Egon Erwin Kisch
Abenteuer in fünf Kontinenten
Egon Erwin Kisch

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Schwarz-Australien
(1957)

Du bist begierig, mein Junge, etwas Wildes zu hören von den Wilden in Australien, ob sie's den Indianern in deinen Bücheln gleichtun, ob sie fleißig auf den Kriegspfad gehen, kühn den Tomahawk schwingen, einen Winnetou haben oder einen Häuptling Falkenauge.

Du bist begierig, mein Junge, etwas darüber zu hören, ob es in Australien weiße Trapper gibt, wie Old Surehand oder Old Shatterhand oder andere Olds, die gegen schurkische Skalpjäger abenteuerlustig zu Felde ziehen und bei den edlen Stämmen den Rang eines Weißen Bruders erwerben.

Du wirst enttäuscht sein, mein Junge, zu hören, wie es wirklich war und wie es wirklich ist.

Schon das erste Zusammentreffen zwischen Bleichgesicht und Schwarzhaut verlief gar nicht heroisch. Lies, was im Logbuch von Old Cook steht, eingetragen unter dem 28. April 1770:

»Nicht weit von uns sahen wir innerhalb der Bucht vier kleine Kanus; jedes enthielt einen nackten Eingeborenen mit einem Speer, den er zum Fischestechen verwendete. Sei es, daß sie zu beschäftigt waren, sei es wegen des Wellenlärms – die Schwarzen nahmen keine Notiz von der ›Endeavour‹, die auf kaum eine Viertelmeile an ihnen vorbeikam.«

Das europäische Schiff warf Anker in der Bucht, einem Eingeborenendorf gegenüber.

»Kurz nach 1 Uhr 30 trat eine alte, gleichfalls nackte Negerin mit drei Kindern, Brennholz tragend, 351 aus dem Buschwald. Drei andere kleine Kinder liefen ihnen aus den Hütten entgegen. Während die Frau ein Feuer anmachte, schaute sie manchmal zur ›Endeavour‹ herüber, ohne aber irgendeine Überraschung oder Befangenheit auszudrücken. Die vier Männer, die in der Bay gefischt hatten, landeten, zogen ihre Kanus auf das Ufer und nahmen gemeinsam mit der Alten und den Kindern die Mahlzeit ein, allem Anschein nach vollständig unbewegt von der Anwesenheit der ›Endeavour‹, deren Segel so nahe knatterten.«

Du siehst, mein Junge, die Wilden hielten die Begegnung nicht für wichtig. Aber der Schreiber des Schiffstagebuches ahnte die Dinge wohl, die sich später aus dieser Begegnung ergeben sollten. Hätte er sich sonst mit derartiger Ausführlichkeit über die Ruhe und Interesselosigkeit der Eingeborenen verbreitet? So wie er es tut, wird seit eh und je ein ahnungsloses Opfer vor der Tat geschildert; du hast, mein Junge, zum Beispiel von Ibykus gelernt: mit frommem Schauder tritt er in Poseidons Fichtenhain ein und munter fördert er die Schritte, da . . .

Aus heiterem Himmel kommt das Verhängnis, dort Timotheus und sein Spießgeselle, hier das Schiff der Weißen. Aufhört das Idyll. Zum erstenmal springt Feuer aus einem Stock über die neue Welt, ein Schrotschuß, abgegeben, »um die Schwarzen zu vertreiben, bevor unsere Landungsboote in die Wurfweite ihrer Speere gelangen.«

Im Logbuch ist nichts vermerkt, worauf sich der Verdacht gründete, daß die Schwarzen Speere schleudern wollten. Ja, nicht einmal nach dem Schuß hoben sie ihre Speere. Nur einen Stein sollen sie in die Richtung der Boote geworfen haben (wenn's wahr ist), weshalb Cook von neuem zielte und einen Eingeborenen ins Bein traf. Naiv, unerfahren in europäischen Errungenschaften, liefen die schwarzen Männer in ihre Hütten und kamen, lach nicht, mein Junge, jeder mit einem Schild aus Binsen zurück.

