Egon Erwin Kisch
Abenteuer in fünf Kontinenten
Egon Erwin Kisch

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Ein Österreicher in Yucatan
(1944)

1939, wenige Monate bevor die Deutschen in Paris einrückten, saß im Café »Deux Magots« der alte Graf Harry Kessler, der schon ein Menschenalter vorher hier gesessen hatte, obwohl er damals auch im Berliner »Café des Westens« saß. Noch bekümmerter als sonst schaute er drein, denn draußen war nunmehr nicht bloß der Krieg, den er noch stärker als alle anderen Kriege haßte – der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich –, sondern es zuckten bereits die Vorboten der Katastrophe über das Firmament und den Boulevard.

»Sie fahren nach Mexiko«, sagte er zu mir. »Schade, daß ich Ihnen mein Mexikobuch nicht auf die Reise mitgeben kann, es liegt in Berlin, – also unerreichbar. Auch Empfehlungen kann ich Ihnen nicht mitgeben. Sind alle schon tot, meine mexikanischen Freunde. Aber wenn Sie irgendwo in Yucatan am Grab des Mayaforschers Teobert Maler vorbeikommen, grüßen Sie ihn von mir. Er war ein edler Mann.«

Maya! Yucatan! Das kam mir noch unwahrscheinlicher vor, als daß ich jemals in Mexiko sein würde. – In New York las ich, daß Graf Kessler gestorben sei, ein Exilierter.

Ein paar Jahre später, Yucatan durchstreifend, fiel mir ein, daß ich hier einen Auftrag auszuführen habe: eines Toten Gruß einem Toten zu überbringen.

In Chichen Itza, im Gespräch mit den bei den Ausgrabungen beschäftigten einheimischen Arbeitern, 375 fragte ich nach Maler. »Don Teoberto? Das war der einzige«, sagte ein Alter.

»Der einzige?« fragte ich, »wovon der einzige?«

Nun hörte ich zum erstenmal die Klage gegen die Weißen, die in den Stätten der Götter gehaust hatten, barbarisch rücksichtslose Archäologen und Geschäftswissenschaftler, welche auf der Suche nach Funden die für die Ewigkeit geschaffenen Fassaden für die Ewigkeit vernichtet haben. Mein Gewährsmann wiederholte seinen ersten Satz, den ich nunmehr verstand: »Don Teoberto, das war der einzige.«

Es war später Spätabend, und der alte Arbeiter war sicherlich ebenso müde wie ich. Dennoch zwang er mich geradezu, mit ihm zum Templo de las Monjas zu gehen. Ich war schon vorher dort gewesen, heute morgen; aber die im Mondschein dahinziehenden Wolken ließen die steinernen Friese aufleben und kommandierten sie – nun gut, scheltet mich einen Romantiker! – zu einer ebenso verrückten wie gravitätischen Polonaise. Ornamente, Figuren und Embleme schlossen sich zum Reigen. Mein Führer ließ sich dadurch nicht aufhalten, er zog mich die Treppe hinauf und oben über eine, insbesondere im wolkengetrübten Mondlicht gefährlich schmale Brüstung bis zur Querseite des Tempels.

Dort öffnete sich eine kleine Tür ins Schwarze, in das wir eintraten, während ein Vampir hinausschoß. »Hier hat Don Teoberto die ganzen Jahre gewohnt.«

Mit Streichhölzern leuchteten wir das Nichts ab, das jetzt die fast spitzgewölbte Kammer füllte. Zwei Nischen in der Wand, sie haben wohl dem Gelehrten als Schrank und Nachttisch gedient. Vielleicht stand dort auch das imposanteste und modernste seiner Forschungsinstrumente: eine Kamera; sie zu bedienen, war eine komplizierte Kunst, und jede Aufnahme dauerte mehr als zehn Minuten.

Malers Bett war der steinerne Fußboden, auf den er sich, in einen Sarape gewickelt, allabendlich niederlegte. Einen Stein als Kissen unter den Kopf geschoben, 376 entschlief er mit dankbaren Gedanken an die längst entschwundenen Bauherren, die Könige aus dem Geschlecht Cocomes, und an die bärtigen Zwerge, die ihre Bauherren gewesen waren. »Es schien«, schrieb Maler nieder, »als hätten sie Mitleid mit dem Manne, der aus so fernen Ländern gekommen war, um sie aus ihrem jahrhundertelangen Schlummer zu wecken, und sie beschützten mich gut.«

Kein Schreibtisch war da, ihm zu dienen. Mein Begleiter erzählt: »Wenn wir morgens hier mit Schaufeln und Hacken ankamen, saß Don Teoberto auf der Treppe und schrieb. Er hatte schon gefrühstückt, ein Ei, ein paar Tortillas und eine Orange.«

Beim Hinaustreten aus der Kammer bietet sich mir eine Bühne dar, auf der hinter durchsichtig blauem Vorhang die Vergangenheit sich selber spielt. Über die theatralisch gegliederten Treppen der Pyramide klimmt ein Chor von Pilgern himmelan. Um den schneckenartig gewundenen Rundturm im Hintergrund schweben goldseidene und buntsamtene Quetzalvögel. Links, auf dem breiten Wege durchs Gestrüpp, geleitet der Klerus die geweihten, in weiße Brautgewänder gehüllten Mädchen zum Felsenrand des heiligen Brunnens und stößt sie dort hinab, auf daß sich die Götter ihrer Jungfräulichkeit erfreuen können. Auf dem Ballspielplatz brüllt das Volk der Mayas, während die Orgel der Götter, das Echo, jeden Schrei vierzehnmal quittiert.

