Egon Erwin Kisch
Abenteuer in fünf Kontinenten
Egon Erwin Kisch

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Der Kaugummi
(1943)

Zum erstenmal begegnete mir der Kaugummi als ein Auswuchs auf meiner Hose, jemand hatte ein Stück Kaugummi zu Ende gekaut und nachher auf meinem Deckstuhl bestattet, von wo der Leichnam auf meine Hose kam. Das war auf meiner ersten Überfahrt nach New York. Drüben sah ich dann allüberall Gummi-Kau-Boys, und auch die Girls kauten in allen Lebenslagen.

Nächste Station war eine Untergrundbahn-Station, wo ich ein Centstück in den Automatenschlitz stopfte, ein Dentyne empfing oder ein Beechnut, ein Spearmint oder ein Double Mint und selbst zu kauen begann und wiederzukauen.

Unvermeidliche Folge war, daß ich eine Exkursion in die Kaugummifabrik von Long Island unternahm, wo ich beschämt sah, wieviel Mühe sich die Chewing Gum Company meinetwegen und meinesgleichen wegen machte. Ungeheure Trommeln drehten sich mit ungeheurer Geschwindigkeit und ungeheurem Geratter, ihre Inhalte rieben sich aneinander, nahmen süße und wohlriechende Ingredienzien auf, wurden hydraulisch gepreßt, automatisch zerschnitten, elektrisch verpackt und motorisch davongefahren.

Viele, viele und ereignisreiche Jahre nach jenem ersten Zusammentreffen mit dem Kaugummi begegnete ich ihm in einem Lande von weit gemächlicherer Art wieder, in Yucatan. Bei einem Spaziergang auf der Mole des Hafens Progreso sah ich, wie große und schwere Ballen in Barkassen geladen wurden. »Henequen?« fragte ich, denn ich hatte gelernt, daß Henequen, 364 der Sisalhanf, das einzige Ausfuhrprodukt Yucatans sei.

»Nein, Herr«, antwortete der Bootsführer, »das ist Chicle. Drüben ankert die ›Georgia‹, die bringt zweimal im Monat Chicle nach New Orleans oder nach Tampa in Florida. Freilich, so viel Chicle haben wir nicht wie unsere Nachbarstaaten Campeche und Quintana Roo. Bei uns gibt es dafür mehr Henequen.« Das aber wußte ich schon.

Ein paar Tage später geschah es, daß ich in Merida, der Hauptstadt Yucatans, mit einigen Freunden durch die 63. Straße ging, als uns vier Männer entgegenkamen, von denen drei je einen Arm hatten. Vielleicht wären sie mir weniger aufgefallen, wenn allen vieren je ein Arm gefehlt hätte, denn dann hätten sie Insassen eines Invalidenhauses oder einer orthopädischen Klinik sein können. Aber der vierte, der Zweiarmige, schien zu beweisen, daß es sich nicht um eine Gruppe von obligatorischer Einarmigkeit handle. Ich verabschiedete mich eilig von meiner Gesellschaft und folgte den fünf Armen.

Sie betraten den Flur des Hauses Nummer 455, auf dem eine Firmentafel »Mexican Exploitation C.« sagte. Links war die Tür zu einem großen Büroraum geöffnet, aber von den Beamten kam keiner heraus und von meinen Männern ging keiner hinein. Sie setzten sich auf eine Bank, redeten miteinander in Maya-Sprache und in feindseligem Tonfall.

Nach etwa einer halben Stunde trat ein älterer Beamter in die offene Tür, klappte eine Barre hinab und wurde dadurch zu einem Richter. Die Parteien bestanden aus je zwei Mann, einem Contratista und einem Capataz –, daß dem so war und was diese Worte bedeuten, erfuhr ich erst später. Die eine Partei führte Klage darüber, daß Bäume ihres Gebietes von der anderen Partei bearbeitet worden seien, der Beamte sprach ein Urteil, und zwei der Arme verließen, den Rechtsspruch offensichtlich als Unrechtsspruch empfindend, das Haus.

