf-Bübchen, leg dich hin, du erkältest dich.«

Der Kleine rang seine Händchen los und fuhr zausend in des Vaters Bart.

»Alte, dumme Bart immer titzeln. Alf-Bübsen nix legen Alf-Bübsen sein sund, Alf-Bübsen –«

Plötzlich wurde das helle Stimmchen rauh und ein Hustenanfall brach aus der kleinen Brust.

Angstvoll hüllte der Vater den kleinen Mann in seine Decken.

»Au,« klagte Alf-Bübchen, »mis mussen Nadel sluckt haben. Stesen so sauderhaft dräßlich hier und hier.«

Und der kleine Mann weinte plötzlich laut auf und preßte die Händchen gegen die Brust.

Totenblaß, wortlos hatte Sylvia daneben gestanden. Sie begriff urplötzlich, was vorging. Ein Blick in des Vaters Gesicht, der das Ohr gegen die kleine kranke Brust gelegt hielt, hatte es ihr gesagt.

Vater hob den Blick nicht, er konnte seinem Kind nicht ins Auge sehen. Er fürchtete, sie lesen zu lassen, was in dem seinen geschrieben stand. Das Urteil, das Todesurteil für den Jüngsten, den Liebling, das Herzblatt der Familie – das Todesurteil für Alf-Bübchen!

Der Kleine war in einen leichten unruhigen Schlummer gefallen. Immer noch kauerte der Vater mit gesenktem Kopf vor dem Lager.

Da legte sich eine Hand auf sein Haupt. Eine leise Stimme flüsterte.

»Vater, sieh auf!«

Fast scheu tat er es.

»Ist's eine schlimme Wendung, Vater?«

Er senkte den Kopf.

Da, ganz dicht an seinem Ohr: »Lungenentzündung, Vater?«

Sein Kopf fiel noch tiefer. Ein heiserer, erstickter Laut, wie ein Aufschluchzen – dann eine Pause.

Und dann faßten zwei weiche Hände nach seinem Kopfe und hoben ihn sanft empor. Ein tränenüberströmtes Gesicht preßte sich an seines, aber der Blick, der ihn aus seines Kindes Augen traf, war ernst und fest und still, und so war die Stimme, die ihm zuflüsterte: »Mut, Vaterherz, nun müssen wir durch. Vergiß nicht, Gott ist gut!«

Das Grasmückchen tröstete ihn.

Das Grasmückchen fand dazu noch Kraft in all dem eigenen zehrenden Schmerz.

Er richtete sich auf, legte den Arm um sein Kind, und so saßen sie am Lager ihres kleinen Kranken und behüteten dessen fieberhaft unruhigen Schlummer.

Die Schmerzen in Alf-Bübchens Brust wuchsen, das Fieber stieg.

Bitterschwere, entsetzliche Tage folgten. Sie wußten es längst alle im Hause: da oben an dem kleinen Lager wurde ein Kampf gekämpft, der verzweifelte Kampf um ein geliebtes, dem Tode verfallenes Leben.

Auf den Zehen schlichen sie umher mit verweinten Augen, Lene und Anna. Und wenn sie ab und zu den Kopf ins Krankenzimmer steckten und dort die stille geduldige Gestalt am Lager des kleinen Kranken sitzen sahen, und ein Blick sie traf aus den ernsten, geistesabwesenden, ach so tottraurigen Augen, da brauchten sie alle ihre Kraft, um nicht laut hinauszuweinen.

Altchen in ihrem Leidensstuhl, an den sie festgeschmiedet war, Altchen hielt das Haupt geneigt und die sonst so rastlos fleißigen Hände gefaltet. Altchen hatte das schwerste Teil zu tragen. Die andern konnten was tun, sich mühen, konnten lindern, helfen. Sie mußte sitzen und harren, harren auf das Unabwendbare, das Nahende. Aber Altchen murrte nicht und bäumte sich auch nicht auf gegen das Schwere. Stille Ergebung lag in dem Blick, der in fremde Fernen schaute.

»Herr, wie du willst,« flüsterten die welken Lippen.

Alter macht stille. –

Sylvia saß an Alf-Bübchens Schmerzenslager Tag und Nacht, Nacht und Tag.

