Egon Erwin Kisch
Abenteuer in fünf Kontinenten
Egon Erwin Kisch

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Notizen über ein Nachbarhaus
(1940)

Heute bekam ich von einer Freundin aus den USA die Abschrift eines Briefes, den sie von ihrem Mann an der Front »irgendwo in Europa« erhalten hat. Er schreibt: »Gestern bin ich allein durch die Gärten gegangen, durch die uns Egon so oft geführt hat. Dann war ich dort, wo er gewohnt hat, und auch am Haus gegenüber. Es steht noch, aber es ist versperrt.«

Die Angabe läßt keine Nebendeutung zu. Die Gärten, durch die mein Freund so oft mit mir gegangen ist, sind der Schloßpark von Versailles, in dem Haus, in dem er nachher war, habe ich sieben Jahre gewohnt, und das Haus gegenüber ist zwar versperrt, aber es steht noch.

Dieses mein Nachbarhaus ist bis Sonnabend, 20. Juni 1789, ein gedeckter Ballspielplatz gewesen. (Es ist eigentlich gar kein Haus, sondern eine sechs Meter hohe fensterlose Mauer, über die eine Art Veranda gestülpt ist; diese Veranda ist durch eine Unzahl ganz alter Milchglasscheiben geschlossen.) Bis zu diesem oben erwähnten Datum also hat mein Nachbarhaus mit meiner und der Weltgeschichte nichts zu tun. Bis zu diesem Datum hielt der Dritte Stand seine Sitzungen in der »Salle des menus plaisirs«, die zwischen Rue des Chantiers und Avenue de Paris liegt und heute die Firmatafel »Depôt central du materiel de guerre du génie« trägt. (Unter »génie« ist hier die Pioniertruppe zu verstehen.) In der Salle des menus plaisirs also tagten im Jahre 1789 die von dem nachmaligen Angeklagten »Bürger Capet« zur Rettung aus Finanznöten 189 einberufenen Generalstände, das heißt, sie sollten tagen, sie tagten aber nicht, da man sich über die Geschäftsordnung nicht einigen, der Adel den beiden anderen Ständen auch bei Abstimmungen übergeordnet sein wollte. Nur der Dritte Stand hielt eigentlich hier seine Fraktionssitzungen ab, er hatte sich schon zur Nationalversammlung ernannt, die Vereinigung mit der Kammer der Geistlichkeit war schon so gut wie vollzogen, und die Geister benahmen sich so ungestüm, daß Louis XVI., der sie gerufen hatte, schleunigst, um sie los zu werden, seinen Frieden mit dem Adel machte und den Bürgerlichen die Tür des Nationalversammlungssaals vor der Nase zuschlug.

Das war am 20. Juni 1789 um acht Uhr morgens. Der Kommandant der Wache, Chevalier de Vassan, erklärt den sich zur anberaumten Sitzung des Dritten Standes einfindenden Deputierten: auf Anordnung Seiner Majestät sei das Verhandlungsgebäude wegen Restaurierungsarbeiten geschlossen.

Der Deputierten bemächtigte sich große Erregung, einige wollten sofort zum Schloß, um – obwohl es regnete – unter den Fenstern des Königs die Tagung abzuhalten, andere waren dafür, trotz des Regens, in corpore nach Paris zu ziehen, aber es war vielleicht wegen des Regens, daß man sich – angeblich auf Vorschlag des Deputierten Dr. Guillotin – nach dem Tennisplatz aufmachte, der ganz in der Nähe lag und gedeckt war.
 

Ludwig XIV. und seine Höflinge hatten den Ball noch mit dem Handballen (paume) geschlagen, zur Zeit des Enkels spielte man mit Rackets, die bereits so hießen und sich nur durch einen etwas längeren Stiel von den heutigen unterschieden.

