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Der Kavalier auf den Knien und andere Liebesgeschichten...
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Die Tochter des Wesirs

Das Königreich Kaschemir wurde eine Zeitlang von einem Fürsten namens Aladdin beherrscht, der eine Tochter hatte, die ohne Widerrede die vollkommenste Schönheit des Orients gewesen sein würde, wofern ihr der Sieg nicht durch die Tochter eines Wesirs streitig gemacht worden wäre. Im ganzen Morgenlande sprach man von nichts als von den Reizen dieser beiden Prinzessinnen. Viele Könige entzündeten sich auf den bloßen Ruf ihrer Schönheit hin in Liebe zu ihnen und dachten daran, sie zur Ehe zu verlangen. Es war zwar schwer zu entscheiden, welche von beiden den Vorzug vor der anderen verdiene; aber war es nun Vorurteil, oder hatte die Tochter des Wesirs, vielleicht weil sie sich nicht so stolz und menschenfreundlicher als ihre Nebenbuhlerin betrug, die Herzen der Menge gewonnen, kurz, es gaben alle Parteien ihr Stimme zu ihren Gunsten ab.

Die Tochter des Königs versank in eine tödliche Schwermut und Mattigkeit, als sie sah, daß Ghulnaz, die Tochter des Wesirs, ihr vorgezogen ward. Ihr bestürzter Vater berief seine Ärzte zu sich, und diese versicherten, das Übel der Prinzessin rühre von einem geheimen Kummer her. Der König bat seine Tochter inständig, ihm ihr Herz zu erschließen. Er schwur ihr feierlich, ihr jede Bitte zu bewilligen, die sie irgend an ihn stellen möge, gesetzt auch, daß sie ihn die Hälfte seines Landes koste. Aladdins Tochter hatte nicht nur nicht das Herz, ihm ihren niedrigen Neid einzugestehen, sondern hatte sich ihn sogar gern selbst verhehlt. Indessen, von den Zeichen väterlicher Zärtlichkeit und von dem tiefen Schmerz gerührt, den sie in ihm wahrnahm, konnte sie am Ende nicht widerstehen und bekannte ihm, daß Ghulnaz die Ursache ihres Übelbefindens sei, das nicht eher gehoben werden würde, als bis diese verhaßte Nebenbuhlerin aus ihrer Nähe entfernt wäre.

Aladdin bestrebte sich, seine Tochter zu trösten, und gab ihr die Zusicherung, daß in kurzem nichts mehr von der Veranlassung ihres Kummers gehört werden solle. In der Tat ließ er seinen Minister zu sich kommen und sagte zu ihm: Wesir, ich sehe mich zu meinem Bedauern genötigt, dir zu befehlen, deine Tochter zu verkaufen. Ich weiß wohl, daß dies deinem Herzen nahe geht; aber es handelt sich dabei um das Leben meiner Tochter, und ich erwarte also, daß mir dein Diensteifer, den du mir jederzeit dargetan hast, dieses Opfer bringt. –

Das Herz des Wesirs betrübte sich hierüber ungemein und schwankte eine Weile zwischen Liebe und Ehrgeiz hin und wider. Am Ende aber erstickte der Ehrgeiz die Stimme der Natur. Allerdings wohnte ihm noch so viel Scham inne, daß er es nicht über sich gewann, seine Tochter den Blicken aller öffentlich auszustellen, und um sich also diese Schmach zu ersparen, geriet er auf den Gedanken, sie in einen Korb zu stecken. Darauf ließ er einen öffentlichen Ausrufer zu sich holen und redete ihn folgendermaßen an: Geh und verkaufe diesen Korb für vierzig Asper, aber nur unter der Bedingung, höre wohl, daß der Käufer sich dazu versteht, ihn unbesehen zu nehmen. – Der Ausrufer gab sich Mühe, dem Auftrage des Wesirs zu entsprechen, aber es blieb vergebens, denn die beim Kaufe festgestellte Bedingung schreckte alle etwaigen Kauflustigen ab. Ein Wasserträger, ein junger Mensch, der mutiger als andere war und sich einbildete, es möge ein Geheimnis dahinter verborgen sein, erbot sich endlich zu dem Wagnis, lieh die geforderte Summe Geld von einem Kaufmanne, seinem Freunde, bezahlte sie und trug den Korb nach Hause.

