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7.
Herzenswünsche

Der Sommer war da in all seiner Pracht.

Der Juni hatte ein besonderes Erlebnis für Sylvia gehabt.

Der Vater hatte sie eines Morgens nach der Sprechstunde in sein Zimmer rufen lassen.

Verwundert war Sylvia dem Rufe gefolgt.

»Grasmückchen, lies mal hier den Brief.«

Sylvia nahm den Brief und begann zu lesen.

Eine leichte Röte bezog allmählich ihr Gesicht.

Sie war bis zum Schluß gekommen, hatte den Kopf geschüttelt, noch einmal genau die Anrede und die Unterschrift geprüft, und hatte dann ziemlich verblüfft und ratlos und verlegen zugleich den Vater angesehen.

Der hatte fast lachen müssen: Grasmückchen in seiner verdutzten Hilflosigkeit erschien ihm zu komisch.

»Was antworte ich dem Manne?« fragte er trotzdem sehr ernst.

Sylvia sah ihn fast stehend an, dann blitzte der Schalk in ihren Augen auf.

»Was du willst, Väterchen,« sagte sie scheinbar gelassen. Da stutzte der Vater.

»Kind, ein Heiratsantrag ist immerhin eine ernste Sache, und Professor Dalton –«

Ist ein Mann, der überall anklopfen kann, hatte er sagen wollen.

Da war ihm Sylvia ins Wort und um den Hals gefallen.

»Ich bleibe bei dir, bei Euch, Vaterherz! Wie könnte ich fort von euch.«

Da war ihm nun diese Entscheidung doch auch wieder zu rasch.

»Kind, bedenke –«

»Ich bedenke gar nichts, Vater, ich – ich gehe nicht von dir und meinen Jungen!«

»Und Professor Dalton?«

»Soll sehen, wo er eine Frau herbekommt. Ich bin nicht zu haben.« – Dabei blieb sie. – Doktor Eriksen war so froh über diese Lösung, daß er, um vor sich und seinem Gewissen zu bestehen, nun erst recht dem Kinde zuredete.

Aber Sylvia blieb allem gegenüber fest.

Am Abend sprach der Vater mit Altchen über die Sache.

»Das Kind, das Grasmückchen wäre imstande, sich uns und ihrer Pflicht, wie sie's nennt, zu opfern.«

»Das wäre sie, Arnold, das wäre sie!« Altchen sagte es weich und zärtlich.

Doktor Eriksen fuhr auf, seine Augen blitzten.

»Aber das dulde ich nicht, das darf ich nicht dulden!«

»Laß, Sohn, errege dich nicht. Der war eben nicht der rechte. Wenn der erst kommt –«

Altchen schwieg.

Doktor Eriksen grübelte noch immer.

»Grasmückchen hat sich offenbar gewissermaßen so 'ne Art Lebensplan zurecht gelegt. Ich darf nicht dulden, daß –«

»Unsere Lebenspläne legt ein anderer zurecht, Sohn. Laß den sorgen.«

»Wohl, aber –«

Die Greisin faßte nach des Sohnes Hand.

»Laß das Kind seinen Weg gehen. Sie findet sicherlich den rechten für sich und für uns alle.«

So erhielt Professor Dalton seine Antwort, und die Sache war abgetan.

 

Achim und Dieter hatten auf Urlaub gehofft, aber keinen erhalten. Ihre Briefe darüber lauteten recht kläglich. Sonst aber waren sie des Jubels voll über den gewählten Beruf. Wieder und wieder dankten sie dem Vater, daß er es erlaubt und sich selbst dabei überwunden hatte.

Der war in Anbetracht der Befriedigung der Söhne vollständig damit ausgesöhnt.

Da Achim und Dieter nicht kommen konnten, sehnte man sich umso mehr nach Gerhard.

Die Frage eines Sommeraufenthalts sonstwo entstand. Jörg und Heinz stimmten sehr dafür. Ihnen schwebte am fremden Ort Freiheit, eine Art Narrenfreiheit vor, die ihnen herrlich schien.

Doktor Eriksen selbst aber hätte sich entschieden nicht frei machen können, und da ein Luftwechsel für Alf-Bübchens Gesundheit dieses Jahr nicht unbedingt vonnöten schien, so entschloß man sich wie im Sommer zuvor zum Daheimbleiben.

Gerhard hatte geschrieben und angefragt, ob er den Freund mitbringen dürfe. Wolf Brandt hatte sein letztes Examen bestanden und war mit dem Studium zu Ende. Er wollte nun seine Doktordissertation schreiben und brauchte dazu einen Aufenthalt, wo er ungestört dem leben konnte. Das elterliche Haus mit den engen Verhältnissen war dazu wenig geeignet. So hatte Gerhard den Freund mit Zustimmung der Seinen zu sich eingeladen, und Wolf Brandt war mit großer Freude auf den Vorschlag eingegangen. Sylvia hatte ihm Achims und Dieters Zimmer in Aussicht gestellt, das ja nun frei war, und alles stand fix und fertig zum Empfang der beiden bereit. Heute nachmittag sollten sie kommen.

Jörg und Heinz hatten fest versprechen müssen, nicht wieder den Wald zu plündern oder totes »Ungeziefer« zum Empfang herbeischleppen zu wollen. Sie hatten es mit verächtlichem Achselzucken getan und sich danach unsichtbar gemacht. »Sollt' uns gerade noch fehlen,« meinte Jörg.

»Wir haben besseres zu tun,« sagte Heinz. Und fort waren sie, verschwunden in der Tiefe des Gartens. Sylvia hatte ihnen etwas ängstlich und ahnungsvoll nachgesehen, dann aber hatte es noch mancherlei zu tun gegeben, und sie hatte die beiden darüber vergessen. Alf-Bübchen trippelte weinerlich hinter ihr her und wollte beachtet sein.

»Mis sein so dräßlich langweilig, Sylve-Müttersen, mis wissen dar nist was tun.«

»Komm mit in den Garten, Alf-Bübchen. Wir pflücken Erdbeeren für Bruder Gerhard und seinen Freund.«

Alf-Bübchen war's zufrieden. Sylvia gab ihm ein kleines Eimerchen in die Hand, stülpte ihm einen Hut auf, nahm sich selbst einen, und sie gingen.

»Die Unglücksbuwe sin hinne im Hof,« rief ihnen Lene noch nach. »Ich hab' se vorhin kreische here. Die wern doch nix anstelle? Es is 'n ja doch nit iwer de Weg ze traue.«

»August ist doch hoffentlich daheim, nicht, Lene?«

»Ja, ich glaub's, awer gewiß weiß ich's nit.«

»Der paßt schon auf!«

Lene brummte etwas vor sich hin.

Sylvia aber sah die goldene Sonne über sich, hörte die Vöglein jubeln und schmettern, sah die Blumen sich wiegen und nicken, hörte das Sommerlüftchen in den Baumkronen kosen – Sylvia vergaß, daß es in dieser wunderbar schönen Welt auch Brüder gab, die zuweilen, nein recht oft dumme Streiche machten.

Alf-Bübchen hatte sich von der Schwester Hand losgemacht und haschte nach einem Schmetterling.

»Mis brauchen tleine delbe Vogel. Mis mussen tleine delbe Vogel haben!«

Eben bog Alf-Bübchen um die Ecke des Wegs.

Der Schmetterling machte eine scharfe Wendung, auch Alf-Bübchen drehte sich kurz auf seinen kleinen Hacken. Das brachte das Kerlchen aus dem Gleichgewicht.

Plumps lag es auf dem Rücken und zappelte mit Armen und Beinen in der Luft. Der Kleine wußte nicht, wie ihm geschah.

Kläglich verzog sich sein Gesicht. Eben wollte sich das Stimmchen in jammervollem Hilfegeschrei erheben, da geschah etwas, das ihm den Atem benahm.

Schwester Sylvia, die sich zuspringend gebückt hatte, erhielt von hinten einen derben Stoß und fiel quer über Alf-Bübchen hin.

Zugleich trabte, pustete, keuchte und stob etwas stöhnend, quiekend, grunzend an ihnen vorüber, etwas, das scharf um die andere Wegecke gebogen war, als eben Alf-Bübchen beim Schmetterlingfang umpurzelte.

Da lagen nun Sylvia und Alf-Bübchen und waren vor Erstaunen beide stumm.

Was Sylvia angerannt hatte, war schon wieder verschwunden um die nächste Wegbiegung.

Es war Sylvia, als ob's das große Schwein gewesen wäre, das Lene sich zu ihrer eigenen Privatliebhaberei ausgebeten hatte, halten zu dürfen. Die Ferkelchen verkaufte sie dann oder machte sie fett fürs Haus, je nachdem.

Kurz, Sylvia war's, als ob der pustende, trabende, stöhnende, grunzende Spuk, der sie umgestoßen hatte, Lenes »Suse« gewesen sei.