»Aus Befürchtung, die Speere könnten vergiftet 352 sein« – verstehst du die Ausrede, mein Junge? –, wurde abermals gegen die Eingeborenen gefeuert, die rannten davon und ließen sich nicht mehr sehen. Europa betrat Australien. Den verlassenen Hütten entnahmen Cooks Leute etwa fünfzig Lanzen mit je vier Zacken aus zugespitztem Fischbein, nur zum Fischstechen geeignet, keinesfalls aber zum Angriff auf Menschen.

Mit der Besiedlung des Erdteils durch Weiße, die achtzehn Jahre später begann, hätte auch die Zivilisierung und Kultivierung der Buschneger beginnen können. Was jedoch wirklich geschah, würde ein Buch füllen, und dieses Buch wäre kein Buch nach deinem Geschmack, mein Junge, kein Buch von heroischen Kämpfen ebenbürtiger Gegner, es wäre nur ein Buch für Erwachsene, die ein Bericht über Massenmorde nicht mehr aufregt.

Nicht aus Blutrünstigkeit wurden die Massenmorde begangen, sondern vor allem deshalb, weil sich der schwarze Mann nicht zum Arbeitssklaven hergab. Du, alter Faulpelz, wirst beifällig darüber schmunzeln, daß er nicht begreifen konnte, warum die Weißhäute schwitzend und stöhnend Steine hackten, Straßen anlegten, den Boden durchpflügten, Schafe schoren oder in Bergwerken gruben, obwohl sich doch so wunderbar ohne all das leben ließ. Mit dem Bumerang kann man Vögel, mit dem Speer Wild und Fische erlegen; um aus der Rinde des Eukalyptusbaumes ein Kanu zu schneiden, genügt der Waggara, das steinerne Beil; eßbare Wurzeln wachsen überall. Wozu also sich abrackern?

Dem weißen Squatter, der mit seiner Herde von Weideplatz zu Weideplatz zog, galten die Urbewohner dieser Gebiete nicht nur als arbeitsscheu und daher wertlos, sie waren ihm lästig. In Unkenntnis des Unterschiedes zwischen wildem und zahmem Getier, ja in Unkenntnis des Eigentumsbegriffes überhaupt, schlachteten sie manchmal eines von den vielen hundert Lämmern für sich.

Um von der Erde, die der Herde ein paar Tage 353 lang Gras geben sollte, die seßhaften Schwarzen zu vertreiben, hatte der weiße Nomade ein einfaches Mittel bei der Hand: das Gewehr. Er schoß nicht blind, er zielte gut und tötete. »Schießt den Schwarzen, wo ihr ihn trefft, trefft den Schwarzen, wenn ihr ihn schießt«, war des Squatters edler Wappenspruch.

Auch andere Gründe gab es für den Abschuß des Schwarzwilds. Höre, mein Junge, zum Beispiel den Vorfall, der in den australischen Geschichtsbüchern das »Frazer-Massaker« heißt.

Zwei auf der Frazer-Farm in Hornet Station (Queensland) wohnende weiße Gentlemen ritten an einem Herbsttag 1857 in das nahe Kungarridorf ein, als dessen Männer auf die Jagd ausgezogen waren. Mit Reitpeitschen trieben die beiden Gentlemen die »Lubras«, die schwarzen Frauen, aus den Hütten, wählten zwei Mädchen aus und zwangen sie, vor den Pferden her zu einer Schäferhütte zu laufen, wo sie sie schändeten.

Bei ihrer Heimkehr erfuhren die Kungarrimänner, was sich begeben.

Die Gruppenehe der Australnegerstämme, die »aus der Nähe nicht ganz so grauenvoll aussieht, wie die an Bordellwirtschaft gewohnte Philisterphantasie sich das vorstellt« (Friedrich Engels, »Der Ursprung der Familie«), vertrug ebensowenig wie die Ein-Ehe einen solchen Frevel. Er mußte Sühne finden, das geboten Ehre und Gesetz.

In der Nacht drangen die Kungarrimänner in Hornet Station ein, töteten einen der Mädchenschänder, Frau Frazer, deren Kinder sowie den Erzieher. Ein Sohn fiel infolge eines Schlages hin und wurde für tot gehalten; nachdem die Schwarzen verschwunden waren, erwachte er aus seiner Ohnmacht, rannte zum Nachbargut und berichtete von dem Geschehnis.