Wer vermöchte nun wohl das freudige Erstaunen zu schildern, das ihn ergriff, als er daselbst den Korb schleunigst öffnete und in ihm ein Mädchen vorfand, dessen Anblick ihn wahrhaft bezauberte! O schöne Huri! sprach er: denn du bist sicherlich eines der himmlischen Wesen, die zum Troste der Auserwählten in jener Welt bestimmt sind, durch welch ein seltsames Geschick bist du in diesen Korb geraten? – Die Tochter des Wesirs, die sich nicht zu erkennen geben wollte, antwortete: Du siehst eine Unglückliche vor dir, die das Schicksal verfolgt. Ich bin deine Sklavin und klage nicht darüber. Du wirst in mir all die Unterwürfigkeit und Treue antreffen, die ich dir schuldig bin.

Die Schönheit und die Reize der Tochter des Wesirs waren so gewaltig, daß ihr Gebieter auf der Stelle für sie entbrannte und von ihnen durchaus befangen wurde. Ghulnaz war seine Sklavin, und er konnte mit ihr nach seinem Willen tun. Aber seine Liebe flößte ihm zugleich eine Zartheit der Empfindung ein, die sich weit über seinen Stand erhob. Hätte ihn sein Ansehen und seine Gewalt zu seiner Glückseligkeit verholfen, so würde er sie nicht für vollkommen erachtet haben, er wollte sie einzig und allein nur seiner Liebe verdanken. Er faßte also den Entschluß, Ghulnaz ihre Freiheit wiederzugeben und sie dann durch die Bande der Ehe mit sich zu vereinigen; bevor er aber noch diesen Plan ausführte, wollte er sie auf die Probe stellen, um sich zu überzeugen, ob sie auch das Los verdiene, das er ihr in Gedanken zubereitet hatte. Er brachte sie in das Haus seiner Mutter, die in einer eine Tagereise von Kaschemir entlegenen kleinen Stadt wohnte. Liebe Mutter, sagte er zu dieser, ich habe mit dieser Sklavin, die ich hier deiner Obhut anvertraue, gewisse Absichten. Unterhalte und unterrichte sie und prüfe sie, ob sie auch ebenso weise als schön ist. – Darauf verabschiedete er sich von seiner Mutter und von Ghulnaz und versicherte ihnen, daß er in kurzem wiederkehren würde. Die schöne Sklavin erwarb sich bald die Zuneigung der Mutter des Wasserträgers, und ihre Sanftmut und Gefälligkeit in allen Dingen gefielen dieser dermaßen, daß sie das Mädchen so lieb gewann, als ob es ihre eigene Tochter gewesen wäre. Die gute Alte, die ein mühseliges und dürftiges Leben führte, hatte immer alles mit Geduld ertragen. Seitdem sie nun aber Ghulnaz bei sich hatte, kränkte es sie auf das schmerzlichste, sie ihr Elend teilen zu sehen, und sie hatte sich alle Schätze der Welt wünschen mögen, um ihr ein ihrer würdigeres Schicksal bereiten zu können.

Das liebenswürdige Mädchen seinerseits fühlte sich von der hilflosen Lage derjenigen, die ihr so offenbare Beweise so vieler Güte gab, gerührt und nahm sich vor, ihr zu helfen. Sie gab ihr also einen Diamanten, den sie verborgen hatte, als ihr grausamer Vater sie in den Korb gesteckt, und hieß der Alten, ihn für zweitausend Zechinen zu verkaufen. Da der Diamant sehr schön war, so fand die Alte in wenigen Augenblicken einen Käufer und kehrte mit dem Gelde zu der zurück, die sie ihre liebe Tochter nannte.

Ghulnaz mietete für sich und ihre Pflegerin ein bequemeres und geräumigeres Haus, das sie mit seinem Gerät versah, und schon begann sie sich über ihr Unglück zu trösten und sich in den Stand zu schicken, in den es sie geworfen hatte, als ein anderes neues Elend sie des Mitleids noch viel würdiger machte, als sie vorher gewesen war. Sie führte zwar das einsamste Leben von der Welt und ging nur äußerst selten und nicht anders als verschleiert aus, aber desungeachtet durchdrang der Ruf ihrer Schönheit die kleine Stadt, in der sie lebte. Es verliebte sich auf das leidenschaftlichste ein Jüngling in sie, dem es nicht an Dreistigkeit fehlte, ihr seine Wünsche zu erklären. Da es nun aber dem frechen Burschen mit seiner Liebe nicht so gut glücken wollte, als er erwartet hatte, erzürnte er sich darüber dergestalt, daß sich seine Liebe in Haß verwandelte und ihn zu dem Entschlusse antrieb, sich au der Jungfrau für ihr Verschmähen zu rächen. Er wanderte geradeswegs nach Kaschemir und sagte zu dem Wasserträger, als er ihm begegnete: Wie sehr bedaure ich dich doch, daß, derweil du eine undankbare Sklavin so gut und menschenfreundlich ernährst und dich deswegen hier plagst und abmühst, sie in einem strafwürdigen Überfluß schwelgt, der ihr von dem Sündenlohn zufließt, den sie von ihren Liebhabern empfängt!