Nun wandte sich der Richter an den fünften, welcher ich war. Aus der Verhandlung war mir nicht 365 hervorgegangen, was die Mexican Exploitation exploitierte, ob Menschen, Bäume oder sonstwas, aber ich vermutete, daß es sich um Chicle handelte, und so sagte ich, ich möchte gerne etwas über Chicle erfahren. Erschrocken antwortete er, er sei nur ein mexikanischer Angestellter einer amerikanischen Firma und dürfe keine Auskünfte erteilen. Außerdem gäbe es in Yucatan keinen Chicle oder nur sehr wenig, nur in den äußersten Randgebieten des Landes. Wenn ich etwas erfahren wolle, müsse ich nach Campeche fahren oder nach Quintana Roo. Dort werde mehr Chicle produziert als hier, viel, viel mehr.

Ich wandte ein, in Merida werde doch Chicle gehandelt, und mich interessiere auch der Handelsverkehr.

»Ach Gott«, antwortete der Beamte, »was ist das schon für ein Handelsverkehr bei uns! Wir sind nur da, weil es hier Banken gibt, das ist der einzige Grund. Da müssen Sie mal nach Campeche, da werden Sie sehen, was Chiclehandel ist! Dort können Sie die allerinteressantesten Sachen erfahren. Jeden Morgen fährt ein Zug ab und mittags sind Sie dort. Ein sehr bequemer Zug, wirklich. Soll ich Ihnen Abfahrtszeit und Ankunftszeit aufschreiben?«

Meinen Wunsch, den Chicle wenigstens zu sehen, konnte er nicht gut abschlagen, und wir gingen – die beiden von der Gerichtsverhandlung übriggebliebenen Männer schlossen sich an – in den Lagerraum hinüber. Unterwegs fragte ich den einen, wo er seinen Arm verloren habe.

Statt seiner erwiderte der Beamte: »Wissen Sie, im Urwald gibt es sehr viele Gefahren, manchmal stürzt ein Baum, da sind giftige Moskitos oder . . .«

Ich sah unsere beiden Begleiter lächeln und ergänzte: ». . . oder Konflikte unter den Chicleros, nicht wahr?«

»Ja, Señor, das kommt oft vor«, antwortete der Einarmige.

»Was geschah mit dem, der sie verletzt hat?«

»Bei Zusammenstößen greift die Polizei ein«, sprang der nichtgefragte Beamte wieder ein, und die beiden 366 anderen grinsten über die Idee eines Kommissariats im Dschungel.

»Wurde er eingesperrt?« fragte ich.

»Er war schon tot, als man mir den Arm abnahm.«

Eifrig lenkte der Beamte meine Aufmerksamkeit auf einen Block, den er von einem Stapel nahm: »Hier haben Sie den Chicle.«

Ich hätte ihn für einen Ziegel aus Lehm gehalten. Wog ihn in der Hand. »Das ist eine Marqueta, fast zehn Kilogramm. Fünf Marquetas sind ein Quintal, genau gesagt 46 Kilogramm. Die Arbeiter im Walde rechnen nur nach Marqueta und Quintal. Unser Handelsgewicht ist ein Fardo oder sieben solcher Blöcke. Hier stehen Fardos, in Sackleinen verschnürt. In Campeche könnten Sie weit mehr davon sehen.«

»Was sind das für Pfannen?« fragte ich und wies in die Ecke.