Aus allen Richtungen eilten nun weiße Rächer herbei, Farmer und Squatter, bis an die Zähne bewaffnet. Sie metzelten die Bewohner des Kungarridorfes nieder, überfielen dann andere Negerlager und knallten ab, was sie an Schwarzen aufspürten, gleichgültig, ob Mann 354 oder Frau oder Säugling. »Schießt den Schwarzen, wo ihr ihn trefft.« Mit dem Idealismus des Kriegers blieben sie mehr als einen Monat lang von ihren Herden und Farmen fort, um das Rachewerk zu vollenden, und brachten an zweitausend Eingeborene zur Strecke.

Das aber war noch nicht genug. William Frazer, der älteste Sohn der Familie, war bei dem Überfall nicht zu Hause gewesen. Nunmehr erhielt er die obrigkeitliche Erlaubnis, jeden Schwarzen zu töten. Jahrelang, jahrzehntelang durchpirschte er die Urwälder von Mittel-Queensland, lag auf dem Anstand, lugte von den Höhen und schoß Menschen. Später gesellte sich sein jüngerer Bruder zu ihm, der in jener Nacht mit dem Leben davongekommen war, und nun schlachteten sie gemeinsam Schwarze, bewundert von den Weißen ob solcher Pietät und Kindesliebe.

Dreißig Jahre nach dem Vorfall auf Hornet Station erlegten sie eine junge Eingeborene, die Lieblingsdienerin eines Farmers. Der ließ sich das nicht gefallen, er beklagte sich bei den Behörden von Brisbane, und diese veranlaßten das edle Brüderpaar, des grausamen Spiels endlich genug sein zu lassen.

Das ist das »Frazer-Massaker«. Es wird so genannt, mein Junge, weil sich schwarze Männer an den Schändern ihrer Frauen gerächt haben. Die daraufhin einsetzende, meuchlerische Vernichtung eines Volkes nennt man natürlich nicht Massaker, mein Junge, und wenn du willst, kannst du bei George ForsterGeorge Forster, Reiseschriftsteller, nahm als Vierzehnjähriger mit seinem Vater, dem Botaniker Johann Reinhold Forster, an Captain Cooks zweiter Weltumseglung teil. Er hat später an dem Buch seines Vaters, das diese Reise beschreibt, mitgearbeitet. nachlesen, was als Massaker gilt und was nicht.

Niemandem wird es einfallen, von einem Massaker in Kilcoy Station zu sprechen, dort kam kein Weißer ums Leben. An der Grenze der meilenweiten Schaffarm Kilcoy Station am Brisbane Fluß stand ein Negerdorf; fast täglich kamen dessen Bewohner in die Hütte 355 der zwei weißen Grenzwächter und bettelten um Mehl. Die Weißen wollten einerseits nichts hergeben, andererseits aber fürchteten sie die Feindschaft der schwarzen Nachbarn.

Zur Lösung dieses Dilemmas bedienten sie sich des Arseniks, mit dem die Schaffelle zum Schutz gegen Räude bestreut werden. Sorgfältig mengten die beiden Grenzer das Gift mit Mehl und schenkten den Eingeborenen einen Sack voll. Am Abend des gleichen Tages gellte gräßliches Schreien aus dem Kral, dann wurde es zum Stöhnen, dann zum Wimmern, und am nächsten Tag lag die ganze Bewohnerschaft in Gestalt von schwarzen verreckten Leichnamen vor den Hütten.

Wenn du begreifst, mein Junge, warum das kein Massaker war, wirst du auch begreifen, wieso bei den Eingeborenenstämmen panische Angst und Abscheu vor dem Europäer bis auf den heutigen Tag nicht ganz verschwunden sind. Um diese unfreundlichen Gefühle auszurotten, versuchte der Europäer, die Träger dieser Gefühle auszurotten.

