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Der Kavalier auf den Knien und andere Liebesgeschichten...
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Die Flucht aus dem Vaterhause

In Englands Marken lebte vor Zeiten ein reicher Ritter, dem seine Frau eine einzige, Laurea genannte und mit siebzehn oder achtzehn Jahren so überaus schöne Tochter geboren hatte, daß die Natur sich vorgesetzt zu haben schien, in ihr ein Muster zu bilden, welches alle Reize und Schönheiten des Landes in sich vereinige.

So wie nun die Mutter dieser Jungfrau ihr natürlicherweise mit zärtlicher Liebe zugetan war, empfand auch der gute Mann, ihr Vater, so große Freude über ihr anmutiges Wesen, daß er, aus Besorgnis, sie dereinst von sich lassen zu müssen, beschloß, sie mit einem alten Lord, seinem Nachbar, einem an Kenntnissen und Gütern reichen Manne, zu verheiraten, in der Hoffnung, dieser werde sie in Gemäßheit seines höheren Alters am besten zu behandeln verstehen, und bei der Nähe ihrer beiderseitigen Besitzungen möge sie ihm auf seine alten Tage also auch besser Trost und Pflege angedeihen lassen.

Die Liebe aber hatte schon dieses kindliche Herz in Besitz genommen und des Mädchens Neigung, fernab von dem Greise, dem jungen liebenswürdigen Lord Barns zugewandt, der auch seinerseits so sehr im Verlangen der Liebe zu ihr befangen war, daß er nirgends als in ihrem Anschauen Ruhe fand, in ihrem Dienst bereit war, zu leben und zu sterben. Solchergestalt brachten die beiden Liebenden so viele Tage und Stunden heimlicherweise damit zu, die Sehnsucht ihrer Herzen einander zu erkennen zu geben, daß ihre Seelen zu einer einzigen verschmolzen zu sein schienen. Der Vater hatte zwar nur eine schwache Erinnerung an den Zustand der Liebe aus seiner Jugend her in sich bewahrt und gedachte um deswillen unveränderlich der Ausführung seines vorgesetzten Planes, indem er dem Einverständnisse des zärtlichen Paares aus allen Kräften entgegen war; die immerdar wachsame Liebe wußte aber die Zeit und Gelegenheit zur Befriedigung ihrer Wünsche so wohl zu erspähen, daß die jungen Leute viel mehr Stunden, als er sich träumen ließ, und ganze Nächte in süßer Vertraulichkeit und zärtlichen Gesprächen zusammen verlebten und bei sich alle Mittel und Wege erwogen, dem kalten Liebesfeuer des alten, der Jungfrau aufgedrungenen Lords zu entfliehen. Laurea wünschte nichts sehnlicher, als durch die Ehe mit dem Manne verbunden zu werden, von dem sie ihr Glück und ihre Zufriedenheit erwartete. Als sie demnach den beharrlichen Willen ihres Vaters erkannt hatte, sie gegen ihre Neigung zu vermählen, und als der Hochzeitstag bereits anberaumt worden war, beschloß sie, lieber tausendfachen Tod zu erleiden, als ihr Jawort zu geben und somit die ihrem Freunde schon seit langer Zeit verpfändete Treue zu brechen. Die Liebenden versiegelten sich gegenseitig mit einem langen innigen Kusse ihre Versprechungen und ordneten ihre Flucht auf den nächstkommenden Morgen an, um an irgendeinem verborgenen Orte ihre eheliche Verbindung zu vollziehen.

Der getroffenen Abrede zufolge stellte sich Lord Barns zu rechter Zeit und Stunde mit einer zahlreichen, für den Fall des Verrates oder der Entdeckung wohlbewaffneten Dienerschaft vor dem Hause seiner Geliebten ein, nahm sie, die zur Abreise fertig seiner harrte, hinter sich auf seinen tüchtigen Hengst und verteilte seine Leute, um ja von keinem Unfalle überrascht und aufgehalten zu werden, wie jemand, der sehr zu verlieren besorgt, was er mit großer Mühe erworben hat, rechts und links, vor- und rückwärts aus seiner Nähe, damit sie ihm von allen Seiten Schutz und Verdeckung verliehen. Er selbst trat mit seiner Geliebten seine Flucht durchaus nicht eilig an, denn weil er ihrer zarten Jugend und Gesundheit durch die Erschütterung eines scharfen Trabes zu schaden fürchtete, so ließ er sein Pferd gemächlich querfeldein schreiten, ohne sich auf einem gebahnten Wege oder in einer gewissen Richtung zu halten und etwa achtzuhaben, ob er auch immer von den Seinigen umgeben sei.