»Darin wird der rohe Chicle gekocht.«

»Hier im Magazin?«

»Nein, natürlich im Urwald.«

»Und wieso sind die Pfannen hier?«

»Wir geben sie den Mannschaften in den Wald mit, vielmehr unseren Contratistas.«

»Sind die Contratistas Ihre Angestellten?«

»Sehen Sie, Señor, das alles können Sie wirklich besser in Campeche erfahren. Es gibt eine Eisenbahn, in sechs bis sieben Stunden sind Sie dort . . .«

So war ich eines Tages in Campeche, einer Stadt an der Bucht von Campeche, einem Untergolf des Golfs von Mexiko. Gerade als ich ankam, sollte, wie alljährlich, die Konjunktur einsetzen. Denn es war die Zeit, da die Chicleros nach achtmonatiger Urwaldarbeit und Abstinenz heimkehrten und entbehrte Genüsse nachholen wollten. Diesmal aber brachten sie wenig Geld mit, und so war's nichts mit Branntwein und Weib. Es hatte nicht geregnet, es war nicht genug Chicle abgeflossen.

Im Café Prinzipal fragte ich einen Tischnachbarn, wo das Verbandslokal der Contratistas sei. »Biegen 367 Sie bei der Kathedrale rechts ein«, sagte er, »es ist in der Straße dort.«

»Auf der rechten oder auf der linken Seite?« fragte ich.

»Jesus!« rief er so laut, daß ich erschrak. Was hatte denn in meiner Frage gelegen, das ihn veranlaßte, den Heiland anzurufen? Aber es war nicht der Heiland, sondern dessen Namensvetter am anderen Ende des Cafés, den mein Nachbar rief und aufforderte, mich zu den Contratistas zu begleiten, ich sei ein Fremder.

Jesus nahm mich in seine Obhut, und ich beschloß, ihm ein Trinkgeld von zwanzig Centavo zu geben.

»Ich gehe ohnehin in das Büro«, sagte Jesus unterwegs, »ich habe dort zu tun.«

Worauf ich überlegte, daß ein Trinkgeld von zwanzig Centavo zu wenig sei. Chicle steht an vierter Stelle der Ausfuhrstatistik Mexikos, und wenn jemand mit einem solchen Produkt zu schaffen hat, kann ich ihm selbst für einen geringen Dienst nicht weniger als fünfzig Centavo anbieten.

»Haben Sie mit Chicle zu tun?« fragte ich zur Sicherheit.

»Ja, mein Herr, ich bin ein Contratista.«

Müßte ich ihm nicht einen Peso geben? Meine Frage wurde zur Antwort, als ich an der Tür des Büros nicht das schlichte Wort »Contratistas«, sondern das pompöse »Productores de Chicle« angeschrieben fand.

Jesus stellte mich dem Bürochef vor, der mir sagte, alle Informationen stünden im »Diario Oficial«, dem Amtsblatt der Republik Mexiko. Und er reichte mir den letzten Jahrgang.

Alljährlich dekretiert der Präsident der Republik Mexiko, welche Chiclegebiete im Lauf des Jahres angezapft werden dürfen. Der Urwald ist Staatseigentum, Territorio Nacional; auf privaten Besitzungen wächst der Chiclebaum (Chico Zapote, lateinisch: Achras Sapota) nur vereinzelt.

Ich lese die Dekrete und studiere eine enorme Landkarte; sie sieht aus wie das Projekt eines Villenviertels, 368 aber das Gebiet, das sie darstellt, soll niemals besiedelt werden. Rechtecke, jedes mit dem Namen eines Contratistas, zeigen die Einteilung der Arbeitsgebiete. Die Mannschaft eines Contratistas darf nicht mehr als 50.000 Hektar bearbeiten, das ist das staatlich festgelegte Maximum. Jesus beugt sich mit mir über den Urwald.

»Welches ist Ihr Land?« frage ich ihn.

Er zeigt auf ein großes Quadrat, wo sein Name und die Zahl 50.000 gedruckt sind.

»Sie haben das Maximum?« Ich überlege, daß bejahendenfalls ein Peso Trinkgeld entschieden zu wenig wäre.