Gewiß konnte sie's nicht sagen. Von hintenher war sie angerempelt worden, hatte im Fallen nur Sinn und Augen dafür gehabt, Alf-Bübchen nicht wehe zu tun. Und als sie lag und sich umschaute, war die Erscheinung verschwunden.

Alles spielte sich in Sekunden ab.

Atemlos keuchend trabte noch was daher – Jörg!

»He, holla, wo sind sie? Wo sind sie?«

Achtlos stürmte er an der gestürzten Schwester und dem Brüderchen vorüber. Er sah sie wohl gar nicht.

Eine Peitsche hielt er in Händen, die er ab und zu knallend schwang.

»He holla, wo sind sie, wo sind sie?«

Flüchtig, wie die erste geheimnisvolle Erscheinung war auch er verschwunden.

Jetzt richtete Sylvia sich entschlossen aus. Also doch wieder hinter Streichen her – die Unglücksjungen!

Sie hob Alf-Bübchen in die Höhe.

Alf-Bübchen besann sich urplötzlich auf sein Recht, bei einem Sturz zu weinen, und setzte mit vollen Lungen ein.

»Still! Alf-Bübchen, still! Wollen sehen, was Jörg und Heinz wieder treiben!«

Und da setzte es auch schon mit Hallo und Hussa daher, und schnitt Alf-Bübchen den Ton vom Munde ab.

Diesmal ließ sich die geheimnisvolle Erscheinung genau erkennen.

Es war richtig Suse, Lenes Suse!

Schnaubend, pustend, grunzend trabte sie daher auf ihren kurzen Beinen, den Rüssel tief am Boden, die Ohren fliegend, das Schwänzchen kampfbereit in die Höhe geringelt.

Auf ihrem Rücken hing etwas, was noch nicht zu erkennen war.

Näher trabte die Suse. Was auf ihrem Rücken hing, war ja Heinz.

Heinz, auf dem Rücken liegend – auf seinem Rücken, dos à dos sozusagen mit der Suse – und dort zweimal mit Stricken festgeschlungen.

Sylvia schrie aus.

»Heinz, um Himmelswillen!«

Der stieß ein etwas verunglücktes Lachen aus – gemütlich war ihm offenbar in der Situation doch nicht so ganz – und rief Sylvia etwas zu, das die nicht verstand.

Schon war Suse wieder um die Ecke.

Nun kam Jörg mit Geschrei daher.

Er war sehr erregt, hielt sich weiter gar nicht auf und schrie nur ebenfalls etwas, das Sylvia wiederum nicht verstand. Nur ein »Wundervoll, was?« hörte sie deutlich.

Die Schönheit des Schauspiels konnte sie nun so recht eigentlich nicht einsehen, auch der Sinn blieb ihr dunkel.

Alf-Bübchen war längst krähend vor Wonne und sehr aufgeregt hinter Jörg her.

Was blieb Sylvia übrig, als ebenfalls hinterdrein zu eilen. Suses Gefolge halte sich mittlerweile noch um jemand vermehrt, und zwar um eine sehr gewichtige Person: Lene!

»Ei, ihr Deiwelsplanze, ihr Schandbuwe! Des arm Dier! Eich soll doch gleich! Wollt er se wohl laufe losse. So was! Mich rührt der Schlag! Susche, mei arm Susche, alleh, komm daher!«

Aber Suse galoppierte weiter, achtlos auf ihre Herrin und deren Lockungen. Sie gab ganz abnorme Laute von sich, die in keiner bis jetzt gehörten Kategorie unterzubringen waren.

Lene, hochrot, keuchend mit fliegenden Haubenbändern und geschwungenem Kochlöffel setzte dicht hinterher. Dann kam Jörg mit der Peitsche, dann Alf-Bübchen, dann Sylvia.

Dreimal noch machten sie die Runde im Garten.

Der Lärm wuchs.

Der unglückliche Heinz war auf die Seite gerutscht, und seine Lage wurde dadurch recht ungemütlich. Er schrie allerlei, woraus sich nur Jörgs Name in allen Tonarten deutlich abhob.

Am Küchenfenster war Anna erschienen, die sich vor Lachen krümmte, sobald die wilde Jagd in ihr Bereich kam.

Desgleichen August unter dem Hoftor, der durch Hallo und Geschrei die tolle Hetze noch mehrte.

Sylvia war's wie in einem wüsten Traum, als müsse das nun endlos so weitergehen.

Es war ein toller Wirrwarr, ein wilder Lärm.

Suse wurde die Sache zu bunt. Solche alberne Hetze war ihr denn doch zu dumm. Was dachten denn die einfältigen Menschen? Sie, eine gesetzte Familienmutter von beiläufig zehn bis zwölf Generationen! Und der alberne quiekende Bengel, den sie ihr da aufgebunden hatten! Dem wollte sie's schon zeigen! Jetzt war ihre Geduld zu Ende. Eben hatte sie's gerade satt!

August am offenen Hoftor konnte nur eben entsetzt zur Seite springen, fast wäre er zu Fall gekommen.

Mit Wucht stürzte Suse an ihm vorbei.

Dort war eine kleine Pfütze – dort winkte die Erlösung.

Eins, zwei, drei – Suse war bei der Lache – Suse wälzte sich auf dem Rücken in der Flüssigkeit!

So! Da hatten sie's! Dem zappelnden Bengel hatte sie's – die Suse – nun eingetränkt – und womit!

Suse grunzte hellauf, so hämisch, ums Haar klang's wie Hohnlachen.

Ein Glück, daß Heinz nicht mehr auf dem Rücken festsaß, er wäre tüchtig gequetscht worden. So kriegte er nur von dem Naß mehr ab, als ihm lieb war.

Er brüllte aus voller Kehle.

Nach vollendeter Rache war Suse geduldig wie ein Lamm stehen geblieben und hatte sich von der Bürde befreien lassen.

Nach wiedergewonnener Freiheit sich auf Jörg werfen, mit ihm ringen, zu Boden stürzen und sich samt ihm in der Lache zu wälzen, war für Heinz das Werk eines Augenblicks.

Der nächste Augenblick sah beide getrennt in je einer von Augusts Fäusten zappeln und sich bäumen gegen den Zwang.

Gellendes, zweistimmiges Geheul ertönte. Alf-Bübchen stimmte mitfühlend als Dritter ein.

Lene stand davor und zeterte im höchsten Diskant.

Sylvia, über die das Ganze wie eine Sturzwelle daher gebraust war, kam nur allmählich zur Besinnung.

Jetzt befreite sie Jörg und Heinz aus Augusts Fäusten.

»Und nun sagt um Himmelswillen, was das alles bedeuten sollte?«

»Ma –« brüllte Jörg.

»Ma –« brüllte Heinz.

»Ach was, eier Mamma selig, die loßt aus'm Spiel. Do dermit fangt ihr uns nit!«

Lene fauchte nur so.

»Zepp –«

»Zepp –« brüllten Jörg und Heinz weiter.

»Gezeppel! Ja, das seider un e schannbares derzu!« ergänzte die wütende Lene.

»Pa –«

»Pa –« vollendeten Jörg und Heinz unterdes mit Gebrüll.

»Eier Pappa? Der krieht's zu here, do verlaßt eich druff!«

Jörg faßte sich zuerst.

»Wir wollten Mazeppa spielen, Sylve-Mütterchen, weißt du wie auf dem Bild, wo der Mazeppa, der Kosakenhetman, aufs Pferd gebunden und in die Steppe gejagt wird, und – und der Heinz wollte nicht –«

»Nee, die Bella biß, wie ich rauf sollte und –«

»Ja, und wie er nicht aufs Pferd wollte, schlug ich die Suse vor und –«

»Mein arm Susche. Ihr wert des Dierche schen gequält hawe. So e arm, unschuldig Dierche, des sich nit wehren kann. Es is e Scharm un e Spott!«

»No, gewehrt hot se sich, Lene, un des nit bes. Gucke Se sich bloß emal de Heinz an. Ha, ha, ha, ha!«

August konnte noch immer nicht zu sich kommen. Er hielt sich die Seiten und krümmte sich.

»Iwrigens, des bitt ich mir aus. Mit meine Pferd versteh ich kein Spaß. Des hat 's greßte Unglück gewe kenne. Do bleibt er mer dervun, das sag' ich eich.«

»Jürg, Heinz, werdet ihr denn nie klug werden?« jammerte Sylvia.

»Ach, Sylve-Mütterchen, wenn man doch spielt!«

»Und es war so wundervoll gelungen, nicht?«

Jörg strahlte schon wieder.

»Aber das nächste Mal machst du den Mazeppa,« sagte Heinz sehr bestimmt.

»Iwo, ich bin viel zu groß. Die Suse –«

»Do hert doch alles uf! Redde die Deiwelgplanze schun vom nächste Mal und hawe ihr Tracht noch net for desmol. Do soll doch gleich – Sylvia, is dann des erlaubt?«

Sylvia suchte mühsam ihre Würde zusammen, die ihr bei der Mazeppaerklärung etwas abhanden gekommen war.