Der in Zorn geratene Wasserträger untersuchte nicht, ob der Neuigkeit, die er empfing, irgend Wahres zugrunde lag, und verließ Kaschemir, um seine Rache zu nehmen. Die Anständigkeit des Hauses, das seine Mutter bewohnte, die Zierlichkeit des Gerätes darin, kurz alles deutete ihm Verrat an: er tritt ein. Die nichts argwöhnende, schuldlose Ghulnaz steht auf, ihm entgegenzugehen: er läßt ihr dazu keine Zeit, er stürzt auf sie los und senkt ihr einen Dolch in den Busen, den er unter seinem Gewande verborgen trug, ja, will sogar noch einen zweiten Streich nach ihr führen, da er sieht, daß sie nicht auf den ersten zu Boden sinkt, wiewohl sie entsetzt vor ihm flüchtet und sich zum Fenster hinabstürzt.

Ein Hebräer, der über diese Straße geht, sieht ein in seinem Blute gebadetes Mädchen darauf liegen, erhebt es vom Boden und führt es in seine Behausung. Mittlerweile war die Mutter des Wasserträgers, die das benachbarte Gemach bewohnte, auf das Geschrei ihrer Ghulnaz herbeigesprungen. Sie erblickt ihren Sohn mit Wut in den Augen und mit dem blutgefärbten Dolche in der Hand. Mein Sohn, ruft sie aus: gegen wen solchen Zorn? Wo ist Ghulnaz? – Er erwiderte: Dieses Eisen hat mich zur Stelle an einer Undankbaren gerochen, die mich verriet. – O wehe dir! in welchem Irrtum bist du befangen? rief die bestürzte und bitterlich weinende Alte: Oh, wie viele Tränen wird es dich kosten! Ungerechterweise hast du die liebenswerteste und tugendreichste Jungfrau von allen, die es auf Erden gibt, getötet. – Hierauf erzählte sie ihm, mit welcher Großmut Ghulnaz sie dem Elend entrissen hatte. Der Wasserträger überließ sich nunmehr dem allerheftigsten Schmerze. Er stürzt auf die Straße, in der Meinung, seine geliebte Ghulnaz noch zu finden, aber sie war verschwunden. Er läuft durch die Stadt allerwärts hin und wider, und es zeigt sich ihm keine Spur von ihr.

Unterdessen ließ der Hebräer einen Wundarzt holen, der die Wunde der Tochter des Wesirs sorgfältig untersuchte und sein Gutachten abgab, daß sie nicht tödlich sei. Auch trog er sich nicht, denn in kurzer Zeit hatte sie Gesundheit und alle ihre Reize wiedergewonnen. Der Hebräer vermochte nicht, sie mit gleichgültigen Augen anzusehen, und erklärte ihr seine Leidenschaft wie jemand, der ein Recht zu haben glaubt, deren Befriedigung zu erwarten. Ghulnaz schauderte vor der ihr drohenden Gefahr, und da sie sich mit so äußerster Strenge bewacht sah, daß sie unmöglich fliehen konnte, entschloß sie sich, sich in das Meer zu stürzen, das die Mauern ihrer jetzigen Behausung bespülte, indem sie dafür hielt, daß der Verlust des Lebens nichts gelte, wenn sie nur ihre Ehre rette. Damit sie diesen Gedanken zur Ausführung bringen könnte, war es notwendig, daß ihr Liebhaber sich von ihr entfernte. Deswegen stellte sie sich an, in seine Wünsche zu willigen, und verlangte nur von ihm, daß er zuvor ins Bad ginge.

Der Hebräer ging. Ghulnaz öffnet das Fenster und wirft sich unverzagt in die See. Drei Brüder, die in dieser Gegend fischten, sehen sie mit den Wogen kämpfen, fassen sie als erfahrene Schwimmer bei ihrem Gewande, legen sie in ihre Barke nieder und landen mit ihr an einem Wiesengrund auf der anderen Seite der Stadt.