»Ricardo Neveras hat ebensoviel«, spricht Jesus milde, »er beschäftigt fast fünfhundert Chicleros. Aber 50.000 Hektar sind nicht so viel, wie Sie glauben, wir 160 Contratistas von Campeche sollen ja innerhalb der Saison vier Millionen Kilogramm einbringen lassen.«

Sache der amerikanischen Einkaufsgesellschaften (wie jener Mexican Exploitation in Merida, in die ich den drei einarmigen Männern gefolgt war) sei es, die Contratistas zu bevorschussen und ihnen Ware abzukaufen, 330 Peso pro Quintal. Davon bezahle der Contratista seinen Arbeitern 126,50 pro Quintal.

»Mehr als hundert Prozent Gewinn«, bemerke ich, »nicht schlecht bei ein paar tausend Quintales.«

Jesus, der Bürochef und ein dritter Anwesender fangen zu seufzen an:

»Bedenken Sie doch unsere Ausgaben, Señor. 75 Peso pro Quintal zahlen wir an Steuern. Und der Transport! Noch vor kurzem dauerte es fünf Wochen, ehe zwanzig Mulas zwei Tonnen Chicle aus dem Wald zur Verladestelle brachten. Jetzt geht es per Flugzeug, jedes kann 500 Kilogramm mitnehmen. Wir müssen der TAMSA (Transportes Aereos Mexicanos, SA) und der Chicle Linie Alfredo d'Argence sechzig Centavo pro Kilo zahlen. Zum Glück haben wir unsere eigenen Flugzeuge. Unser Verband hat drei, unser Mitglied Ricardo Neveras vier, und Ihr Freund Jesus hier hat drei.« 369

»Was machen Sie mit Ihren Aeroplanen, Don Jesus, wenn die Saison vorbei ist?«

Der Mann, dem ich vor einer Weile ein Trinkgeld von zwanzig Centavo anbieten wollte, antwortet mir, er mache viele Geschäftsreisen und fliege manchmal mit Frau und Kindern über den Sonntag nach Miami hinüber.

»Wollen Sie in die Vereinigten Staaten zurück, Señor?« fragt er mich, »ich lasse Sie gerne rüberbringen.«

Die beiden anderen sind bemüht, mir weiter auseinanderzusetzen, wie groß ihre Risiken und Ausgaben sind. Alles hänge davon ab, ob es in den Vereinigten Staaten genügend Zucker für die Kaugummifabrikation gebe, und davon, wieviel Chicle die Amerikaner vom Malaiischen Archipel beziehen.

Das Schlimmste aber sei die Gewerkschaft. »Sie hat uns einen Kollektivvertrag mit den Chicleros aufgezwungen. Und nicht nur mit den Chicleros, sondern auch mit den Frauen, die in den Sammelstellen für je zehn Mann kochen und waschen, müssen wir einen Vertrag schließen, und sogar mit den Maultiertreibern und den Leuten, die an der Waage stehen.«

»Haben die eigene Gewerkschaften?«

»Nein, das ist es eben. Sie gehören zur Gewerkschaft der Chicleros. Sagen Sie selbst, sind Köchinnen und Maultiertreiber Chicleros? Aber das machen die Gewerkschaftsleute, um mehr Mitgliedsbeiträge zu kriegen, und wir haben nicht einmal bei unseren eigenen Leuten etwas zu sagen.«

Ich möchte ein Exemplar des Kollektivvertrags einsehen. Bedauernd schütteln sie den Kopf, der Kollektivvertrag sei streng vertraulich und es sei verboten, ihn aus der Hand zu geben. Ich verabschiede mich, drücke dem Herrn Jesus besonders dankbar die Hand.