Du darfst nicht glauben, mein Junge, daß das so leicht war. Der Gouverneur David Arthur ordnete einmal auf der australischen Insel Tasmanien eine Treibjagd gegen die Schwarzen an. 3.000 Bewaffnete rückten auf sein Geheiß in Schützenkette quer durch das Inselland vor, schossen gegen jedes Geraschel im Gestrüpp, durchsuchten Erdlöcher, brannten Wälder nieder. Dauer der Expedition: volle sieben Wochen. Kostenpunkt der Expedition: 35.000 Pfund. Und willst du wissen, mein Junge, wieviel Eingeborene in diesen sieben Wochen von den dreitausend Bewaffneten für 35.000 Pfund zur Strecke gebracht wurden? Eine Frau und ein kleiner Junge. So geschickt wußten die Buschmänner sich zu verbergen.

Auf die Dauer half ihnen ihre Schlauheit nicht, nach und nach wurden sie doch erwischt und kaputt gemacht. Alle, hörst du, mein Junge, alle Eingeborenen Tasmaniens wurden vom Erdboden vertilgt. Die letzten ihres Stammes kannst du, wenn du einmal nach Sydney 356 kommst, sehen. Dort sind sie in einer Familiengruppe lebensgroß plastisch nachgebildet, Vater, Mutter und Kind, ähnlich wie man bei uns vorsintflutliche Ungeheuer rekonstruiert.

Andere Andenken an die Schwarzen oder, wenn du willst, an die Weißen, gibt es in den Queensländer Museen, zum Beispiel Messinghalsbänder für gezähmte Wilde, jedes mit dem Namen des Trägers und der Farm versehen, deren Eigentum er war.

Da hast du die Antwort, mein Junge, auf deine Frage, ob es unter den Wilden Freunde des weißen Mannes gab. Ja, es gab solche, und sie waren durch ein Hundehalsband kenntlich gemacht.

Das australische Festland ist zu groß (fast so groß wie Europa ohne Spanien), als daß es gelungen wäre, auch hier die Eingeborenen bis zum letzten Mann auszumerzen. Bei Beginn der Zivilisierung Australiens zählte die schwarze Bevölkerung mehr als 500.000 Köpfe. Heute, nach anderthalb Jahrhunderten Kulturherrschaft, sind nur noch 60.000 übrig, zu denen du 20.000 Halbblütige addieren kannst. Sämtliche nach Australien importierten Lebewesen, seien es weiße Männer oder Schafe oder Kaninchen oder Kakteen, haben sich millionenfach vermehrt, – das Volk jedoch, das sich von der Urzeit an bis zum achtzehnten Jahrhundert hier fruchtbar fortgepflanzt hatte, ist seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts dezimiert. Und dieses Wort »dezimiert« bedeutet hier nicht: um ein Zehntel verringert, sondern auf ein Zehntel verringert.

Soweit sie noch in Stammesgemeinschaft leben und der Urwaldbusch sie umschließt, stehen sie deinen Indianern, mein Junge, im Spurenlesen und Fährtenfinden nicht nach. Ihr Auge erzählt ihnen, daß vor drei Tagen jemand seinen Weg durch das Dickicht nahm, ihr Ohr unterscheidet Mensch von Tier am leisesten, fernsten Tritt, ihre Nase meldet ein längst verglommenes Lagerfeuer. Aber so schlank und edel und schön wie deine Indianer sehen die Australneger nicht aus. Ihre ausladenden Nasenflügel und die 357 Nasenlöcher, die sich nach außen und vorne verbreitern, widersprechen dem europäischen Schönheitsbegriff. Und da ihre Augenbrauen auf hohe Wülste gebettet sind, wirken die tief graubraunen Männer wie Teufel im Bilderbuch.

Die in den Städten wohnen, haben in Konjunkturzeiten als Tagelöhner, Gärtner, Kutscher und auch in Fabriken gearbeitet, bei Anbruch der Krise fielen ihr des Landes erste Bewohner als erste zum Opfer. Die städtischen Schwarzen tragen europäische Kleidung, wenn es auch zumeist mehr Lumpen als Kleider sind; sie sprechen Englisch, wenn es auch kein besonders gutes Englisch ist; sie haben den christlichen Glauben angenommen, wenn sie auch sehen, daß die Christenmenschen nicht als Christenmenschen handeln; sie üben keinen Ahnenkult mehr aus, wenn sie auch ihre Ahnen nicht schlankweg verleugnen, wie gewisse Weiß-Australier es tun; sie sind eine reinblütige Urrasse, wenn sie auch davon nichts wissen, geschweige denn sich darauf etwas einbilden.