»Vor allen Dingen geht und reinigt euch. Über das Weitere reden wir dann später,« sagte sie möglichst strenge.

Alf-Bübchen war um die Brüder herumgeschlichen, hatte wiederholt das Hälschen gereckt, das Näschen gerümpft und das Gesichtchen mit allen Zeichen des Ekels wieder abgewendet.

»Puh,« sagte er jetzt, »sein danz dräßliche Sweinigel. Puh!«

Heinz zeigte dem Brüderchen verstohlen die Zunge.

»Du nist brauchen Zung rausstrecken. Du sein Sweinigel, du sein dräßlich, furchtbar, sauderhaft –«

»Alf-Bübchen!«

Sylvia mahnte umsonst, der kleine Mann war sehr gereizt.

»Alf-Bübchen! Alf-Bübchen, schämst du dich nicht? Wer wird so häßlich reden.«

Alsbald schmolz Alf-Bübchen in Reue.

»Alf-Bübsen wollen dräßlich brav sein, Sylve-Müttersen Alf-Bübsen lieb haben. Hu, hu, hu!«

Die Erregung löste sich in Tränen.

»So e arm Engelche, so e Schäfche! Ei, des Engelche hot ganz recht. Mein Susche hot mehr Vernunft und Anstand als wie die Racker da. Alleh marsch enein, ihr Schlingel. Daß ihr mer awer nit ins Haus geht. In die Waschkich, sag' ich. Dort steckt mer eich in de Zuwer. Frisch Wesch und annere Kleider bring ich eich dann. Alleh marsch, nix als wie enein!«

Wie der Engel des Gerichts stand Lene, mit ausgestrecktem Kochlöffel nach der Pforte weisend, und Jörg und Heinz entwichen wortlos.

Jetzt lachte Sylvia erst einmal hellauf, sie mußte sich Luft machen.

Heinz als Mazeppa auf der Suse.

Ob sie das Bild je vergessen würde?

Bitteren Tadels voll schallte Lene sie an.

»Na ja, wammer immer nor lacht, derhernochender – sind das die Folgen!«

Sprach's und verschwand hoch erhobenen Hauptes durch die Pforte hinter den beiden Sündern her.

Wenn Lene hochdeutsch redete, war sie schwer gereizt. Reuevoll sah Sylvia ihr nach.

Sie hatte Alf-Bübchen tröstend auf den Arm gehoben, und der kleine Mann umschlang sie mit beiden Ärmchen.

August trat heran.

»Losse Se sich's nit zu nah gehn, Freileinche. Die Racker wern doch noch. Die Lene versieht do nix dervon, die kann mit ihre Kochdepp besser umgehe als wie mit Kinner. Bloß vun meine Pferd misse se mer fort bleiwe, sonst versteh ich kein Spaß.«

In Augusts Lachen mischte Sylvia nun ungehindert das ihre hell und klingend, und Alf-Bübchen stimmte mit ein.

Da tönte Stimmengewirr und Geschrei vom Garten her.

Lenes Zetern triumphierte.

»Was ist das?«

Sylvia flog dahin wie vom Winde geweht.

Dort stand Lene zeternd, keifend und hielt mit je einer ihrer Fäuste Jörg und Heinz gepackt, die an einer vor der Gruppe stehenden Männergestalt empor zu streben versuchten und sich dann verzweifelt gegen die sie umklammernden Fäuste wehrten. Lene hielt fest wie ein Schraubstock. Dabei zeterte sie: »Des dhet grad noch fehle, daß ihr de junge Herr zuricht wie des Kind selwigs mol bei der Hochzeit. Nix do, still jetzt!«

»Ich verstehe nicht. Lene –«

Und: »Gerhard, liebster Gerhard!«

»Derhard, Bruder Derhard!« Damit flogen Sylvia und Alf-Bübchen auf die Männergestalt zu.

Jörg und Heinz heulten auf in ohnmächtiger Wut. Lene stieß und zerrte sie unaufhaltsam mit sich fort.

Und unter Zetern, Heulen, Puffen und Stoßen entschwand die Gruppe außer Sehweite.

»Erkläre, Sylphchen!«

Gerhard hatte Schwester und Brüderlein erst herzlich umarmt und lachte nun hinter den Verschwindenden her.

»Was bedeutet das?«

»Jörg und Heinz haben Mazeppa gespielt –«

»Mazeppa?«

»Auf der Suse –«

»Der Suse?«

»Sein Sweinigel,« ergänzte Alf-Bübchen.

»Stimmt,« sagte Gerhard ernst. »Aber erklärt mir –«

»Gerhard, das hättest du sehen müssen! Die dicke Suse, Heinz drauf, die dicke Lene hinterher, Jörg dann, dann ich, dann Alf-Bübchen und immer so rum, als ob wir verhext wären –«

Sylvia lachte, lachte, als ob sie nie mehr aufhören könne.

Und dann sprudelte sie unter Lachen den Bericht hervor, so gut sie konnte.

Gerhard hielt sich die Seiten.

»Doch, wo ist dein Freund?« unterbrach sie sich plötzlich.

»Der hat die Ehre, hiermit seine Wirtin zu begrüßen. Eine Weile schon höre ich dem Bericht vom Schweineritter zu. Ein neuartiger Lohengrin. Ha, ha, ha, ha!«

Sylvia wandte sich hastig und sah in Wolf Brandts gute, dunkle Augen, die noch ebenso zuverlässig blickten, wie sie es damals bei seinem ersten Hiersein getan hatten.

»Willkommen, Herr Brandt. Wir haben uns sehr auf Sie gefreut. Hoffentlich bringt Ihnen der Aufenthalt Glück zur Arbeit!«

»Das sollte er wohl!«

Wolf Brandts Augen blickten so eigen, daß es Sylvia ganz merkwürdig zumute wurde.

Fast wurde sie etwas verlegen.

Eng schmiegte sie sich an Gerhards Arm.

»Du sagtest gar nicht, weshalb ihr uns so überfallt, statt hübsch die Zeit, wie bestimmt, einzuhalten. Nicht einmal die Erdbeeren sind nun gepflückt!«

Sylvias Hausfrauengewissen erwachte plötzlich.

»Und das Mittagessen! Ob Lene auf zwei weitere Gäste eingerichtet ist?«

Sie wollte davonhuschen.

Gerhard hielt sie auf.

»Laß, Sylphchen. Lene findet schon allein Rat. Eben ist nicht gut Kirschen essen mit ihr. Wir helfen dir Erdbeeren pflücken, Wolf und ich, das gibt einen großen Spaß. Allons marsch! Alf-Bübchen führ mich mal!«

Alf-Bübchen schob, von der Aufforderung sehr beglückt, wichtig sein Händchen in des Bruders große Faust. Wolf Brandt und Sylvia folgten.

»Wie kommt's, daß Sie so viel früher da sind, Herr Brandt?«

»Es hat sich schließlich alles so viel rascher abgewickelt, und Gerhard, das heißt wir beide waren ungeduldig zu kommen. So nahmen wir den Frühzug und opferten ein paar Stunden Schlaf.«

»Wie herrlich!« Sylvia strahlte.

Mit Lachen und Hallo wurden nun die Erdbeeren gepflückt, um die Wette, wer die meisten und die größten fand.

Das Lachen und die frohen Stimmen klangen bis zur Waschküche, wo zwei arme, geknickte Sünder im Zuber saßen.

Sie fuhren auf aus dem Wasser und rüttelten an der Tür.

Lene hatte den Fall vorausgesehen und abgeschlossen. Lene war eben furchtbar klug.

 

Und nun kamen schöne, frohe Tage für Sylvia und das ganze Haus. Die Morgenstunden waren der Arbeit geweiht. Da tummelte sich Sylvia im Haushalt, da machte der Flickkorb seine Rechte geltend.

Gerhard und Wolf Brandt saßen fest am Schreibtisch, auch für Jörg und Heinz gab's bestimmte Arbeitstunden, auf die Bruder Gerhard strenge hielt.

Das war für Sylvia eine große Erleichterung, und die etwas stramme Zucht des älteren Bruders schlug den beiden Wildlingen ausgezeichnet an.

Des Nachmittags aber trommelte Gerhard unweigerlich die ganze Gesellschaft zusammen, und da wurden schöne Waldspaziergänge gemacht. Selbst Doktor Eriksen nahm vielfach teil daran oder traf die Seinen an einem vorherbestimmten Punkte.

Alf-Bübchen trippelte entweder mit oder blieb, wenn das Ziel gar zu weit war, bei Altchen daheim.

Dort um den trauten alten Tisch sammelte sich dann auch am Abend die ganze Runde, fröhlichen Bericht zu erstatten.

Und Altchens liebe, warme Augen, Altchens frohe gute Worte ließen das Schöne im Bericht noch froher und schöner erscheinen.