Einige Tage später spreche ich mit Maximiliano Banos Suarez, dem Gründer und Sekretär der Chiclero-Gewerkschaft, in seinem Büro. Seine Gewerkschaft habe es schwerer als alle anderen, sagt er, weil sie nicht aus 370 Lohnarbeitern besteht, sondern aus Akkordarbeitern mit schwankenden Einnahmen. Sie arbeiten nur in der Saison, ohne begrenzten Arbeitstag und ohne vorgeschriebenes Pensum, und zwischen Arbeiter und Arbeiter gebe es große Unterschiede. »Normalerweise verdient ein Chiclero in den acht Monaten etwa 1.300 Peso. Doppelt so viel kann ein ›buen machete‹ verdienen, der Mann mit dem guten Messer, jedoch auch der ›buen machete‹ ist nicht immer ein ›buen machete‹. Es kommt auf die Bäume an, die er unter die Hand bekommt, und sein Verdienst hängt auch . . .«

». . . hängt wohl davon ab, ob es in den Vereinigten Staaten genügend Zucker gibt und ob die Amerikaner vom Malaiischen Archipel Chicle beziehen?« frage ich, mein bei den Contratistas erworbenes Wissen verwertend. Aber meine Frage erweist sich als fehl am Ort.

»Das interessiert den Chiclero nicht, nur den Contratista. Wenn die amerikanischen Kompanien weniger bestellen, so engagiert er eben weniger Chicleros. Aber der Chiclero zapft immer so viel er zu zapfen vermag. Wieviel er zu zapfen vermag, hängt nicht allein von ihm ab, sondern . . .« Diesmal unterbreche ich nicht mehr durch eine vorlaute Bemerkung darüber, wovon es abhänge.

». . . sondern vom Regen. Wenn es zu viel regnet, fließt mehr Wasser als Harz in die Recogedora und in den Chivo, den Ziegenbock. Die Recogedora ist ein kleiner Sack, der unten am Baumstamm anlehnt, und der Chivo ist ein Sack, in den der Inhalt der Recogedora geschüttet wird. Der Chivo faßt 23 Kilogramm, die muß der Schnitter meilenweit zu den Hatos tragen, den Wohnhütten, und dort stellt sich oft heraus, daß er mehr Wasser geschleppt hat als Chicle. Aber wenn's nicht regnet, bringt der Chiclero überhaupt nichts zu den Hütten, weil das Harz nicht vom Stamm abfließt. Der beste Schnitt ist nach dem Regen. Auf vielen Bäumen verharschen die Schnitte nach ein paar Jahren vollständig, die Rinde erholt sich, aber manche Bäume sterben nach dem ersten Abzapfen. Deshalb verfügt die 371 Regierung, daß jeder Zapotebaum acht Jahre lang in Ruhe gelassen werden muß. Das ist schon gut, aber nun muß der Chiclero tagelang suchen, bevor er eine gute Baumgruppe im erlaubten Gebiet findet. Jetzt haben wir durchgesetzt, daß der Chiclero für jeden Tag, den er mit dem Baumsuchen verbringt, sechseinhalb Peso bekommt.«

Ich erkundige mich, wie die Arbeit vor sich geht.

»Wenn der Baum ausgesucht ist, wirft der Chiclero seinen Lasso über einen Ast und zieht sich empor, zehn Meter, zwanzig Meter oder noch höher. Mit Steigeisen den Stamm zu besteigen ist verboten, damit die Rinde nicht beschädigt wird. Das Seil bleibt oben auf dem Ast hängen und wird an den Stamm gebunden; der Chiclero sitzt auf dem Strick, sein Vorne kehrt er dem Baum zu und stützt sich mit den Füßen gegen den Stamm. Er schneidet Viktoriazeichen in die Rinde, ein V unter das andere; aus der Spitze des V tropft das Harz in das nächstuntere und schließlich in den an den Baum gelehnten Sack.«

Dieses Harz ist noch lange kein Chicle, obwohl ich seinerzeit in der Kaugummifabrik von Long Island den Chicle für das Rohprodukt hielt. Abends, beim Licht der Gasolinlampe in den Hatos, wird das Harz verkocht in jenen Pfannen, nach deren Sinn ich bei der Mexican Exploitation in Merida gefragt. Es muß »bueno de punto« gequirlt und gemischt werden, um möglichst feuchtigkeitsfrei zu sein. Gepreßt in hölzerne Mulden, erhärtet es dann zu jenem Ziegel, der mir bei der Mexican Exploitation als »Marqueta« vorgestellt wurde.