Durch die Sorgfalt der drei Brüder ins Leben zurückgerufen, fand sich die Tochter des Wesirs einer weit größeren Gefahr ausgesetzt, als die gewesen, der sie entronnen war. Ihre ausbündige Schönheit machte den lebhaftesten Eindruck auf die drei Brüder und entzündete zwischen ihnen einen hartnäckigen Streit, demgemäß ein jeder sie für sich verlangte. Sie waren schon nahe daran, miteinander handgemein zu werden, als der Zufall einen Jüngling zu Pferde in ihre Nähe führte, den sie zum Schiedsrichter erkoren. Der Jüngling ließ sich den Gegenstand ihres Zwistes von ihnen auseinandersetzen und sagte dann: Nur allein das Glück ist imstande, zwischen euch Recht zu sprechen. Ich werde nach drei verschiedenen Seiten hin drei Pfeile abschießen: wer von euch zuerst einen wiederbringt, der soll die Jungfrau besitzen. –

Dieser Vorschlag dünkte den drei Fischern so verständig, daß sie, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, ihn gelten ließen. Der Reiter spannt den Bogen, schießt die drei Pfeile, einen nach dem anderen, nach drei verschiedenen Punkten ab, und die drei Brüder rennen im schnellsten Laufe, ein jeder in der Hoffnung, sein Ziel am ersten zu erreichen. Der Reiter sieht sie weit entfernt, springt vom Pferde, hebt Ghulnaz hinauf, schwingt sich vor ihr wieder in den Sattel und jagt mit ihr im gestreckten Galopp von den Fischern hinweg nach seinem Dorfe. Ihr Schicksal brachte es nun einmal so mit sich, daß Ghulnaz einen jeden Mann, der sie sah, in Liebe für sich entzünden sollte.

Der Reiter hatte also seinen Fuß kaum wieder zur Erde gesetzt, so erklärte er ihr seine glühende Leidenschaft. Sie sah ein, daß sie sich von diesem neuen Angriffe nur mit List würde erretten können, und gab also kein Zeichen von Unwillen darüber kund, sondern hörte die verliebten Worte ihres Freiers geduldig an. Sie schien sogar Gefallen daran zu finden, indem sie ihn nur so viel bat, die Befriedigung seiner Sehnsucht bis zur Nacht aufzuschieben. Es kommt mir ein neuer Gedanke in den Sinn, sagte die Tochter des Wesirs, er ist seltsam, es ist wahr, aber er kann Eure und meine Ruhe sichern. Es weiß noch niemand etwas von meiner Ankunft an diesem Orte, leihet mir einen Eurer Anzüge als Mann. Sagt aus, daß ich ein aus der Fremde zurückgekehrter Verwandter von Euch sei, und da also niemand in mir ein Weib ahnen wird, so habt Ihr keine Nebenbuhler zu befürchten. – Außer sich vor Freude über einen so klugen Anschlag, gab ihr der Jüngling hierauf eines seiner Kleider, und sobald sie es angelegt hatte, sprach sie zu ihm: Nun will ich Euch aber auch beweisen, daß ich nicht bloß in Euren Augen ein Mann scheine, sondern mich in der Tat wie ein solcher zu betragen und ein Pferd so gut wie wenige zu bändigen weiß. – So spricht sie, und zu der nämlichen Zeit schwingt sie sich mit Leichtigkeit dem Pferd des Jünglings auf den Rücken. Sie tummelt es ein paarmal hin und wider, und derweil er ihren edlen Anstand rühmt und bewundert, entfernt sie sich von ihm immer mehr und mehr, gibt dem Pferde die Sporen und jagt so schnell von dannen, daß sie wie ein Blitz aus den Augen des versteinerten Reiters verschwindet. Aus Besorgnis, verfolgt zu werden, galoppiert sie den ganzen übrigen Tag und die ganze Nacht weiter, ohne zu wissen, welchen Weg sie eingeschlagen habe.

Als die ersten Strahlen der Sonne am Horizonte emporleuchteten, gewahrte sie vor sich eine große Stadt, auf die sie zuritt. Wer beschreibt aber ihr Erstaunen, als die Bewohner derselben ihr entgegengezogen kamen und zu ihr sprachen: Unser König ist gestern abend gestorben und hat keinen Thronerben, wohl aber einen letzten Willen hinterlassen, in dem er zur Vermeidung von Bürgerkriegen bestimmt, daß der sein Nachfolger auf dem Throne sein solle, der heute morgen beim Eröffnen der Tore dieser Stadt der erste davor sei. – Ghulnaz empfing mit einer plötzlich angenommenen majestätischen und leutseligen Haltung die Huldigungen ihrer neuen Untertanen, die sich nichts davon träumen ließen, daß sie mit einem Weibe zu tun hatten. Sie ritt unter dem freudigen Zujauchzen des Volkes durch die Straßen und nahm den Palast in Besitz, der der gewöhnliche Aufenthalt des Königs dieses Landes war.

