Rudyard Kipling und Wolcott Balestier
Naulahka, das Staatsglück
Rudyard Kipling und Wolcott Balestier

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Zwanzigstes Kapitel.

»Hat Fräulein Sahib Befehle für mich?« fragte Dhunpat Raj mit orientalischer Gelassenheit, als sich Käte jetzt an die breite Schulter ihrer Getreuen lehnte, um nicht umzusinken.

Sie schüttelte den Kopf, ohne die Lippen zu bewegen.

»Ja, es ist recht betrüblich,« bemerkte Dhunpat Raj mit der Ruhe eines gänzlich unbeteiligten Zuschauers, »aber religiöser Fanatismus und Aberglauben seien stark im Land. Einmal – zweimal dasselbe gesehen. Manchmal wegen Pulver, und dann sagten sie, die mit Maßen bezeichneten Gläser seien heilige Gefäße und Zinksalbe sei Kuhfett. Aber ganzes Spital zugleich leer haben nie gesehen. Glaube nicht, daß wiederkommen, aber meine Anstellung, Staatsanstellung,« setzte er mit befriedigtem Lächeln hinzu, »werde Gehalt beziehen, wie vorher.«

Käte starrte ihn betroffen an.

»Sie meinen, es werden gar keine Kranken mehr kommen?« fragte sie stammelnd.

»O doch – in Zeit – einer oder zwei. Vielleicht Männer, wenn vom Tiger gebissen, oder mit Augenentzündung, aber Frauen – nein. Ihre Männer werden's nicht mehr erlauben – fragen Sie nur die!«

Käte, richtete einen hilflos stehenden, Trost suchenden Blick auf ihre getreue Freundin. Die bückte sich zu Boden, griff ein wenig Sand auf, ließ ihn zwischen ihren Fingern durchrieseln, rieb die Handflächen aneinander ab und schüttelte den Kopf. Käte verfolgte dieses Gebärdenspiel in verzweifelter Spannung.

»Sie sehen – alles vorüber, nichts zu hoffen,« sagte Dhunpat Raj nicht ohne Teilnahme, hinter der aber doch eine gewisse schmunzelnde Genugthuung lauerte über eine Niederlage, die ja kluge Leute, wie er, längst vorausgesagt hatten. »Und was will Euer Gnaden jetzt vornehmen? Soll ich Apotheke schließen, oder soll Drogistenrechnung nachgesehen werden?«

Käte winkte ihm, zu gehen.

»Nein! nein! Nicht jetzt! Ich muß mich fassen, muß Zeit haben, dann werde ich Ihnen Bescheid senden. Komm, du Liebe!«

Damit faßte sie die Frau aus der Wüste an der Hand und verließ mit ihr das Hospital. Draußen nahm die stämmige Radschputin Käte wie ein Kind auf den Arm und hob sie aufs Pferd.

»Und wohin geht dein Weg jetzt?« fragte Käte die entschlossen neben dem Pferd Herschreitende.

»Ich war zuerst hier,« versetzte die Geduldige, Getreue, »es ziemt sich darum, daß ich zuletzt gehe. Wo du hingehst, gehe ich auch – nachher mag geschehen, was da will.«

Käte beugte sich aus dem Sattel und nahm die braune Hand der Tochter der Wüste mit dankbarem Druck in die ihrige.

Als sie am Missionshaus anlangten, mußte Käte all ihre Kraft aufraffen, um nicht zusammenzubrechen. Es war ihr unsäglich bitter, ihre gänzliche Niederlage den Menschen einzugestehen, die am meisten von ihren Hoffnungen und Erwartungen gehört hatten, deren unausgesprochenen Zweifeln gegenüber sie immer freudig betont hatte, was sie den armen indischen Frauen jetzt schon sei, was sie ihnen zu werden hoffe. An Tarvin durfte sie überhaupt nicht denken, dazu fehlte ihr die Kraft.

Glücklicherweise schien Frau Estes nicht zu Hause zu sein. Dafür wartete ein Bote, um im Namen der Königin Mutter Käte samt dem Maharadscha Kunwar nach dem Palast zu bescheiden. Das braune Weib wollte Käte von diesem Besuch abhalten, aber Käte kehrte sich nicht an ihre Warnung.

»Nein, nein, nein! Ich muß hin – irgend etwas muß ich thun,« rief sie beinah heftig, »so lang mich noch jemand haben will. Ich muß Arbeit haben, sonst verzweifle ich. Geh' du nur voraus und erwarte mich vor dem Palast.«

Die Frau fügte sich schweigend und trottete auf der staubigen Landstraße den Weg zurück, während Käte zu ihrem Pflegling eilte.

»Lalji,« sagte sie, sich über ihn beugend, »meinst du, es würde dich nicht zu sehr anstrengen, wenn wir dich in einen Wagen heben und zu deiner Mutter bringen?«

»Ich möchte lieber meinen Vater besuchen,« versetzte der Prinz, der heute zur Belohnung für gestrige Fortschritte in der Genesung auf dem Sofa liegen durfte. »Mit meinem Vater habe ich sehr Wichtiges zu besprechen.«

»Aber deine Mutter hat dich so lang nicht gesehen, Lalji!«

»Gut, dann will ich gehen.«

»Dann bestelle ich gleich den Wagen.«

»Nein, bitte, ich will meinen eigenen haben. Wer ist denn da draußen?«

»Sohn des Himmels, ich bin's,« versetzte die tiefe Stimme eines Soldaten.