Ja, es waren schöne, glückliche und ungetrübte Tage.

Auch Achim und Dieter schrieben pünktlich und nur Gutes. Wohl klang zuweilen etwas wie Heimweh durch, wenn sie der Lieben daheim dachten. Sonst aber lautete alles zufrieden und froh.

Trude hatte auch geschrieben, einen Brief, strahlend von Glück. Sylvia hatte ihn beim Frühstück gelesen und Gerhard schweigend die Hand nach dem Schreiben ausgestreckt. Unmerklich halte Sylvia gezögert.

»Gib Sylphchen, hab' keine Furcht!«

Und er war mit dem Briefe verschwunden.

Im Wald dann, am Nachmittag, hatte er ihn ihr zurückgegeben.

Die anderen botanisierten oder waren hinter einem Schmetterling her. Sie saßen allein auf einer Bank.

»Hier, Sylphchen, dein Eigentum.«

Sylvia sah den Bruder ungewiß an. Eine feine Röte lief ihr über das Gesicht.

Er blickte ihr sinnend in die Augen.

»Es ist ganz gut so,« sagte er nach einer Weile. »Sie ist glücklich, und ich – ich bin noch so jung. Das Leben liegt vor mir. Was kann man da alles leisten!«

Seine breite Brust hob und dehnte sich, sein Auge leuchtete.

Sylvia schmiegte sich an ihn.

Gottlob, auch diese Wolke war gewichen.

Sylvia war's, als sei das Leben nie so schön gewesen. Leuchtete die Sonne nicht goldener? War denn der Himmel früher schon so blau, hatten die Vögel je zuvor so jubiliert und geschmettert?

Es war ein Glücksgefühl in ihrer Brust erwacht, das sie selbst nicht recht begriff, nicht verstand.

In ihrer äußeren Erscheinung sogar kam's zum Ausdruck.

Sie schien etwas gewachsen, ihr Gesichtchen leuchtete in den frischesten Farben, und aus den braunen Augen strahlte eine ganze Sonnenwelt.

Sinnend folgten ihr zuweilen des Vaters Augen.

»Grasmückchen, was hast du, du kommst mir so ganz anders vor?«

Dann lief wohl eine Röte über das leuchtende Gesichtchen.

»Ich bin eben so glücklich, Vaterherz!« – –

Wolf Brandts Arbeit nahm ihren stetigen Fortgang.

Er fühlte sich wie ein Kind des Hauses und wurde von allen fast so betrachtet.

Zu Sylvia nahm er in all seinen Nöten Zuflucht.

Sie war genau vom Gang seiner Arbeit unterrichtet, von deren zeitweiligem Stocken und vom fröhlichen Gedeihen.

Konnte sie ihm auch nicht in die Höhen und Tiefen des gewählten Themas folgen, so wußte sie doch geduldig zuzuhören. Sie verstand so wohltuend zu trösten, so ermutigend zuzureden, so warm sich des Gelingens zu freuen.

Nie zuvor war Wolf Brandt einem gebildeten weiblichen Wesen freundschaftlich näher getreten.

Mutter und Schwester liebte er sehr. Sie aber standen ihm an Bildung so fern, daß ein wirklicher Gedankenaustausch ausgeschlossen blieb.

In Sylvia trat ihm dies zuerst entgegen, und er ließ sich ein- und umspinnen vom Zauber ihres Wesens.

Der Eindruck, den er von ihr schon bei seinem ersten Hiersein empfangen hatte, vertiefte sich tausendfach.

Seine Mutter hatte geschrieben.

Mit der lieben ungelenken Schrift, in ihrer rührend kindlichen, einfachen Ausdrucksweise schrieb sie:

 

»Mein lieber Sohn!

Soll Deine alte Mutter Dich dieses Jahr gar nicht sehen? Bist Du über unser einfaches Haus hinausgewachsen? Das verhüte Gott. Der Vater grüßt sehr und hat auch Sehnsucht.

Deine Mutter.«

 

»Ich muß fort, ich muß nach Hause, Fräulein Sylvia!«

»Fort?« Sylvia war ganz erschrocken. »Aber der zweite Teil Ihrer Arbeit ist ja noch lange nicht fertig.«

»Wenn auch. Meine Mutter ruft.«

Wolf Brandt reichte ihr den Brief.

Sie nahm und las, und dann nickte sie ihm stille zu.

»Solchen Ruf muß man hören!«

Er senkte den Kopf. »Sie heißen mich gehen?«

Sylvia lachte, aber ganz hell und frei klang das Lachen nicht.

»Behüte! Gehen, um wieder zu kommen.«

»Wieso?«

»Ich schlage vor, Sie gehen auf, sagen wir mal, acht Tage hin. Sie sehen lieb Mütterlein und erzählen ihr von der Arbeit. Sie begreift alles, verlassen Sie sich drauf, auch daß Sie nie und nimmer über ›das einfache Haus hinauswachsen‹, im Herzen, meine ich.« Stumm neigte er sich, und ehe Sylvia wußte, wie ihr geschah, hatte er ihre Hand zu den Lippen gehoben und – war gegangen.

Noch lange stand Sylvia wie weltentrückt und sah nach der geschlossenen Tür. In ihren Augen lag ein eigenes Sinnen und Leuchten.

»Sylve-Mütterchen, sein du danz taub worden? Mis mussen dis mal was sagen!«

Alf-Bübchen hatte ihre Kniee umfaßt.

»Mütterchen Sylvia, Brot!«

»Brot, Sylve-Mütterchen, ich hab' nen Bärenhunger!«

Damit stürmten Jörg und Heinz zur Tür herein. Und Sylvia stand urplötzlich mit beiden Füßen wieder mitten im Leben. –

Wie Sylvia vorgeschlagen hatte, so war es ausgeführt worden. Wolf Brandt war auf acht bis zehn Tage in die Heimat gegangen und wurde dann zurückerwartet. Sein Heimatdörfchen lag, nicht allzuweit von dem Städtchen entfernt, oben im Gebirge. Die Verbindung dahin war freilich eine mangelhafte. Die Post fuhr bis zu einem benachbarten größeren Ort, aber von da waren es etwa vier bis fünf Wegstunden für stramme Fußgänger.

Wolf Brandt schrieb und fragte an, ob Gerhard mit der Schwester samt Jörg und Heinz sich nicht entschließen könnten, die lohnende Wanderung einmal zu unternehmen.

»Mütterchen läßt anfragen, ob ihr die jungen Herrschaften nicht die Ehre erweisen wollten. Sie möchte so gern die Freunde kennen lernen, die dem Sohn so Gutes und Liebes tun.«

So hatte Wolf geschrieben.

Und merkwürdig – Sylvia, die sonst so tausenderlei Einwände wußte, wo es die Ausführung eines Vergnügens für sie galt, Sylvia räumte im Handumdrehen jedes Hindernis fort und war Feuer und Flamme für den Plan.

»Wir müssen es schon deinem Freunde zulieb tun, Gerhard. Er denkt sonst, sein Elternhaus sei uns zu gering.«

Gerhard nickte.

»Richtig! Aber ich fürchte, der Aufenthalt dort wird für dich wirklich manche Unbequemlichkeit haben, Sylphchen.«

»Einmal handelt es sich höchstens um einen Tag und eine Nacht, und dann – deines Freundes Mutter muß eine prächtige Frau sein.«

Der Vater hatte nichts gegen den Plan einzuwenden, als er davon hörte.

»Das Grasmückchen will also ausfliegen? So, so! Ja, wie kommt mir denn das vor?«

Sylvia wurde feuerrot und sah ihn ungewiß an.

»So 'n Nesthockerchen, und kriegt's plötzlich mit dem Wandern, sieh mal an,« scherzte Doktor Eriksen gemütlich weiter. »Wann soll's denn losgehen?«

»Wir dachten übermorgen, Vater,« nahm Gerhard für die Schwester das Wort. »Wolf ist dann acht Tage fort, und so wird es mit der Zeit gerade richtig werden.«

»Na, dann los! Ich habe nichts dagegen.«

»Und wir sollen auch mit, Vater!«

Etwas zweifelhaft kam's von Jörgs Munde. Das stets belastete Gewissen klang durch.

Heinz hielt den Atem an.

»Ausgezeichnet!« Die Antwort kam unerwartet. Zögernde Zustimmung, verknüpft mit eindringlicher Mahnung, so etwas hatten sie zum mindesten erwartet.

Der Nachsatz des Vaters: »Dann sind wir euch doch glücklich los!« gab ihnen ihre unbefangene Sicherheit wieder.

Nun war alles in Ordnung!

Mit Hallo stürmten Jörg und Heinz hinaus. – –

Früh um fünf Uhr sollte die »Reise« angetreten werden. Gerhard schwärmte für eine Frühwanderung.

Man wollte den Postwagen, der zwei Stunden später abfuhr, erst etwa auf halbem Wege treffen.