Er mochte eine lange Strecke durch Wald und Feld geritten sein, ohne einen Zufluchtsort gefunden zu haben, als er in einem dichten Gebüsche an der Landstraße ein Haus wahrnahm, das einer Herberge für Reisende ähnlich sah. Er lenkte sein Pferd dahin, stieg mit der Dame ab und führte sie in Erwartung des Mittagessens nach einem oberen Zimmer, um sie ausruhen zu lassen.

Unglücklicherweise hatten vier bewaffnete Bauerlümmel, den Wald durchstreifend, den Ritter mit seinem schönen Fräulein, das sie für eine gefügige Dirne aus der Stadt hielten, in das Wirtshaus einkehren sehen. Von einer Hochzeit zurückkehrend, auf der sie sich die Magen vollgestopft und das Hirn durch Rebensaft umnebelt hatten, verlangten sie nichts mehr, als mit dem ersten besten anzubinden und in Händel zu geraten. Sobald sie nun in dieser Stimmung des Wirtes ansichtig wurden, bestürmten sie ihn mit der Frage, wohin das eben mit ihrem Schatze bei ihm abgestiegene Dämchen gekommen sei? – Warum fragt ihr mich nach ihr? antwortete der Wirt. – Weil wir ihr Gesellschaft leisten und uns mit ihr in ihrem Gewerbe vergnügen wollen. – Was! rief der Wart aus. Ich glaube, daß ihr von Sinnen oder närrisch geworden seid. Es ist Mylord Barns, der die Dame hierhergebracht hat, und, wie ich glaube, muß sie seine Verwandte sein. Ich bitte euch, eures Weges zu gehen und mein Haus nicht mit solchen Reden in Unehren zu bringen. Hätte sie Mylord mit angehört, es entstände gewiß und wahrhaftig Unheil daraus, denn es ist ein Herr, dem das Herz auf dem rechten Flecke sitzt und der lieber sein Leben darangeben, als eine einzige Beleidigung dulden würde. Es sind ja in der Stadt Orte genug, wohin ihr euch wenden könnt.

Der brave Gastwirt bestrebte sich auf alle mögliche Weise, dem verwegenen Vorhaben der vier Trunkenbolde zu steuern. Die Hitze des Weins hatte aber ihre Begierden dermaßen angereizt und ihren Verstand so sehr befangen, daß sie weder auf seine Vorstellungen noch auf die Gefahr der Strafe achteten, sondern fortwährend gewaltsam in das Haus zu dringen drohten und mit Flüchen und gotteslästerlichen Schwüren bekräftigten, sie würden die Türe der Stube sprengen, in der sich die Dirne befände, wenn man sie ihnen nicht freiwillig überlieferte.

Über die Halsstarrigkeit der vier Kerle entrüstet und besorgend, auf die Dauer nicht ihrer wilden Heftigkeit widerstehen zu können, begab sich der Gastwirt zu dem Edelmanne in dessen Zimmer und hinterbrachte ihm ihre seltsamen Drohungen, indem er ihn ersuchte, selbst im Guten mit ihnen zu sprechen, da es ihm unmöglich sei, sie zu besänftigen. Als ein wohlerfahrener Mann stellt sich ihnen der Lord entgegen und fragt sie mit Leutseligkeit, was ihr Begehren von ihm sei? Die wilden Burschen gaben mit Anmaßung und Verwegenheit zur Antwort, sie wollten die von ihm im Hause verborgene Dirne zu ihrer Kurzweil haben, und er möge sie ihnen dann wenigstens überlassen, sobald sie in seinem Besitz gewesen sei. Wie, ihr Leute? entgegnete der Edelmann, ist euch mein Stand und Herkommen so unbekannt, daß ihr nicht wißt, wie ich schwerlich jemals eine übelberüchtigte Frau begleiten möchte, der ich von Jugend auf mit dem Könige erzogen worden bin? Unmöglich scheint es mir, daß ihr niemals von meinen Waffentaten unter der Anführung so tapferer Feldherrn gehört haben solltet! Und überdies versichert euch mein Wirt als Ehrenmann, daß das unter meinem Schutze hier befindliche Fräulein eine Verwandte von mir ist und einem so vornehmen Hause angehört, daß ihr sie, wie ich von eurer Rechtlichkeit überzeugt bin, gewiß nicht beleidigen werdet. Wenn ihr mir das Vergnügen machen wollt, mit mir zu Mittag zu essen, so werdet ihr meine Dienerschaft sehen, die alsbald ankommen muß, und euch dann mit eigenen Augen überzeugen, daß ich euch nicht belogen habe.