Und alles ist still und leer . . .

Mein Begleiter geht mit mir bis zum Hotel. Er nimmt keine Vergütung an. »Sie waren ein Freund von Don Teoberto Maler«, sagt er nur. Und, wie es im Gedicht steht, schlägt er sich seitwärts in die Büsche.

Ich komme mir wie ein Hochstapler vor. Niemals habe ich Teoberto Maler gesehen, wußte bis zum heutigen Tage fast nichts von ihm, wir hatten nur einen gemeinsamen Bekannten, und auch der ist tot. Und der wackere Maya lehnt seinen Lohn ab, weil er sich von einem Freund Don Teobertos nicht bezahlen lassen will. 377

Teoberto Maler war von Nationalität – ja, was war er denn von Nationalität? In Italien (Rom, 1842) geboren, von deutschen Eltern stammend, trat er in österreichische Militärdienste und ging mit dem Erzherzog Maximilian als Ingenieuroffizier nach Mexiko. Als sein Kriegsherr auf dem Glockenhügel von Querétaro erschossen wurde und solcherart der Kaiserzug nach Mexiko beendet war, zog der junge Hauptmann Teoberto Maler von dannen. Aber er kehrte weder nach seinem Geburtsland Italien heim, noch nach seines Vaters Vaterland Deutschland, noch nach seinem Garnisonsland Österreich, das er als sein Heimatland betrachtete. (Er selbst nannte sich »Arqueólogo austriaco«.) An den heißen Odem exotischer Landschaft gewohnt, ging er in die Türkei, in den Kaukasus, nach Armenien; dort, bei den Muselmännern und den Tscherkessen, will er gelernt haben, Fatalist zu sein.

Aber er ist bei den Muselmännern und den Tscherkessen keineswegs Fatalist genug geworden, um nicht alles für die Wiederkehr nach dem fernen Mexiko aufzubieten. Zwanzig Jahre, nachdem er es verlassen hat, gelingt es ihm, dorthin zurückzukommen, nun ein vierundvierzigjähriger Mann. Seine zweite Lebenshälfte verbringt er auf der Maya-Halbinsel Yucatan und erforscht sie, gründlicher als jemand je zuvor.
 

In Merida, der Hauptstadt der Provinz Yucatan, leben Leute, die Teoberto Maler gekannt haben. Manchmal, nach jahrelangem Verharren in der Einöde, kam er hierher, um mit einem Freund die Abende zu verbringen, dem holländischen Konsul Johann Clasing. Als Teoberto Maler starb, veranlaßte Clasing die Herausgabe seiner yukatekischen Memoiren, aber sie wurden nur in hundert Exemplaren gedruckt, und längst ist kein Exemplar mehr erhältlich. Man wird dennoch trachten, eines aufzutreiben, für mich, »den Freund Teoberto Malers«.

Wirklich erhielt ich nach einigen Tagen das mit Nummer 3 bezeichnete Exemplar zum Geschenk, 378 das Widmungsexemplar an Konsul Clasing. Der hat einige Zeitungsausschnitte über Teoberto Maler eingeklebt, darunter einen, der erwähnt, daß Malers Manuskripte bei seinem Tod auf rätselhafte Weise verschwanden.

Das Büchlein führt den Titel »Impresiones de Viaje a las Ruinas de Cobá y Chichen Itza«, behandelt in populärem Stil die Expeditionen, die Maler Anfang der neunziger Jahre im östlichen Yucatan unternahm, und besitzt viele Reize, insbesondere für Leser, welche Yucatan nicht kennen. Sie treten gleichzeitig mit dem Autor in die zauberischen Welten ein und nehmen an den Entdeckungen teil. Sozusagen aus dem Stegreif, als Führer sich nur des Gefühls bedienend, beginnt Maler die Trümmerstätte Cobá zu erschließen. Er kann nicht von einem Quartier, einer Basis ausgehen, sondern muß aus dem Freien losziehen, wo es finster ist wie im Astloch und wo klebriger Dreck das Vorwärtsdringen unmöglich macht. Ein Wolkenbruch, an Gefäll dem Niagara gleich, überschüttet die stehend Nächtigenden. So schlimm sind Regen und Dreck, daß selbst ein großes und gefährliches Schlangentier nicht auf die menschlichen Ruhestörer vorstößt, sondern sie auf sich vorstoßen läßt.