Von Altchen und Alf-Bübchen hatte man am Abend zuvor Abschied genommen.

Vater hatte versprochen, erst eine Strecke weit mitzukommen, war aber schon ganz in der Frühe zu einem Patienten gerufen worden.

Von Sylvia hatte er sich durch die Tür verabschiedet.

»Viel Vergnügen, Grasmückchen. Sperr die Augen auf und den Schnabel, hörst du, und laß dich von der Luft da oben 'n bissel durchblasen! Auf Wiedersehn!«

Damit war er fort, noch ehe Sylvia sich recht ermuntern konnte.

Lene hatte für ein ausgiebiges Frühstück gesorgt, und dann zogen die Wanderer los.

Morgenfrische lag noch über der Welt. So etwas Unberührtes, taufrisches wie die jugendlichen Wanderer selbst, die durch den Wald dahinschritten.

Sylvia ging wie auf Wolken. In ihr sang und klang es mit den Vöglein um die Wette.

Am liebsten wäre sie mit Jörg und Heinz kreuz und quer durch den Wald gerannt. Gerhard aber hatte seinen Arm durch den ihren geschoben, und dann besann sie sich auch auf ihre Würde als »Sylve-Mütterchen«. Die mußte sie schon vor den beiden wahren.

Leuchtenden Blicks starrte sie in die Baumkronen und drüber hinaus ins sonnige Himmelsblau.

»Ich meine, so schön war's noch nie zuvor in der Welt, Gerhard, woher das wohl kommt?«

»Von innen 'raus, Sylphchen. Da ist die Maschine gut in Ordnung, Magen und alles und –«

»O du häßlicher Mensch. Ich juble der Sonne zu, und du kommst mir mit dem Magen, das –«

»Dafür bin ich Arzt, Sylphchen,« erklärte Gerhard belustigt.

»Das bist du freilich. Ich glaube aber, die Nichtärzte sind viel idealere Menschen,« seufzte Sylvia.

»Ja, so ein Philologe zum Beispiel, nicht?«

Sylvia sah den Bruder etwas ungewiß von der Seite an.

Gerhard schien tiefernst. Es war aber doch wohl geratener, das Thema zu wechseln.

Unter Necken und Scherzen, beim rüstigen Ausschreiten schienen Zeit und Weg wie mit Siebenmeilenstiefeln an den Wanderern hinzugleiten.

Ehe sie sich's versahen, war der Wald zu Ende. Man trat ins freie Feld. Dort winkte der Ort, wo die Post sie aufnehmen sollte und ja, richtig – ganz dahinten, wo die Landstraße eine Biegung machte, erschien auch schon der gelbe Kasten.

Nun setzten sie sich in Trab.

Jörg und Heinz mit Hallo voran.

Die waren ein sicherer Vortrab. Gerhard und Sylvia mäßigten ihre Eile, die Jungen würden schon dafür sorgen, daß ihnen die Post nicht vor der Nase wegfuhr.

Und richtig. Als Gerhard und Sylvia in den Posthof eintraten, stand da schon alles zur Abfahrt bereit und harrte offenbar nur noch der verspäteten Fahrgäste.

Jörg und Heinz hatten in aller Eile dicke Freundschaft mit dem Postillon geschlossen. Jörg saß auf dem Bock und knallte mit der Peitsche, Heinz hatte das Posthorn erwischt und entlockte dem übernatürliche Töne.

Die beiden ließen es sich auch nicht nehmen, auf dem Bock mitzufahren.

Es waren nur noch zwei Fahrgäste außer den Geschwistern da.

Ein alter Bauer, der einen grausigen Tabak rauchte, und ein Weib mit einem geheimnisvollen Riesenpack, der ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und sich späterhin als ein übernatürlich eingebündeltes Wickelkind entpuppte.

Und dann ging die Fahrt los.

Über holperiges Pflaster, auf ebener Landstraße, über hügelige Strecken und wieder durch Dörfer.

Dort liefen jedesmal Kinder und Köter zusammen.

Mit solchem Hallo war die Post noch nie ein- und durchgerasselt.

Und das besorgten Jörg und Heinz mit Peitsche und Horn, mit Hussa und Geschrei.

Sylvia wollte wehren.

»Laß die Jungen, Sylphchen. Ich denke, der Schwager ist Manns genug, sich zu helfen, wo's ihm zu toll wird,« wehrte Gerhard.

Und das erwies sich gleich danach als wahr und richtig.

Im nächsten Dorf, als das Getümmel und Gelärm womöglich noch stieg, entstand plötzlich ein Gequieke, das Sylvia bekannt war.

Sie hob den Kopf.

Da stand der Postillon am offenen Schlag und hielt den quiekenden Heinz am Kragen hoch.

»Da hawe Se des Berschche. Nemme Se's bei sich. Einer dadervorn is grad genug!«

Sprach's und deponierte Heinz dicht neben der Frau mit dem quiekenden Bündel.

Heinz sah scheu nach Gerhard und Sylvia hin, noch scheuer nach seiner Nachbarin.

Er war ganz stumm geworden und ließ dem, was im Bündel quiekte, das Wort.

Noch eine Haltestelle und noch eine.

»Jetzt kommt Niederrode,« sagte Gerhard, »da steigen wir aus.«

»Hurra, und dann marschieren wir!«

Heinz war in die Höhe gefahren und hatte das quiekende Bündel ziemlich unsanft angestoßen.

Ein gellendes Quietschen wie von einer dünnen Blechtrompete erscholl alsbald.

Heinz war wie vom Donner gerührt zurückgefallen auf seinen Sitz.

Da fühlte er sich auch schon mit etwas beschwert. Mechanisch faßte er zu – das Wickelkind!

»So, wann de mer de Bub uffgeweckt host, du Witscheler, do kannsten jetzt ach e bißche halte, bis ich em de Flasch gesucht hab. Alleh, angepackt!«

Heinz rührte kein Glied. Er war wie zu Stein erstarrt vor Entsetzen. Krampfhaft umschlossen seine Arme das Bündel, und die Augen starrten angstvoll, hilflos nach Sylvia und Gerhard.

Die erstickten beinahe vor unterdrücktem Lachen.

Da, ein Ruck! Die Post hielt.

Im selben Augenblick war auch schon Jörg vom Bock unten und am Schlag, den er aufriß.

»Sylve-Mü–«

Das Wort blieb ihm im Munde stecken, als er Heinz mit dem Wickelkind im Arme sah.

Eine Sekunde starrten sich die beiden sprachlos an.

Über Heinzens Gesicht lief eine Blutwelle.

Jörg tanzte vor Wonne und brüllte dazu wie ein Indianer.

.

Rasch entschlossen befreite Sylvia den armen Heinz von seiner Last.

Und der war auch schon draußen und wälzte sich mit Jörg innig umschlungen am Boden.

Gerhard fuhr dazwischen.

Sylvia gab indessen das Wickelkind mit freundlicher Entschuldigung an seine Eigentümerin zurück.

»So Buwe!« war alles, was die sagte.

Und dann schritten die vier wieder waldeinwärts. Nun erst begann der größere Teil der Wanderung.

Die Wege wurden steiler, der Wald dichter, alles bekam einen einsameren, wilderen Charakter, das höhere Gebirge machte sich fühlbar.

Ernste, hohe Tannen standen zu beiden Seiten des Weges, moosige Felsblöcke und riesige Adlerfarne zu Füßen.

Je weiter sie vordrangen, je unberührter, je unmittelbarer aus Gottes Hand hervorgegangen erschien die Natur.

Es legte sich wie staunende Andacht über Sylvia und Gerhard, selbst Jörg und Heinz konnten sich dem Zauber nicht ganz entziehen. Ihr Gejohle und Gelärm verstummte mehr und mehr. Mit forschenden Augen sahen sie um sich, die vorhin wie blind und toll dahingestürmt waren.

Am Rand einer kleinen Lichtung, die plötzlich einen wunderbaren Ausblick ins freie Land bot, wurde halt gemacht und dort unter den hohen Bäumen gelagert.

Es sollte Mittag gemacht werden.

Lene hatte einen überraschenden Vorrat eingepackt, der unvertilgbar schien und plötzlich doch weg war, man wußte nicht wie.

»Ich schlafe jetzt,« verkündete Jörg und machte sich's mit großer Umständlichkeit im Moos bequem.

Heinz bettete sich in seine Nähe, so daß aus dem Schlaf aus naheliegenden Gründen sehr wenig wurde.

Gerhard und Sylvia saßen abseits, jeder mit den eigenen Gedanken beschäftigt.

Und dann blies Gerhard zum Aufbruch.

»Wir haben immerhin noch fast zwei Stunden zu gehen und wollen doch noch bei guter Zeit ankommen.«

Noch höher und ehrfurchtgebietender wurde der Wald. Uralte Eichen, uralte Buchen, dazwischen eine ernste Tannengreisin, Zeugen einer langverschollenen Welt. Zu ihren Füßen reckte und dehnte sich keck das junge Geschlecht. Die überwältigende Gegenwart der Riesenurväter bedrückte es nicht im Aufwärtsstreben.