»Unsere Gewerkschaft zählt 600 Mitglieder«, sagt mir ihr Sekretär, »wenn ein Unternehmer mehr Arbeiter braucht, als er unter unseren Mitgliedern finden kann, darf er andere erwerben, die aber sofort in die Gewerkschaft eintreten müssen. Schon für diese Klausel des Kollektivvertrages allein müßten uns die Unternehmer dankbar sein. Früher engagierten und bevorschußten sie nämlich Leute, die sich oft gar nicht zur Arbeit einfanden, oder solche, die bei irgendeiner Gelegenheit 372 davonliefen. Heutzutage weiß jeder Chiclero, daß er mit dem Verlust seiner Zugehörigkeit zur Gewerkschaft auch jede Arbeitsmöglichkeit verliert. Vorarbeiter und Chiclero beziehen den gleichen Akkordlohn, 126 Peso 50 Centavo für den Quintal, aber der Vorarbeiter erhält außerdem eine Prämie von drei Peso für jeden Quintal, den die unter seiner Aufsicht stehenden Arbeiter machen. Mauleseltreiber, Hilfsarbeiter und Köchin haben festen Lohn.«

»Könnte ich den Kollektivvertrag für einen Augenblick einsehen?« frage ich mit Schüchternheit, weil mir dieser Wunsch im Unternehmerverband abgelehnt worden ist.

»Selbstverständlich. Ich gebe Ihnen ein Exemplar mit. Auch einige von früheren Jahren, damit Sie sehen, wieviel sich geändert hat, seitdem die Gewerkschaft besteht.«

Ich habe herumgefragt nach alter Geschichte und alten Geschichten des Chicle, aber man wartet mir nur mit der vagen Überlieferung von einer Wasserkatastrophe auf: einmal habe es unaufhörlich, unaufhörlich geregnet, wochenlang stand der Waldboden unter Wasser, die Chicleros kletterten auf die Bäume und wohnten da oben gemeinsam mit Wildkatze, Affe und Schlange, so lange, bis sie alle verhungert waren und verdurstet. Wann das war? Vor hundert Jahren oder vor zweihundert, wer weiß? Der Zapotebaum war damals schon da.

Ja, der Zapotebaum war schon da, er war schon in jener grauen Vorzeit da, als die Mayas ihre Pyramiden und Paläste aufführten. Ich sah in den Bauten von Chichen Itza und Uxmal die Pfosten aus Zapotestämmen nicht minder gut erhalten als die Steine. Schon damals gab es Chicleros, Menschen, die Gummimilch schöpften und verkauften, teils zur Herstellung von Bällen, teils als Kaumittel. Die ersten Spanier fanden die Mayas mit immerfort bewegten Kinnbacken vor. Aber kein Weißer machte es ihnen nach.

Erst mit General Santa Ana fing es an, dem Manne, der sein Leben damit verbrachte, abwechselnd Präsident 373 oder Präsidentschaftskandidat von Mexiko zu sein. In letzterer Eigenschaft saß er so um 1800 herum in den Vereinigten Staaten, unentwegt Chicle kauend. Dies brachte Santa Anas amerikanischen Sekretär, einen Mister Adams, auf eine Idee: Wäre das nicht der Stoff, das Leben der Bonbons zu verlängern, die Vorteile von Kautabak und Candies zu vereinigen? Mister Adams holte sich Chicle aus Mexiko und eröffnete eine Werkstatt.

Das war der Anfang, und ich schließe. 374

 


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