An den Ausflugsorten, nahe den großen Städten, hausieren die Eingeborenen mit Bumerangs, mit zugespitzten bunten Muscheln, mit Ansichtskarten, auf denen sie in einer zwecks Photographie angelegten Festbemalung photographiert sind. Auch Bull-roarer verkaufen sie, ein fischförmig geschnitztes, an einer Faser befestigtes Holzstück, das, über den Kopf geschwungen, einen langen, unheimlich heulenden Ton von sich gibt. Der rief einst die toten Ahnen herbei, warnte die Stammesgenossen weithin vor Gefahr und diente auch dazu, den Vogel aus dem Gestrüpp aufzuscheuchen.. Flog er schlaftrunken und entsetzt auf, dann traf ihn der Bumerang wie ein Blitz.

Junge, Junge, was ist doch der Bumerang für ein erstaunliches Instrument! Obwohl um tausend Jahre älter als Schiffsschraube und Flugzeugpropeller oder gar Giroplan, kann er ehrenvoll neben ihnen bestehen, wie sie bahnt er sich in unausgesetzter Drehung seinen Weg, trennt dem Vogel oder dem Opossum das Köpfchen 358 vom Hals und kehrt, als wäre nichts geschehen, in des Schützen Hand zurück.

Als erster hat uns der Eingeborene Hughie Nobel auf den Dünen hinter dem Sydneyer Vorort Laperouse die Fertigkeit gezeigt, die er ererbt von seinen Vätern hat und erworben, um sie wieder zu besitzen. Wir bewunderten ihn, als er den Bumerang warf, und ahnten nicht, welche Künste wir später im Queensländer Busch dem gekrümmten Stück Holz entlockt sehen würden: dort nimmt der Eingeborene, nachdem er seinen Bumerang geschleudert hat, eine Lanze in die Hand, das Wurfholz kehrt wieder und setzt auf des Speeres Spitze seine Drehung fort wie ein Teller auf dem Stab eines Jongleurs.

Was aber Hughie Nobel anbelangt, so ist er dem Stamm der Murumbidgi entsprossen und trägt ein verblaßtes grünrot gestreiftes Fußballeibchen, denn in seinen besseren Tagen war er Auswahlspieler der allaustralischen Rugby-Liga. Er war einer von den wenigen schwarz - australischen Soldaten im Weltkrieg und hat sich dort Medaillen erworben. Seit Weiß-Australien über die Schwarz-Australier hereingebrochen ist, brachten sie Leistungen von Bedeutung nur dort hervor, wo man sie zuließ.

Heutigen Tages schämt sich der Weiß-Australier der Grausamkeit seiner Ahnen, sofern er davon weiß, und bringt den »Abos« (Abkürzung für »aborigines«, d. h. Eingeborene) Sympathie entgegen, eine zu nichts verpflichtende, sentimentale Sympathie. Nachsichtig lächeln die weißen Gentlemen über die Gesten des schwarzen Bettlers oder Baumblatt-Straßenmusikanten, der mit ausgestreckter Hand zuerst auf den Anzubettelnden und dann auf sich zeigt, sie werfen ihrem schwarzen Trockenwohner einen Penny hin, etwa so wie sie im Zoo den drolligen kleinen Koala-Bären, den letzten einer gleichfalls fast ausgerotteten Rasse, ein paar Nüsse hinwerfen.

Du verstehst ja noch nicht viel von Politik, mein Junge, aber immerhin wirst du wissen, daß die 359 Geschicke der Staaten von Interessengruppen gelenkt werden, daß die wirtschaftlich mächtigsten Klassen regieren, und daß man in der Staatspolitik auf Dinge wie Logik und Gerechtigkeit keine Rücksicht nimmt. Wenn du das weißt, mein Junge, wirst du es rührend naiv finden, daß die machtlosen Schwarzen eine Abordnung zum Innenminister geschickt haben mit der Bitte, ihnen eine Vertretung im Parlament zu gewähren.