Auch seine Zeit würde kommen. Auch die jetzt Riesen waren, waren einst schwanke Reislein gewesen. Und die Riesen vor ihnen? Die waren gestürzt und vermodert, und ihr faulendes Holz bereitete den Boden für das kommende Geschlecht.

Urplötzlich lichtete sich der Wald. Es dauerte nur wenige Minuten und man kam zum Rande. Vor den Wanderern dehnte sich eine weite Hochebene, bebaut, von Menschen besiedelt. Jenseits türmten sich weitere bewaldete Kuppen. An ihren Fuß geschmiegt, dicht am Wald gebettet, lag ein Dörfchen – Wolf Brandts Heimatdorf.

Durch Felder und Wiesen schlängelte sich ein Fahrweg, man konnte ihn deutlich bis zum Eingang des Dorfs verfolgen. Da schritt ein Mann daher.

Plötzlich hob er die Hände als Schalltrichter zum Munde.

»Hallo, hallo! Willkommen! Will–kom–men!«

»Wolf! Wolf! Wolf Brandt! Wolf! Er ist's! Er ist's selbst!«

Sie riefen's in allen Stimm- und Tonlagen.

Im Baß, im Diskant, im Sopran.

Ja wirklich im Sopran!

Das mußte doch selbstredend Sylvia gewesen sein.

Keiner der anderen Teilnehmer an der Wanderung verfügte sonst über einen Sopran.

Und sie setzten sich in Trab hüben und drüben, dort der eine, hier die vier. Als sie zusammentrafen, gab's ein Händeschütteln und Begrüßen, daß ein paar im Feld arbeitende Menschen sich erstaunt aufrichteten, ein paar Köter kläffend heranstoben und ein paar Kühe, die am Wegrand grasten, neugierig verwundert die Köpfe hoben.

Wolf hatte Sylvias Hand ergriffen, wieder und wieder geschüttelt und gar nicht wieder loslassen wollen.

»Wie lieb und reizend, daß Sie mitgekommen sind. Das wagte ich gar nicht zu hoffen.«

»Also, ich wurde gar nicht erwartet,« lachte Sylvia, ein klein wenig verlegen.

»Und nun kommen Sie, daß ich Ihnen meine Heimat zeige. Ein winzig kleines Nest, aber viel Liebe wohnt drin. Meine Mutter hat leider noch auf dem Felde zu tun. Aber wie ist mir denn? Kommt sie dort nicht?«

Man sah ein kleines Bauernweibchen mit einer hochgetürmten Heulast des Wegs daherkommen.

»Und schleppt mal wieder über ihre Kräfte!«

Im Nu war Wolf dem Weib entgegengeeilt.

Unter ihrem sichtlichen Widerstreben nahm er ihr den hochgeladenen Korb vom Kopf und stellte ihn an den Wegrand. Dann zog er die Mutter mit sich fort.

Die Geschwister waren den beiden entgegengegangen.

»Hier, meine Mutter!«

Wenn Brandt eine Königin vorzustellen gehabt hätte, der Ton hätte nicht stolzer klingen können.

»Fräulein Sylvia Eriksen. Freund Gerhard kennst du. Hier noch Freund Jörg und Heinz!«

Das kleine Weiblein machte einen altmodischen, kleinen Knicks und wischte erst vorsichtig die Hand an der Schürze ab, ehe sie sie Sylvia und den Brüdern bot.

Im klaren, klugen Auge, das sie auf Sylvia heftete, lag keine Spur von Befangenheit oder Scheu. Groß und voll schien es ihr bis in die innerste Seele zu dringen.

»Willkomme bei uns,« sagte sie mit nur leisem Anflug von Dialekt, der, mit ihrer weichen Stimme gesprochen, nicht die Spur rauh oder unfein klang. »Lasse Se sich's gefalle. Ich freu mich von Herze, Sie kenne zu lerne.«

Dabei hielt sie Sylvias Hand und sah ihr immer noch tief in die Augen.

Dann kamen Gerhard, Jörg und Heinz an die Reihe.

Dann wendete sich das Weiblein und lachte den großen Sohn schalkhaft an.

»Un wie meinste dann jetzt, daß das Futter heimkommt? He? Soll's fliege? Des wird die alt' Mutter doch auf den Kopf nehme misse, denk ich als. Des hilft alles nix. Dei Mutter is ewe e Bauernweib, das arbeite muß, und das is kei Schand.«

»Gerade das Gegenteil,« sagte Sylvia warm und streichelte die harte, verarbeitete Hand.

»So denke Sie, Kindche. Andere denke anders. Mei Bub, Gott sei Dank – no, jetzt sehe Se emal.«

Ohne ein Wort zu sagen, war Wolf Brandt umgekehrt, Jörg und Heinz hinterher.

Er faßte den einen Griff des Korbes, die beiden rissen sich um den anderen.

Schließlich griffen sie zu dreien an und brachten den Korb unter Jubeln und Lärmen angeschleppt.

Die Mutter lachte, und doch war etwas Feuchtes in ihren Augen, das sie hastig mit der Hand wegwischte.

»Was sind dann das für Tollheite?« sagte sie. »Als ob ich's nicht hätt' trage könne.«

»Nicht, wenn ich dabei bin, und es dir abnehmen kann,« erwiderte Wolf einfach.

»So is er!« sagte die Mutter zu Sylvia, und ein solcher Stolz lag in den drei Worten, daß es Sylvia ganz warm ums Herz wurde.

Die kleine Gesellschaft ging dem Dorf zu. Sylvia an Mutter Brandts Seite. »Ich hab' mich so gefreut, daß ich Sie kenne lernen darf, Kind,« sagte die Frau schlicht. »Mein Sohn hat mir so viel von Ihne erzählt.«

»Das geb' ich mit Zinsen zurück,« sagte Sylvia heiter. »Mir war Mutter Brandt auch keine fremde Persönlichkeit mehr.«

»Und Sie tun so viel für ihn. Wie soll ich Ihne des danke?«

»Er ist doch meines Bruders liebster Freund und – und wir – wir haben ihn auch alle lieb.«

Erst hatte Sylvia etwas verlegen gestottert, dann hatte sie ernst die Augen gehoben und mit schlichtem Freimut vollendet.

»Er verdient's auch. Er ist ein guter Sohn.«

Der Mutter zitterte die Stimme.

»Der gute Sohn einer guten Mutter, scheint mir.«

Sylvia sah ihr schalkhaft und warm zugleich in die Augen.

Mutter Brandt hob die harte Hand und strich Sylvia liebkosend die Wange. »Wie Sie des alles sage könne, Kindche. Es geht eim ordentlich bis ins Herz hinein.«

Und nun war man am Dorf.

Der hochbeladene Futterkorb wurde jetzt von vieren geschleppt – Gerhard hatte mit angepackt.

Vor einem winzig kleinen, aber merkwürdig sauber und freundlich aussehenden Häuschen wurde halt gemacht. Wolf und Gerhard hatten den Korb nun Jörg und Heinz überlassen. Wolf trat zu Sylvia heran.

»Das ist mein Elternhaus.«

Sylvia lachte ihn an. »Klein aber rein! Und wie behaglich. Hier ist sicher gut sein!«

»Das wolle mir gleich probiere!«

Mutter Brandt zog Sylvia über die Schwelle. »Als erein, ihr junge Herrn, und noch emal herzlich willkomme!«

Drinnen trat ihnen Wolfs Schwester, ein hübsches, großes, kräftiges Mädchen, verschämt lachend entgegen und reichte jedem die Hand. – »Alleh, Gretche, dummel dich, unsre Gäst werde Hunger hawe. Die hawe en orndliche Marsch hinter sich.«

»Der Kaffee kocht schon, und die Kartoffel sin auch schon iwergemacht.«

»Wo is dann der Vatter?«

»Ewe kommt er!«

Herr Brandt, der echte Bauersmann, dem sein brennendes Pfeifenstummelchen den ganzen Tag über in der Mundecke hing, trat durch die Hintertür und begrüßte seine Gäste.

Und dann saß man auf der hölzernen Bank um den langen Tisch. Eine dampfende Schüssel voll Kartoffeln stand lockend inmitten. Daneben der Butterweck und ein riesiger Brotlaib.

Mit beglückender Miene brachte Gretchen die Kaffeekanne, schenkte ein und schob jedem die Tasse zu.

»Wohl bekomm's,« sprach Vater Brandt, lüftete die Mütze und nahm den Pfeifenstummel aus der rechten in die linke Mundecke.

»Bitte, zugreifen,« nötigte Mutter Brandt. »Mir gewe, was mir hawe!«

Jörg und Heinz ließen sich nicht zweimal bitten. Auch Gerhard und Sylvia verspürten großen Appetit nach dem Marsch.