Alle diese höflichen und milden Worte vermochten indessen die vier Bösewichter nicht zu begütigen. Im Gegenteil, je mehr ihnen Lord Barns zuredete, desto höher schwoll ihre verzweifelte Raserei an, und sie erklärten ihm geradezu: der Edelmann, dessen Namen er sich anmaße, sei nicht gewohnt, allein und auf solche Weise über Land zu ziehen, und er möge nur nicht viel widersprechen und sich weigern, sondern die Dirne kurz und gut herausgeben, sonst würden sie sie ihm wider seinen Willen mit Gewalt und mit dem Schwerte in der Faust abnehmen.

Der brave Lord übersah zwar nicht, welchen ungleichen Kampf er allein gegen viere zu bestehen haben würde, er hatte aber schon so viele Gefahren und Schlachten ritterlich durchfochten, daß er, als er jetzt diese letztere Drohung vernahm und die Entschlossenheit der Trunkenen sah, in seinem Zorne viel lieber sein Leben daransetzen als seine Dame der geringsten Kränkung ihrer Ehre preisgeben wollte. Um sich desto besser verteidigen zu können, zog er sich auf der Stelle nach seinem Zimmer zurück und ward an dessen Eingang zwar von seinen Gegnern allerwärtsher wütend angefallen, bekämpfte sie aber mit so außerordentlicher Kraft und Geschicklichkeit, daß er sie allesamt verwundete und in die Flucht schlug.

Nichtsdestoweniger erreichte ihn sein widerwärtiges Geschick, als er die fliehenden Schelme zu ungestüm und hitzig verfolgte, dergestalt, daß er die sehr schmale Stiege hinab in die Spitze seines Dolches stürzte und von einem der Flüchtigen, der, den Kopf zurückwendend, seinen Unfall wahrnahm, mit der Partisane durchstochen ward.

Die Mörder scharrten den Leichnam des augenblicklich Verscheidenden in dem Garten des Wirtshauses ein und stürzten, nachdem sie dies jammervolle Geschäft beendigt hatten, wie heißhungrige Wölfe in das Zimmer der schönen Laurea hinauf, die, über solchen Überfall aus ihrem Schlummer erwachend und über das rohe und verstörte Wesen und Aussehen der Fremden entsetzt, nach ihrem Geliebten dringend um Hilfe schrie.

Das zarte, blendend weiße Antlitz der Jungfrau, der Ausdruck von Angst und Schrecken, der sich darin malte, veranlaßte die Mörder allerdings, in einer gewissen Regung von Mitleid ihr Trost zuzusprechen. Jedoch nur an die Gesellschaft von Edelleuten gewöhnt und jetzt in der Gewalt der vier nach Wein und Speisen höchst ekelhaft riechenden Landstreicher, deren einer sie dahin, der andere dorthin zerrte und zog, erwiderte sie auf ihre Äußerungen kein einziges Wort und brachte sie dadurch von neuem in Zorn, indem sie ihr unter rohen Flüchen erklärten: ihr Buhle habe bereits von ihren Händen den Tod erlitten, und sie möge also, da ihr nicht im mindesten zu hoffen stehe, jemals wieder mit dessen Liebkosungen erfreut zu werden, ihnen selbst zu Willen sein.