In ähnlichen Illusionen befangen ist Frau Anna Morgan, trotz ihrer weißen Großmutter eine Eingeborene, die in ihrem sechzigjährigen Leben alle Schrecken des gehetzten Schwarzwilds, einschließlich der erniedrigenden Behandlung im Mission-Camp, erlebt hat. Frau Morgan tritt vor Angehörigen der großen weißen Mehrheit für die Rechte der kleinen schwarzen Minderheit ein, und überall erweckt sie Wohlwollen, – ganz bestimmt würden der Innenminister und das Auditorium von Frau Morgan mit nicht minderer Sympathie zuhören, wenn ihnen die Koala-Bären ihre Forderungen vortrügen.

Als aber am zweiten Jahrestag des Berliner Reichstagsbrandes Eingeborene im Zuge der weißen Arbeiter Melbournes schritten, um für internationale Solidarität zu manifestieren, fand das keine allgemein freundliche Aufnahme. Im Gegenteil. Ein derart unwürdiger Mißbrauch der armen schwarzen Burschen, schrien die Konservativen aller Schattierungen, dürfe sich nie mehr wiederholen.

So war es denn nicht nur zum erstenmal, daß schwarze Arbeiter an einer politischen Kundgebung teilnahmen, sondern auch zum erstenmal, daß der weiße Bürger aufrief, die armen schwarzen Burschen künftighin vor solchem Mißbrauch zu schützen.

Vor wirklichem Mißbrauch kann nicht einmal das Eingeborenenschutzamt die Eingeborenen schützen. Wohl unterhält es im äußersten Norden Australiens Reservationsgebiete, wo die Stämme ungestört unter sich bleiben sollen. Aber Missionäre kommen hin und wollen sie, um Christi willen, von den Urwaldfesten, 360 Stammessitten und Kriegsbemalungen abbringen, und Filmgesellschaften kommen hin, um sie zur Vorführung von Urwaldfesten, Stammessitten und Kriegsbemalungen zu veranlassen. »Bora«, die geheime Zeremonie der Beschneidung, und »Korrobori«, das heilige Fest der Vollmondnacht, an dem kein Mitglied des Bruderstammes, ja nicht einmal die Frauen des eigenen Stammes teilnehmen dürfen, werden nun bei Tages- oder Jupiterlicht von Weißen gefilmt. Zwecklos und ohne Not erklingen vor dem Mikrophon die Alarmsignale der Jagd und der Gefahr, der dumpfheulende Ton des Bull-roarer sowie der mit dem Mund ausgestoßene, gellende Hilfeschrei »Kujiii«.

Keineswegs läßt man die Stämme in den Camps so ungestört, daß man sie nicht unter weißer Bewachung und unter weißer Gerichtsbarkeit hielte. Stell dir einmal vor, mein Junge, wie Winnetou sich vor einem mit Perücke geschmückten Bleichgesicht von Richter ausnähme, – er würde sich immerhin weniger kläglich ausnehmen als die armen Buschneger Australiens. Zwar soll das Gericht ihre Stammesregeln berücksichtigen, aber für den weißen Richter bleibt jede Übertretung der weißen Gesetze ein Verbrechen, und für den schwarzen Angeklagten bedeutet jede Kerkerstrafe den Tod. Der freie Sohn des Busches geht binnen Jahresfrist in der Haft unweigerlich zugrunde. Versucht er zu flüchten, dann wird seine Strafzeit verlängert, und von allen weißen Moralbegriffen begreift er am allerwenigsten, daß es strafbar sein kann, das Selbstverständliche zu tun und nach dem Schönsten zu streben: nach Freiheit.

Auch die Todesstrafe gegen die Schwarzen steht im Norden Australiens im Schwange, wenngleich Richter Wells in Darwin nach Verhängung eines Todesurteils erklärte: »Es macht uns kein Vergnügen, Eingeborene aufzuhängen, aber wir können ihnen doch auch keinen Freibrief ausstellen. Und Kerkerstrafen überstehen sie nicht . . .«

Selbstverständlich kann man ihnen keinen solchen 361 Freibrief ausstellen, wie man ihn dem William Frazer gegen sie ausgestellt hat. Aber wollen sie denn einen Freibrief? Sie wollen mit ihren Lubras und ihren Milla-Millas, mit ihren Frauen und Kindern, in Frieden leben, doch man läßt sie nicht in Frieden leben.