Mutter Brandt konnte mit ihren Gästen zufrieden sein.

Beim Aufspülen danach ließ Sylvia es sich nicht nehmen, der Mutter und Gretchen zur Hand zu gehen, und dann saß man draußen vor der Haustür und sah den Mond groß und voll über den Bergen heraufkommen.

Der Tag, der dann folgte, war wundervoll.

Jörg und Heinz durften eigenhändig und selbständig das Kuhgespann ins Feld lenken. Dann hatten sie im Handumdrehen Freundschaft mit der ganzen männlichen Jugend des Dorfs geschlossen und lieferten am Nachmittag blutige, äußerst interessante Schlachten, wobei sie beide die Anführer der zwei feindlichen Heerhaufen waren, also als Gegenfeldherrn auftraten.

Wie gesagt, es war ein wundervoller Tag!

Auch Sylvia fand das. Morgens wich sie im Haushalt nicht von Mutter Brandts Seite und briet unter deren Aufsicht sogar den Festbraten an, worauf sie nicht wenig stolz war.

Da Gretchen ins Feld gemußt hatte, war Sylvias Hilfe sehr willkommen, obgleich Mutter Brandt sich zuerst sehr sträubte.

»Als ob se des Gretche wär, grad wie e Dechterche hat se mir geholfe,« rühmte die Mutter beim Mittagessen.

Am Nachmittag, während Jörg und Heinz die denkwürdigen Schlachten schlugen, wanderte Sylvia mit Gerhard und Wolf in die Berge.

Wolf zeigte ihr all seine Lieblingsplätze, wo er als Knabe geträumt, als Jüngling Zukunftspläne geschmiedet hatte.

»Geistlicher wollte ich eine Zeitlang werden, ich wußte, es war Mütterchens Wunsch, Missionar am liebsten. Dort, wo's am blutigsten herging, dünkte es mir am besten für mich. Jetzt –«

»Jetzt?« fragte Sylvia lächelnd.

»Jetzt bin ich bescheidener in der Beziehung geworden,« entgegnete Wolf. »Ein ruhiges Wirken, ein friedliches Heim, ein –«

Er brach ab.

Sylvia fragte nicht weiter.

Am Abend schickte Mutter Brandt die Jugend zeitig zur Ruhe, da am nächsten Tage früh gewandert werden sollte.

Und dann kam der Morgen und der Abschied.

Das halbe jugendliche Dorf hatte sich versammelt, Jörg und Heinz das Geleite zu geben. Alle die Michel und Hannes und Peter hielten es für ihre Pflicht, die geehrten Gäste nicht so ohne weiteres ziehen zu lassen. Und Jörg und Heinz fühlten sich dadurch sehr wichtig und sehr gehoben.

Mutter Brandt hielt lange Sylvias Hand gefaßt.

»Ich bete, daß wir uns Wiedersehen, Kind,« sagte sie schlicht.

Sylvia preßte die rauhe Arbeitshand, und dann küßte sie die faltige Wange der kleinen Frau.

»Gott behüte Sie, Mutter Brandt, tausend Dank für alles. Ich werde den Tag nicht vergessen.«

Und dann umfaßte der Sohn die Mutter herzlich und lange, und dann waren sie gegangen.

Der Heimweg versprach wundervoll zu werden.

Sonnenschein und Vogelsang, Himmelsblau und Blütenduft taten wenigstens redlich das Ihre dazu.

War es ihre Schuld, daß die dummen Menschenkinder selbst sich durch wer weiß wag für überflüssige Torheiten den Tag verdorben?

Erst hatte sich alles so herrlich angelassen.

Jörg und Heinz waren unter Jubel und Hallo inmitten ihres Gefolges dahinmarschiert.

Nach einer Stunde etwa hatte man unter Händedrücken, Geschrei und Mützenschwenken sich getrennt.

Jörg und Heinz hatten immer noch etwas zu sagen und zu bestellen gehabt, weshalb es noch viel Hin- und Herlaufen gab.

Dem machte Gerhard dann ein Ende. Dann gab's noch viel Herüber- und Hinüberrufen und dann – ja dann kam der Wald, und man konnte sich gegenseitig nicht mehr sehen.

Um den Trennungsschmerz etwas zu betäuben, schlug Gerhard einen gemeinsamen Gesang vor. Dann pfiffen er und Wolf einen Marsch, nach dessen Klängen es sich prächtig marschierte.

Und dann, nach tüchtigem Marschieren, war die Mittagpause und die Lagerung im grünen Moos gekommen.

Sylvia hatte Mutter Brandts mitgegebene Vorräte ausgepackt und so eifrig für aller Wohl gesorgt, daß sie beinahe zu kurz gekommen wäre, was dann wieder Wolf nicht leiden wollte.

Bis dahin war wie gesagt alles herrlich und in Freuden gegangen.

Dann war die Änderung eingetreten, über die sich Jörg und Heinz noch abends in ihren Betten die Köpfe zerbrachen.

»Du, Jörg –«

»Ja, Heinz?«

»Warum das Sylve-Mütterchen wohl mit einemmal heut mittag nach dem Essen so eklig war?«

»Eklig?«

»Na, doch gräßlich langweilig. Erst hat sie gelacht und gesungen, und dann, als wir nach dem Essen mit Gerhard auf die Käferjagd gingen und wieder zurückkamen, da hat sie so merkwürdige Augen gemacht und hat so rot ausgesehen, und der Wolf auch und – du, Jörg, am Ende hat sie doch zu viel gegessen, was?«

»Unsinn, es war ja kaum mehr etwas da. Ich hab' alle Rucksäcke durchgesucht.«

»Ja aber, Kopfweh hat sie doch auch gekriegt, Sylve-Mütterchen hat doch noch nie Kopfweh gehabt.«

»Nein, zu viel gegessen kann sie nicht haben, ich hab' neben ihr gesessen.«

Vor Jörgs Geist tauchten alle die zahllosen Butterbrote auf, die in seinem und nicht in Sylvias Mund verschwunden waren.

»Was aber dann?«

»Weiß ich's?«

»Und dann war's doch gräßlich langweilig, nicht?«

»Ja-a-a.« Jörg gähnte.

»Ich war froh, als wir zur Post kamen.«

»Na du, viel Ulk war da auch nicht los. Der Gerhard knuffte mich mal ganz tüchtig, als ich zum Fenster hinaussehen wollte.«

»Und auf den Bock ließ er uns auch nicht.«

»Weil der Wolf da sitzen wollte. Du, der war auch kurios.«

»Ja, gräßlich albern. Hat am Abend den Mund nicht aufgetan, nur wenn er gefragt wurde. Und Mütterchen Sylvia ist gleich ins Bett gegangen. Ich hab' mir das Heimkommen anders gedacht!«

»Ich auch!«

Sie gähnten beide herzhaft. Dann waren sie entschlummert und schlugen im Traum endlose siegreiche Schlachten.

Hatten sie sich am Abend gewundert, so gab es am Morgen noch viel größere Verwunderung, als Gerhard beim Frühstück mitteilte, sein Freund sei ganz in der Frühe abgereist.

Jörg und Heinz bestürmten Gerhard mit Fragen.

»Fort?«

»Ganz fort?«

»Wieso?«

»Weshalb?«

»Jungen, fragt nicht so albern!«

Gerhard schien unwirsch.

Forschend ruhte sein Blick auf Sylvia, die gar nichts sagte, sondern sich nur sehr eifrig mit den Tasten zu schaffen machte, so eifrig, daß die in ihren Händen ganz merkwürdig klirrten und klapperten.

»Mir wirst du doch vielleicht Auskunft geben, was deinen Freund zu so unvermittelter Abreise zwang?

Doktor Eriksen schien etwas gereizt.

Gerhard zuckte die Achseln.

»Weiß ich's? Er sagte, für das Quellenstudium sei's einfacher, wenn er seine Arbeit in der Stadt beende. Er läßt sehr danken für alles, er wird noch selbst schreiben.«

»Mir scheint, der junge Mann verkennt –« begann Doktor Eriksen noch gereizter.

Da fing er einen Blick Sylvias auf, stehend, gequält. Er verstummte plötzlich.

In dem Blick hatte allerlei zu lesen gestanden, das ihn verwirrte.

Sollte das Grasmückchen zu der überhasteten Abreise des jungen Mannes in irgendwelcher Beziehung stehen?

Ein fragender Blick traf Gerhard.

Der zuckte die Achseln.

Und dann vollendete man stumm das Frühstück.

 

Altchens Friedensport rechtfertigte an diesem Abend seinen Namen nicht im vollen Maße wie sonst.

Wohl lag der beruhigende Dämmerschein der Lampe über dem lieben alten Hausrat, wohl verklärte er Altchens liebes Friedensgesicht. Wohl zog der linde, würzige Hauch der Sommernacht durchs offene Fenster, wohl raunten und wisperten die Baumkronen draußen wie im Traum. In ewig selber, hehrer, friedlicher Majestät wölbte sich der Sternenhimmel darüber, blinkten und flimmerten die Sterne ins Gemach.