Die Welt war versunken für sie, ihr ganzes Leben konzentrierte sich in der kleinen Gestalt, die da vor ihr niedergestreckt war von der grausamen Schicksalshand.

Alf-Bübchen litt große Schmerzen. Wie das dem Sylve-Mütterchen in die Seele schnitt.

Im Fieberwahn rief Alf-Bübchen nach Mütterchen Sylvia, jammervoll, flehend, unablässig.

Und ob sie sich über ihn neigte, ob sie die kleinen tastenden Hände faßte, ob sie die brennende Stirn kühlte, immerfort tönte das klagende heisere Stimmchen:

»Sylve-Müttersen, warum du fort dehen? Warum du nicht bei Alf-Bübsen bleiben? Arm tlein Alf-Bübsen sein so dräßlich sauderhaft trank. Sylve-Müttersen! Sylve-Müttersen!«

In jammervollem Weinen verklang das Stimmchen, um bald danach von neuem zu flehen, zu klagen.

Sie neigte sich über das Bettchen, der Jammer erstickte ihr fast die Stimme.

»Alf-Bübchen, da bin ich ja, Sylve-Mütterchen geht nicht von dir.«

Einen Augenblick lauschte dann wohl der Kleine wie fernen liebvertrauten Klängen. Die trüben, schweren Blauäugelein mit dem erloschenen Blick streiften das Gesicht, das sich zu ihnen bog, um gleich danach irr und fremd weiter zu schweifen.

Und wieder setzte die leise erschütternde Klage ein: »Sylve-Müttersen zu Alf-Bübsen kommen! Sylve-Müttersen nix fort dehen! Alf-Bübsen sein so trank!«

Es war herzzerreißend. Und wenn Alf-Bübchen im Fieberwahn noch weiter abschweifte, dann beschäftigte sein armes kleines Gehirn sich wunderbarerweise meist mit dem kleinen Mädchen und deren totem Brüderchen.

Es waren ja die letzten Eindrücke von außen gewesen, die er vor der Krankheit in sich aufnahm.

Mit rührend weichem Stimmchen tröstete er die Kleine.

»Du nix mussen weinen, mis wollen spielen mit Sylve-Müttelsen! Alf-Bübsen sein lieb tlein Brüdersen!«

Dann lauschte er offenbar auf etwas, das in der Phantasie zu ihm redete, und dann jauchzte er auf.

»Mis willen auch Blumen haben. Alf-Bübsen wollen auch mit Engelein spielen.« Und Sylvia kniete vor dem Lager, hielt den Kopf in die Kissen gedrückt und schluchzte – schluchzte.

Doktor Eriksen ging seiner Pflicht nach wie ein Held. Niemand bat umsonst um Hilfe und Rat. Der Arzt in ihm wahrte sich den klaren Kopf, den ruhigen Blick, obgleich der Vater mit der Verzweiflung rang.

Denn es stand schlimm, sehr schlimm mit Alf-Bübchen.

Doktor Eriksen telegraphierte an Gerhard: »Komm, Sylvia braucht dich!«

Er selbst mußte ja, um seiner Pflicht zu genügen, oft stundenlang von Hause fern sein.

Was konnte dort mittlerweile alles geschehen.

Das Grasmückchen konnte, durfte nicht allein sein, wenn – wenn –

Er scheute vor dem Ausdenken dieses Gedankens zurück. Und Gerhard kam, kam sofort.

Eben hatte Alf-Bübchen wieder jammervoll nach dem Sylve-Mütterchen gerufen und war dann ganz kraftlos eingeschlummert.

Sylvia hatte den Kopf dicht, dicht an den Alf-Bübchens geschmiegt und hielt mit dem Arm den Kleinen umklammert. Ihr war, als sollte ihr das Herz brechen.

Da öffnete sich ganz leise die Tür. Ein leiser Schritt, ein Herzutreten – Sylvia hob den Kopf. Der Vater! Gott sei Dank, endlich! – Da umfaßten sie starke Arme, und sie sah Bruder Gerhards treues Gesicht über sich geneigt.

Unwillkürlich atmete sie auf.

»Gerhard, du!«

Aber dann kam die ganze Wucht des Erlebten.

Sie wies nach dem Lager.