Auch die Spielregeln waren ungefähr so wie die heutigen. Das Zeremoniell jedoch, das Zeremoniell war durchaus anders. Die Pagen zum Beispiel, die den Dienst der Balljungen versahen, mußten dem König die Bälle kniend, mit der linken Hand, überreichen, 190 mit der rechten neigten sie die Galanteriedegen zur Erde. Louis XVI. wollte mit zunehmender Dicke das Tennisspiel aufgeben, aber sein Leibarzt Fagon verordnete es ihm förmlich.

An jenem Vormittag, Sonnabend, den 20. Juni 1789, war der gedeckte Tennisplatz zu seinem Glück und seinem Ruhme frei. Obwohl die Ausmaße des Tennisplatzes damals nicht größer waren als heute und auch kein besonderer Auslauf vorhanden war, fanden 641 Männer darauf Platz. Sie standen Schulter an Schulter, sie drängten sich bis an die Mauern, sie stießen die königlichen Bälle und Rackets respektlos in die Ecke.

Dem Abbé Sieyès gebührt das Verdienst, das erste Wort der Auflehnung gesprochen, den Antrag gestellt zu haben, die Nationalversammlung möge in Paris, geschützt vom Volke, unverzüglich die Verhandlungen fortsetzen.

Manche nahmen das jubelnd auf, aber noch mehr zitterten vor diesem Schritt, das Volk von Paris zum Aufstand gegen den Willen des Königs aufzurufen.

So vermochte sich denn der Deputierte des Dauphiné, Mounier, Gehör zu verschaffen und zu beantragen, die Versammlung solle sich durch einen Schwur als unauflöslich und permanent erklären. Zwei andere Deputierte, Barnave und Le Chapelier, redigierten die Eidesformel, Bailly las sie vor, und 640 Männer von 641 sprachen sie mit dröhnender Stimme nach:

»Wir schwören, uns niemals zu trennen und uns überall zu versammeln, wo immer es die Umstände erfordern, bis eine Verfassung gegeben ist und auf festen Grundlagen steht.«

Das Protokoll wurde doppelt ausgefertigt, und jeder unterschrieb beide Exemplare.

Auch der eine, der nicht mitgeschworen hatte, setzte seinen Namen hin, fügte aber das Wort »opposant« hinzu. Ein Sturm erhob sich gegen ihn, man wollte seinen Namen streichen, nur wer geschworen habe, sollte dies schriftlich bekräftigen. Aber Bailly erklärte, gerade die Tatsache, daß sich ein Opponent 191 gefunden habe, zeige die Freiheit des Entschlusses beim Entschluß der Freiheit.
 

Oft habe ich Freunde hinübergeführt. Der alte Kustos, der mir manchen Apéritif verdankt, schloß mir zu jeder Tages- und Nachtzeit auf, ich war mit dem Dachboden vertraut, mit den Tennisrackets und den Bällen, die seit jenem Junimorgen nicht mehr übers Netz flitzten. Vor allem aber kannte ich das Protokoll des Schwurs auswendig, das im Saal unter Glas und Rahmen aufgehängt war. Eine der ersten Unterschriften war die Mirabeaus. Er gehörte nicht zum Ersten Stand, er war trotz des Grafentitels ein Volkstribun, der Löwe der Revolution; drei Tage nach dem Schwur rief er im offenen Saal dem Zeremonienmeister zu, der auf königlichen Befehl die Sitzung schließen wollte: »Sagen Sie Ihrem Herrn, daß wir hier sind durch den Willen des Volkes, und daß wir nur weichen der Gewalt der Bajonette.«

Deutlich lesbar sind die Unterschriften, man sieht den Namen von Mounier, der den Schwur beantragte, den des ritterlichen Barnave und den von Le Chapelier, die die Formel verfaßten, und den von Bailly, der sie vorsprach. Man liest die Namen des Abgeordneten von San Domingo und von Saargemünden, Straßburg und Metz; mit einer Schlinge, die sorgfältig seinen Namen schont, unterschreibt P. Mayer aus Creutswald, Türkheim aus Straßburg läßt sein adeliges »de« weg, der Elsässer Schwendt schreibt sich deutlich ein, und Brillat-Savarins Name schwebt wie guter Dampf aus einer Bratensauce dahin. Unter all den Schlingen und Schwüngen nimmt sich das Signum des Abgeordneten Maximilien de Robespierre geradezu zart und schüchtern aus.