Der da aber am alten runden Tisch saß, den Kopf in die Hände gestützt, der hatte nicht Auge und Ohr nicht für den Frieden hier innen und draußen. Der lag mit sich selber schwer im Kampfe. Den ließ das Vaterherz nicht zur Ruhe kommen.

»Ich dulde es nicht, nein, ich dulde es nicht!«

In Doktor Eriksens Stimme dröhnte und grollte es.

»Sohn,« mahnte die Greisin milde, »Sohn, vielleicht quälst du dich ganz umsonst! Vielleicht ist alles nur unsere Einbildung. Laß uns das Kind selber fragen, Arnold, da ist es.«

Er hatte, als Altchen von Einbildung sprach, nur abwehrend trübe den Kopf geschüttelt. Dann hatte er den gehoben und Sylvia entgegengeschaut, die eben in der geöffneten Tür stand.

»Kriegsrat versammelt?« lachte sie schelmisch, aber so frei und so klingend wie sonst war die Stimme nicht, und in den lachenden Augen lag tief drinnen was Fremdes.

Und jetzt, da sie die Augen der beiden Lieben so eigen forschend, fragend auf sich geheftet sah, stieg leise, leise eine Blutwelle in Sylvias Gesicht und überzog es mit leichter Röte.

Instinktiv flüchtete sie zu Altchen, das heiße Gesicht an ihrer Brust zu bergen.

»Grasmückchen, komm einmal hierher zu mir.«

Sie stand vor dem Vater und hing den Kopf. Die Hände hielt sie verschlungen gerade vor sich nieder.

»Schau mir mal frei in die Augen, und dann sage mir' weshalb ist Wolf Brandt gegangen?«

Den Blick konnte sie nicht heben und die zitternden, zuckenden Lippen brachten kein Wort zustande.

Er sah sie so hilflos dastehen, und ein tiefes Erbarmen überkam ihn. Er griff nach den verschlungenen Händen und zog sein Kind zu sich. Das braune Köpfchen drückte er an seine Brust und strich liebkosend und beruhigend über den Scheitel. »Grasmückchen,« sagte er, und die tiefen Töne waren die Liebe und Zärtlichkeit selbst, »Grasmückchen, willst du dem alten Vater nicht vertrauen? Warum ist er gegangen?«

Sie sah ihm mit stillem Blick in die sorgenden Vateraugen.

»Ich habe ihn fortgeschickt, Vaterherz.«

»Warum, Grasmückchen, warum hast du ihn denn fortgeschickt?

»Ich – ich – er – er hat mich lieb, sagt er, und –«

»Und du Grasmückchen?«

»Ich – ich –«

Die scheuen Augen hielten nun dem forschenden Vaterblick doch nicht mehr stand, ihr Gesichtchen barg sich an der Vaterbrust.

Mit sanfter Gewalt kehrte er es sich wieder zu.

»Und du, Grasmückchen?«

»Ich – ich hab' ihn ja auch lieb.« – Wie ein Hauch nur klang es. – »Aber –« jetzt glomm ein strahlendes Feuer in den scheuen Augen auf, und die zitternde Stimme wurde fester und fester – »aber nicht lieber, als euch, Vaterherz. Und ihr braucht mich doch zuerst, nicht? Was solltet ihr, was sollten meine Jungen ohne Mütterchen Sylvia anfangen? Das klingt ja eitel und eingebildet, Väterchen, ich weiß es, aber daß ich so denke, ist nun einmal mein Glück und mein Stolz. Und nun sag mir, daß ihr mich braucht.«

Rührendes lag in dem Ton.

Wortlos drückte er das braune Köpfchen an sich.

»Muß ich das erst sagen, Grasmückchen?« Wie ihm die Stimme zitterte. »Aber sieh, Kind, ich dulde nicht, daß du uns dein junges Leben so ganz opferst. Dein Glück –«

Sie hob langsam die ernst blickenden Augen.

»Glück, Vaterherz? Fern von euch?«

»Wir müssen sehen, wie mir zurechtkommen, Kind. Eine Haushälterin vielleicht –«

Er verstummte vor ihrem Blick.

»Und Mutters Vermächtnis, Vater? Und meine Pflicht? Und du redest von Glück? Glück? Auf solchen Grund gebaut?«

Gequält sagte er: »Aber es muß einen Ausweg geben. Ich – vielleicht –«. Sein Blick fiel auf Altchen. »So hilf doch, Mutter, ich finde mich nicht zurecht.«

Er ließ den Kopf auf seines Kindes Kopf sinken. Altchen hatte nur stumm von einem zum anderen gesehen mit den lieben, sanften, dunklen Augen. Jetzt sagte sie weich: »Wie töricht, Sohn. Siehst du den Weg nicht, den das Kind dir weist? Der ist der rechte, Sohn. Das Kind hat den rechten Weg gefunden, glaube mir.«

»Aber Mutter, ich als Vater darf nicht dulden, daß –«

»Laß du den himmlischen Vater sorgen, Sohn. Der hat wunderbare Wege, die er die Seinen führt. Laß das Kind seine Pflicht tun, das ist für Sylvia der einzige Weg, der zu ihrem Glücke führt. Derweilen wir Alten sorgen und grübeln und denken, löst die Jugend mit instinktiv glücklichem Griff den Knoten. Diese Weisheit hab' ich schon längst gelernt, Sohn, und auch die, meine Weisheit nicht für die einzig richtige zu halten. So viel Sinne, so viel Wege. Laß das Kind seinen eigenen Weg gehen, Sohn.«

Er hielt sein Kind fest umschlungen.

»Wird's dich nie reuen, Grasmückchen?«

Still sah sie ihn an.

»Ich denke nicht, Vaterherz.«

Dann trennten sie sich für die Nacht.

Der Vater und Altchen lagen noch lange wach.

Vor Altchens Blick tauchten Vergangenheit und Zukunft auf, und der Enkelin liebe Gestalt glitt durch beide hin.

»Herr, wie du willst,« lächelte die Greisin.

In Doktor Eriksen stießen Vaterherz und Vaterpflicht hart aufeinander.

Hatte er das Rechte getan? Durfte er das Kindesopfer annehmen?

Sylvia endlich –

Vor Sylvia tauchten ein paar braune Augen auf, die sie flehend ansahen. Mußte es sein?

»Ich konnte nicht anders!« Damit drückte Sylvia das Köpfchen in die Kissen.

Von den dreien schlief Sylvia am festesten und besten.

Und anderen Tages lenkte das Leben ins alte Geleise ein.

So lange Gerhard noch da blieb, und das waren wohl noch vierzehn Tage, war er voll rührender Aufmerksamkeit gegen Sylvia.

Des Freundes, des Geschehenen erwähnte er mit keiner Silbe, Vater mußte ihn wohl verständigt haben.

Wo Jörg und Heinz auf Wolf Brandt zurückkamen – und sie taten es im Anfange gerne und oft – da lenkten Vater und Gerhard ab, und Sylvias rote Wangen, ihr unsicherer Blick bei solchen Gelegenheiten blieben unbeachtet.

Nach ein paar Tagen war Sylvia ganz die alte, frisch und froh, anscheinend wenigstens. Wer näher zusah mit dem Blick der Liebe, der entdeckte in dem jungen Gesicht freilich einen Zug, wie ihn nur das Leben einzeichnet mit unerbittlicher Hand – den Zug des Wissens, des Wissens vom Ernste, vom Leid des Lebens.

Vater sah den Zug wohl, auch Altchen sah ihn, aber beide wußten, er blieb keinem erspart hienieden, und sei er von der sorgendsten, treuesten Liebe umhegt und umfriedet. Bloß daß er sich dem einen frühe, dem anderen später aufprägt. – –

Gerhard war nun schon wieder über drei Wochen abgereist. Alles im Hause ging wieder seinen alten Gang – Da schrieb Gerhard: »Freund Wolf hat gefunden, wonach er so sehr verlangte. Er hat eine Stelle als Reisebegleiter und Mentor eines jungen Mannes angenommen. Er soll mit seinem Zögling erst Wien, London und Paris besuchen und danach eine längere Italienreise machen. Wolf ist Feuer und Flamme. Ich habe ihn lange nicht so frisch und aufgelebt gesehen! Er sendet durch mich den Meinen herzlichsten Abschiedsgruß.«

Wenn es je zuweilen noch wie ein leiser Schatten über Sylvia gelegen hatte, so war der nun auch gewichen. Das Bewußtsein, mit ihrem Entschluß ein anderes Leben verdüstert zu haben, hatte sie schwer gedrückt. Nun sich's auch dort wieder aufhellte, wandte sie das liebe klare Auge mit verdoppeltem Mut und gutem Willen der Sonne zu. Ihre wärmsten Wünsche folgten dem Freund.


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