Bei der entsetzlichen Nachricht vom Tode ihres Freundes stieß das arme Mädchen einen so schweren Seufzer aus, daß sie damit ihre Seele aushauchen zu müssen glaubte. Sie versuchte sich mit den Namen ihres Vaters und ihrer Verwandten und Freunde zu helfen: aber sie predigte der übermäßigen sinnlichen Lust der Mörder umsonst Vernunft.

In der Hoffnung, eher einen einzigen als alle viere zusammen sich durch sanfte Worte günstig zu stimmen, beschwor sie sie nunmehr mit gefalteten Händen, ihr die Gunst zu erzeigen, sie jedesmal mit dem einen allein zu lassen, der bei ihr bleiben wolle. Das Gesindel erwies sich bereitwillig, diesen Wunsch zu befriedigen, und nachdem sie den allerabscheulichsten Mörder ausersehen hatte, um ihn zuerst zu gewinnen, sagte sie zu ihm: Obgleich ich als Eure Sklavin und Gefangene in Euren Händen bin, finstrer Mann, ohne Euch im geringsten bekannt zu sein, so beschwöre ich Euch doch, da von Euch das ganze Schicksal meines Lebens abhängt, aus freiem und eigenmächtigem Willen mit einem trostlosen Weibe Erbarmen zu tragen, indem Ihr die Verteidigung ihrer Ehre unternehmt, die Euch von den größten Häusern Dank und Lohn verdienen wird, während ihr Euch sonst nur mit ihr selbst ins Verderben stürzt, wenn Euch das wenige Vergnügen, was Ihr bei der gewaltsamen Entehrung eines edlen Weibes haben könnt, vorzüglicher erscheint. Bedenkt Ihr, der Ihr mir zu der Errettung meiner Ehre der Geeignetste erscheint, daß meine Schändung nicht allein mit dem äußersten Rachedurste bis zu einem schmählichen Tode von den Meinigen geahndet werden wird, sondern daß die Strafe, die Euch Euer Gewissen für eine so gottlose Tat bereiten müßte, Euch auf ewig in den gräßlichen Abgrund der Hölle schleuderte.–

Diese mit einem unversiegelten Strome von Tränen begleiteten Worte übten auf die gesunde Vernunft des mit ihrem Hause wohlbekannten Barbaren eine solche Gewalt aus, daß er sein Unterfangen augenblicklich aufgab. Entschlossen, Hand an seine Waffen zu legen, bereitete er sich schon vor, sie zur Beschützung der Jungfrau gegen seine Gefährten zu führen, die, über die lange Unterredung ungeduldig, 129 anfingen, wider die Tür zu stoßen und ihn zu ermahnen, sie einzulassen, als der die Sünder oft mit dem Auge der Gnade in ihrer Notdurft anschauende Herr mit der trostlosen Dame himmlisches Erbarmen trug. Denn indem der eine Mörder im Begriff stand, sich gegen dreie zu verteidigen, trug es sich zu, daß die Diener des Lord Barns, die ihren Gchieter lange an allen Orten und Enden gesucht hatten, zufälligerweise in die Waldherberge gelangten, wo ihnen der Wirt sogleich die betrübte Kunde von dem Edelmanne zu wisset tat, und wo sie als gute und getreue Knechte die vier Verbrecher gewaltsam ergriffen, in Banden schlugen und der Gerechtigkeit überlieferten, die durch eine grausam vergeltende Hinrichtung ein abschreckendes Beispiel an ihnen stiftete.

Die arme, ihren Eltern wieder zugeführte Laurea erkannte, welcher Argwohn und Verdacht ihren guten Ruf betreffen konnte, und ward so zu dem Entschlusse bewogen, teils aus Verdruß über die schlechte Behandlung, die ihr von Seiten ihrer Verwandten angedieh, teils aus ewigem Leidwesen über den Verlust ihres Geliebten, dessen Tod ihr Lebensglück vernichtet hatte, nimmermehr den Bund der Ehe mit einem anderen zu schließen, sondern sich dem Himmel gänzlich anheimzugeben. Demzufolge stahl sie sich eines Tages heimlich aus dem Hause fort und nahm den Nonnenschleier, indem sie, gegen den Willen ihres alten Vaters, allen Bitten und Vorstellungen, mit denen man sie bestürmte, zum Trotz, ihre übrigen Lebenstage der Erfüllung eines strengen Klostergelübdes widmete.


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