»Alf-Bübchen, Gerhard!«

Er zog sie nur fester an sich. Sie spürte, wie ein Schluchzen seinen starken Körper durchzitterte.

Es war ein trauriges Wiedersehen.

Und dann saßen die beiden Geschwister lautlos beisammen und harrten an Alf-Bübchens Lager, harrten – worauf? –

Gerhard war nicht zu früh gekommen.

Die Nacht durch noch saßen sie an Alf-Bübchens Bettchen, dann noch einen Tag, und dann kam wieder die Nacht.

Am Abend spät war Doktor Eriksen noch zu einem Kranken gerufen worden. Von tausend Schmerzen zerrissen, von brennender zweifelnder Qual gefoltert, war er gegangen, war er wirklich gegangen. Die Pflicht rief – da gab's kein Entrinnen.

Gerhard war da, ihm konnte er rückhaltlos vertrauen. Für ihn, den Vater, gab's keinen Grund zu bleiben und wenn selbst –

.

Er preßte die Zähne aufeinander, er krampfte die Hände zusammen: »Sei gnädig, Herr, sei gnädig. Laß mich nicht ferne sein, wenn – wenn dein Ruf ergeht.«

Und der Herr war gnädig. Sylvia und Gerhard saßen stumm an Alf-Bübchens Lager. Sie erneuerten den Eisbeutel, sie netzten die brennenden Lippen, sie rückten die Kissen zurecht. Was Liebe ersinnen, was Erbarmen tun konnte, das taten sie.

Alf-Bübchens armes abgezehrtes Körperchen zuckte und brannte im Fieber, sein schmales Gesichtchen rötete sich in Glut. Ziellos griffen die Händchen ins Leere oder strichen rastlos über die Decken hin. Unaufhörlich murmelten die Lippen vor sich hin, unzusammenhängend, flüsternd. Ein Wörtlein rang sich ab und zu klarer los, und fast immer war es: »Sylve-Müttersen!«

Sylvia zuckte dann jedesmal wie von einem Stich durchbohrt zusammen, preßte die Hände aufs Herz oder barg das arme blasse Gesicht darin.

So ging es lange fort, lange.

Und dann – ja dann endlich kam der Vater wieder an das Lager seines geliebten Kindes, ehe das eintrat, was kommen mußte.

Eben öffnete Doktor Eriksen die Tür des Krankenzimmers und schloß sie leise wieder; da trat eine Änderung bei dem kleinen Kranken ein.

Über das rastlos zuckende Körperchen kam plötzlich Ruhe. Die umhergreifenden Händchen lagen still, ganz stille. In dem fieberheißen Gesichtchen erlosch die Glut mehr und mehr. Die rasselnde, keuchende kleine Brust arbeitete merklich freier, der pfeifende röchelnde Atem wurde leicht. Bebend, atemlos hatte sich Sylvia über den Kleinen gebeugt, zweifelnd, zögernd dann den Blick gehoben zu den beiden, die neben ihr das kleine Lager umstanden. Was sie in den ernsten Gesichtern las, zwang sie in die Kniee.

Einen Augenblick lang barg sie das Antlitz, dann hob sie den Blick und hing wie gebannt an dem weißen, stillen Gesichtchen dort in den Kissen.

Und plötzlich öffneten sich zwei Blauäugelein, die Sylvias ganzes Glück gewesen waren in vergangenen Tagen – Alf-Bübchens Blauäugelein.

Groß und still und ach so erloschen hafteten sie an Sylvias Gesicht.

Die kleinen Hände wollten sich heben, nach Mütterchen Sylvia fassen, aber kraftlos fielen sie nieder.

Und da sagte ein leises, leises Stimmchen ganz deutlich:

»Sylve-Müttersen, Alf-Bübsen sein so müde. Alf-Bübsen wollen slafen.«

Und nun hatten sich die matten Händchen doch gefaltet, und ein erlöschendes Stimmchen flüsterte:

»Englein tomm,
Mach mis fromm
Daß is zu dir
In Himmel –«

Das Flüstern brach ab, die Äuglein schlossen sich, das Köpfchen sank zur Seite, das Körperchen streckte sich – Alf-Bübchen war in den Himmel gegangen.


 << zurück weiter >>