Hängt das Protokoll heute noch da? Zu Hitlers Programm gehört die Ausrottung jeder Spur der Französischen Revolution. Vier Jahre lang war Versailles besetzt, vier Jahre lang wohnten zuerst deutsche Flieger, dann Gestapobeamte gegenüber im unmodernen Hotel 192 Moderne, sie haben sogar in meinem Zimmer den Fußboden aufgerissen, weil sie darunter Antinazimaterial zu finden hofften. Meine Schwägerin stand unerkannt dabei. Trugen die einquartierten Nazis zu jenem Programmpunkt des Führers, zur Ausrottung der Französischen Revolution bei, indem sie etwa das Dokument des Ballhausschwurs verbrannten? Oder hat das Pétain besorgt? Er, der die Große Revolution nicht minder haßt als Hitler, er, der seine Regierung mit der royalistischen Floskel antrat »Wir, Henri Pétain . . .«
 

Auf der linken Querwand ist ein episodenreiches Kolossalgemälde zu sehen. Zur Schaffung dieses Bildes hat der Jakobinerklub dem großen Maler David den Auftrag gegeben, durch eine Subvention der ganzen Nation sollte die Produktion des Gemäldes und seine Reproduktion als Stahlstich bezahlt, die Geburtsstunde der Freiheit verewigt werden. David hat die mächtige Komposition geschaffen, Olivier Meson das Werk vollendet. Auf dem großen Bild gibts wirklich genug zu sehen. Mirabeau stampft in edlem Feuer gegen das Königtum mit dem Fuß auf, Robespierre, des knabenhaften, Auge rollt ekstatisch, feierlich und würdig liest Bailly die Formel, alle strecken begeistert schwörend den Arm aus.

In der Ecke des Bildes spielt sich eine melodramatische Szene ab. Ein Jüngling sitzt dort, von Gewissensbissen gequält. Mit verächtlichen und bedrohlichen Blicken messen ihn seine Nachbarn, alle, alle sind gegen ihn, diesen Vertreter von Castelnaudry namens Martin d'Auch, der sich in dem Widerstreit der Gefühle für den Bedrücker des Landes und gegen sein Volk entscheiden wird. Dieser Martin d'Auch ist es, neben dessen Unterschrift wir das Wort »opposant« gelesen haben. Ein Tintenklecks verrät seine Aufregung, und seine Konzession an die ihn umgebenden Demokraten besteht darin, das Adelspartikelchen zum Anfangsbuchstaben seines Familiennamens zu machen und »Dauch« hinzuschreiben. 193

Ist dieses Bild nun zerschnitten? Sind die bronzenen Büsten der Männer eingeschmolzen, welche an jenem historischen Tag die Eideshelfer der Freiheit waren? Wurde das aus einem Stein der Bastille gemeißelte Modell der Bastille zertrümmert? Drei Wochen nach dem Schwur war die Bastille vernichtet, und an ihrer Stelle die Demokratie aufgerichtet worden.

Jedenfalls steht noch, so schreibt mein Freund, das Haus. Aber selbst wenn es nicht stünde, wenn es dem Erdboden gleichgemacht wäre, noch immer wäre der Platz vorhanden, auf dem die Freiheit geboren wurde, die Demokratie und die Republik. Und so lange nicht der letzte Tyrann aus der Geschichte verschwunden ist, wird es Männer geben, bereit zum Schwur, den Tyrannen zu stürzen. 194

 


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