Also auf den Thron gelangt, begann sie, sich die Wohlfahrt ihres Staates aus allen Kräften angelegen sein zu lassen. Sie setzte erleuchtete und rechtschaffene Wesire ein und trug die eifrigste Sorgfalt, daß jedermann Gerechtigkeit widerfuhr. Ihre Untertanen bewunderten die Weisheit ihrer Herrschaft und segneten ihr Geschick, das ihnen einen so viel mehr mit ihrer als mit seiner eigenen Glückseligkeit beschäftigten König zugeteilt habe.

Die schöne Ghulnaz hatte ihr Zepter bereits einige Zeit geführt, als sie eines Tages an den Toren ihrer Stadt einen prachtvollen Sessel aufrichten und, als dies geschehen war, ihr Bildnis malen ließ, das sie dem Maler ohne nähere Angabe ihrer Gründe befahl, in der Kleidung einer Königin vorzustellen. Dieses Bildnis wurde auf den Sessel gestellt, und mehrere hie und da in dessen Nähe verborgene Kundschafter erhielten den Auftrag, einen jeden vor sie zu bringen, der im Anschauen des Bildes etwa Seufzer ausstoßen oder sonstige Anzeichen von Schmerz offenbaren würde. Mittlerweile vermochte sich der Wasserträger über den Verlust seiner geliebten Sklavin nimmermehr zu trösten und irrte von einer Stadt zur anderen, um womöglich eine Spur von ihr aufzufinden. Eines Tages bei diesem Sessel anlangend, ermaß er mit seinen Augen nicht so bald die Ähnlichkeit des Bildes mit den ihm in sein Herz eingeprägten Zügen seiner Geliebten, als er tief aufseufzte. Die Bewaffneten ergriffen ihn und brachten ihn vor Ghulnaz, die er in der männlichen Tracht nicht wiedererkannte, und die ihm mit zürnendem Angesicht gebot, die Ursache anzugeben, aus der er beim Anblicke jenes auf dem Sessel aufgestellten Bildnisses Tränen vergossen habe? Vom Kopfe bis zu den Füßen zitternd, trug er ihr die Geschichte seines Unglücks vor, und Ghulnaz ließ ihn einsperren.

Nach Verlauf einiger Tage führte der Zufall die drei Fischer zu demselben Sessel; sie erkannten das Bildnis derjenigen, die sie aus dem Meere errettet hatten, und insofern dieser Anblick ihre noch nicht erloschene Liebesflamme aufs neue entzündete, konnten sie sich nicht enthalten, aufzuseufzen. Sie wurden ebenfalls vor Ghulnaz gebracht, die sie desgleichen gefangensetzen ließ, nachdem sie dieselbe Frage, wie an den Wasserträger, an sie gerichtet hatte. Der Reiter und der Jude ermangelten am Ende ebensowenig, bei dem Bilde zu erscheinen, und da sie ihre innere Zärtlichkeit gleich jenen an den Tag gaben, so teilten sie ihr Los.

Als sie nunmehr alle im Kerker beisammen waren, befahl die Tochter des Wesirs, sie alle miteinander vor sie zu führen. Ganz bewegt sagte sie zu ihnen: Wenn jene Jungfrau, die der Gegenstand eurer Sehnsucht und Leidenschaft ist, jetzt vor eure Augen träte, würdet ihr sie wohl wiedererkennen? – Als sie diese Worte gesprochen hatte, warf sie den königlichen Mantel von sich und erschien vor ihnen in Weiberkleidung. Alle sechs fielen vor ihr auf die Knie nieder und baten sie um Gnade und Vergebung der Vergehungen gegen sie, wozu ihre grenzenlose Liebe sie verleitet habe. Die Tochter des Wesirs hob sie mild und gütig zu sich empor, nahm den Wasserträger bei der Hand, ließ ihn neben sich auf ihrem Throne niedersitzen und bekleidete ihn mit den Zeichen der königlichen Würde. Sodann die Großen des Reiches um sich versammelnd, erzählte sie ihnen die Geschichte und bat sie, denjenigen als ihren König anzuerkennen, der bereits ihr Gebieter gewesen sei. Einige Tage später machte sie ihn zu ihrem Gemahl und feierte mit ihm eine königliche Hochzeit. Der Hebräer, die drei Fischerbrüder und der Reiter wurden mit Schätzen beladen wieder nach Hause geschickt, vermochten sich aber trotz all derselben nimmermehr über ihren Verlust zufriedenzugeben.


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