Am nächsten Morgen, so hell er ist, zeigen sich andere Gefahren der wieder zur Jungfräulichkeit und Natur zurückgekehrten Menschensiedlung. Beim Besteigen einer Pyramide stürzen Teoberto Maler und sein Trupp auf Schritt und Tritt. Feindselige Indios wohnen ringsumher. Da Teoberto Maler in einen unbewohnt geglaubten Tempel eindringt, bricht zu seinem Entsetzen im Raume nebenan ein bedrohliches Geschrei von hundert Stimmen los. Glücklicherweise sind es nicht Menschen, sondern eine Horde Affen, die zornig sind über den Einbrecher. Der hat sich inzwischen gefaßt und stellt sich den Affen als Darwinist vor, der in ihnen seine Stammväter verehrt. Aber die Ahnherren benehmen sich keineswegs so würdig, wie man es von Ahnherren verlangen dürfte, nur mit 379 gequietschten und gefauchten Mißfallensäußerungen nehmen sie seine Erklärungen zur Kenntnis und verlassen unter Protest das Lokal.

Teoberto Maler ist der einzige Mensch, der Chichen Itza bewohnt, diese Stadt voll von Palästen, Kathedralen, Märkten, Kasernen und Bädern, er wird zum Robinson Crusoe dieser Großstadt, entdeckt sie und erfindet sie sogar zum Teil. In seinen Memoiren schildert er die Entdeckungen, die er macht, gibt die Motive an, die ihn bei der Benennung der Gebäude leiten, und zeichnet den Stadtplan nur nach den Angaben der Logik und der Phantasie; keine alten Bürger gibt es, ihm das Material zu liefern. Die Menschen, die er zu Gesicht bekommt, sind Nachkommen der Mayas. Unter großen Mühen hat er sie in der Umgebung angeworben, und sie treten nur sehr unregelmäßig zur täglichen Arbeit an. Das hindert ihn nicht, mit milder Philosophie von ihnen zu sprechen.

In Philippiken jedoch ergeht er sich, wenn er von dem Vandalismus spricht, dessen sich hier die Pseudo-Archäologen und die Kuriositätenhändler und die andenkensüchtigen Touristen schuldig gemacht haben und die – Fledermäuse. Die Fledermäuse haßt er, weil sie überall hinmachen, auch auf die zartesten Figuren, und weil steter Tropfen den Stein höhlt.
 

In der »Biblioteca Crescencio Carrillo y Ancona« von Merida sind zwei Werke von Teoberto Maler vorhanden, herausgegeben 1901 und 1911 vom Peabody Museum der Harvard Universität, das dem Forscher einerseits die Bezahlung seiner Erdarbeiter ermöglichte, ihn andererseits aber erniedrigte und empörte. Die Bücher behandeln Malers Entdeckungen im Utsumatsintla-Tal und im Bezirk von Peten, Guatemala. In einem der beiden Bände hat der Autor selbst Korrekturen vorgenommen.

Der andere Band ist unaufgeschnitten, jedoch auf dem sogenannten Schmutzblatt findet sich eine in spanischer Sprache geschriebene Absage an die 380 Direktoren des Peabody Museums. Sie zeigt die Schwierigkeiten, die dem entbehrungsreichen Forscherleben Malers von seiten der Wissenschaftler gemacht wurden. Und zeigt vor allem seine Ohnmacht. Denn die Anklage, die er in der stillen Bibliothek von Merida mit roter Tinte und großen Buchstaben erhob, hat den Weg in die Öffentlichkeit niemals gefunden. Sein Aufschrei lautet:

»Allzu beschäftigt mit den schamlosen Ausplünderungen von Chichen Itza, lehnten es Bowditch und Putnam unverschämterweise ab, meine Arbeiten zu bezahlen. Ihr niederträchtiges Verhalten verurteilend, brach ich mit ihnen und verlange nichts mehr von ihnen. Mit meinem Texte können nur meine Pläne herausgegeben werden. Meine Generalkarte von Tikal ist eine großartige (magnifico) Arbeit, welche zehn große Blätter umfaßt. Jedoch die Karikatur eines Plans, welche von Tozzer und Merwin gemacht wurde, ist für meinen Text ungeeignet und zeigt nichts anderes als den Gipfel der Albernheit und Niedertracht (la suprema estupidez y perfidia) der erbärmlichen Redakteure des Peabody Museums.

Teoberto Maler«

Nur die Landsleute seiner Wahl, die Yukateken, haben ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: vor dem Museum von Merida erhebt sich auf hohem Sockel eine überlebensgroße Marmorbüste Teoberto Malers, – das einzige Monument, das ein mexikanischer Staat aus eigener Initiative und aus eigenen Mitteln seinem Mitbürger aus dem Auslande errichtet hat. Denn Teoberto Maler war in Mexiko der Ausländer, der uneigennützig wirkte.

Dem marmornen Manne überbringe ich stumm den Gruß seines Freundes Harry Kessler. Und füge meinen Dank hinzu, weil mir die Nennung des Namens Teoberto Maler bei meiner bescheidenen Laienarbeit geholfen hat. 381

 


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