Gerade als wir in Australien angekommen waren, erregte der Mordprozeß gegen Abo Tuckiar Aufsehen und Diskussion. Tuckiar aus Woodah Island im Golf von Carpentaria hatte den Konstabler McColl getötet, der ihm die Frau weggenommen. Solche Entführung oder Verführung berechtigte einst auch in Europa zum Totschlag am Entführer oder Verführer, in Paris pflegen die Geschworenen noch heutzutage die »Rächer ihrer Familienehre« freizusprechen. In Australien bleibt dem Schwarzen kaum ein anderer Weg als der des Selbstschutzes, weil er ja gar nicht weiß, wie und bei wem er Klage führen könnte.

Richter Wells in Darwin, der gleiche, der Todesurteile verhängt, ohne daß sie ihm Vergnügen machen, sah die Sache anders. Er sah nur einen Schwarzen, der einen Weißen, einen Vertreter der Obrigkeit getötet hatte. Die Tatsache, daß Tuckiar vom Constabler McColl in seiner Ehre getroffen worden war, zog der Richter mildernd in Betracht, fällte aber dennoch das Urteil: Tod durch den Strang. Welches strengere Urteil er gefällt hätte, wenn der mildernde Umstand nicht gewesen wäre, sagte Richter Wells nicht.

Auf Betreiben verschiedener Organisationen, die die Auffassungen des Richters Wells nicht teilen und überhaupt gegen das Hängen von Eingeborenen sind, kam der Fall Tuckiar zur Berufungsverhandlung vor den Obersten Gerichtshof von Australien; dieser erklärte den Milderungsgrund als Grund für einen Freispruch und legte dem Gericht von Darwin auf, Tuckiar nach seiner Heimatinsel im Carpentariagolf zurückzubringen.

Der Freispruch erfloß unten im fernen Süden, der in der Negerfrage so tolerant denkt wie in den Vereinigten Staaten von Amerika der Norden. Im Norden 362 aber schäumte die Polizei, das sei geradezu ein Freibrief für die Schwarzen, jeden Weißen umzubringen. (Verschluckter Nachsatz: ». . . sofern ihnen dieser das Familienleben zerstört.«) Noch nach Hause begleiten sollen wir diesen Mörder unseres Kollegen? Uns vor seinem Stamm lächerlich machen? Sollen wir auf diesem gefährlichen Weg unser Leben riskieren?

Um Tuckiar zu verhaften und nach Darwin zu schleppen, war ihnen der Weg nicht zu gefährlich erschienen. Hier, mein Junge, hast du eine Meldung des »Sydney Morning Herald«, lies selbst, wie der Fall Tuckiar aus der Welt geschafft wurde:

»Aus Darwin wird telegraphiert, daß der wegen Mordes verurteilte und vom Obersten Gericht freigesprochene Eingeborene Tuckiar gestern verschwunden ist. Er hatte seine Freiheit erhalten (sic!), indem man ihn aus dem Fanny-Bay-Gefängnis in das Compound brachte, darin Eingeborene mit ihren Familien konzentriert sind. Er flüchtete während eines tropischen Gewitters, das jedermann in die Hütten trieb. Der Lageraufseher, Mister Samut, durchsuchte sofort die Hütten und fand die Hose, welche Tuckiar bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis erhalten hatte; er ist also nackt entflohen. Wenn er in die Hände der Eingeborenen von Caledon Bay fällt, die mit seinem Stamm auf Kriegsfuß stehen, wird es ihm schlimm ergehen.«

Und nun kommen die beiden letzten und wichtigsten Sätze des Berichtes:

»Durch diesen Ausgang ist für die Polizei ein schweres Problem gelöst, denn sie hätte die Aufgabe gehabt, Tuckiar zu seinem Stamm zurückzubringen. Ein Versuch, den Entflohenen zu finden, wird nicht unternommen werden.«

Du siehst, mein Junge, die »schweren Probleme« lösen sich manchmal ganz leicht. Allerdings, das schwere Problem der australischen Urbevölkerung wird erst gelöst werden, wenn der Schwarze nicht mehr Entsetzen vor der Gesellschaft der Weißen empfinden muß. 363

 


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