»Achcha! Reite schnell hinauf und sage ihnen, mein Wagen und Gefolge sollen kommen. Wenn sie in zehn Minuten nicht da sind, werde ich Sirop Singhs Gehalt beschneiden und ihm vor all meinen Leuten das Gesicht anschwärzen lassen. Ich fahre heute zum erstenmal aus!«

»Möge Gottes Güte zehntausend Jahre mit dir sein, Sohn des Himmels!« rief der Mann von draußen herein, während er sich in den Sattel schwang, um seinen Auftrag auszuführen.

Als der Prinz angekleidet war, rasselte auch schon der Wagen vor die Thüre, den eine sorgliche Hand im Palast mit weichen Kissen ganz ausgestopft hatte. Käte mußte den Knaben mehr tragen als stützen, obwohl er auf der Veranda durchaus frei stehen wollte, um den militärischen Gruß seiner Leibwache geziemend zu erwidern.

»Ahi! Ich bin noch recht schwach,« gestand er unterwegs mit einem verlegenen Auflachen. »Mir kommt's vor, als ob ich in Rhatore überhaupt nicht mehr frisch werden könnte.«

Käte schlang den Arm um ihn und stützte ihn zärtlich.

»Käte,« begann er jetzt, »willst du mir helfen, meinen Vater um etwas bitten, willst du ihm auch sagen, daß es gut für mich sei?«

Käte, deren Gedanken bei ihrer großen Bitternis verweilten, tätschelte ihn liebreich auf die Schulter und hob den thränenfeuchten Blick zu dem roten Steinkoloß des Palastes.

»Wie kann ich dir das versprechen, Lalji?« fragte sie, in das erwartungsvoll zu ihr aufgerichtete Kindergesicht blickend.

»Es ist ja etwas sehr, sehr Verständiges!«

»Wahrhaftig, Lalji?«

»Ja, und ich habe mir's ganz allein ausgedacht. Ich bin ja ein Radscha Kunwar und möchte in die Radscha Kunwar-Schule gehen, wo man Prinzen lehrt, Könige zu werden. Das gibt's nur in Adschmir, und da will ich hin und mit den andern Prinzen von Radschputana lernen und fechten und reiten, daß ich ein ganzer Mann werde. In die Radscha Kunwar-Schule in Adschmir will ich, daß ich alles lerne über die ganze Welt. Das ist doch verständig, Käte? Seit ich krank war, kommt mir die Welt so sehr, sehr groß vor – Käte, wie groß ist denn die Welt, die du gesehen hast über dem schwarzen Wasser? Und wo ist denn Tarvin Sahib? Mit dem würde ich auch gern sprechen. Ist Tarvin Sahib böse mit mir oder mit dir, Käte?«

So plauderte der Prinz und bedrängte Käte mit Hunderten von Fragen, bis der Wagen vor dem Seitenthor hielt, das zu dem von der Königin-Mutter bewohnten Palast führte. Kätes dunkle Freundin stand davor und streckte ihr die Arme entgegen.

»Laß mich den Prinzen hineintragen,« bat sie, »ich weiß, daß es notthut. Nein, Sohn des Himmels, du brauchst dich nicht davor zu scheuen, ich bin von gutem Blut.«

»Frauen von gutem Blut gehen verschleiert und sprechen nicht auf der Straße,« wandte der Prinz zweifelnd ein.

»Das gilt für deinesgleichen, nicht für unsereins,« entgegnete die Frau lachend. »Wer sein tägliches Brot verdienen muß, kann nicht verschleiert gehen; aber meine Väter haben viele hundert Jahre vor mir im Land gelebt, gerade wie die deinen, Sohn des Himmels, und die weiße Frau kann dich nicht so leicht tragen als ich.«

Sie faßte ihn in die Arme und schloß ihn an ihre Brust, als ob er ein Wickelkind wäre, und der Knabe fühlte sich sicher und wohl in diesen starken Armen. Er winkte mit der abgezehrten, kleinen Hand, worauf der schwere Thorflügel sich kreischend in den Angeln drehte, und sie miteinander hineingingen – Weib, Kind und Mädchen.

In diesem Teil des Palastes war nicht viel von Pracht und Ausschmückung zu sehen. Die bunten Fliesen an den Wänden waren vielfach zerbröckelt und abgefallen, die Fensterläden hätten eines neuen Anstrichs bedurft und zeigten zerbrochene Stäbe, im Vorhof lag Kehricht und Staub. Eine Königin, die beim Herrscher in Ungnade gefallen ist, büßt auch manche andre Vorteile ein.

Eine Thüre that sich auf, und eine Stimme rief die Eintretenden an. Sie gerieten in einen dunkeln Gang und dann auf eine lange Reitschnecke, die mit leuchtend weißem Stuck so glatt wie Marmor belegt war und zu den Gemächern der Königin führte. Die Mutter des Prinzen hielt sich mit Vorliebe in einem langen, niederen Zimmer auf, das gegen Nordosten lag, wo sie ihr Gesicht an das Marmormaßwerk der Fensterfüllung pressen und mit der Seele die Heimat suchen konnte, die Kuluhügel, achthundert Meilen von hier, jenseits der Sandwüste. In diesen Raum drang kein Laut von dem geschwätzigen Treiben und Lachen und Singen im Palast; nur der Fußtritt weniger getreuer Dienerinnen unterbrach die tiefe Stille.

Mit dem Gebaren eines gefangenen Panthers durchschritt das braune Weib, den Prinzen noch fester an sich drückend, den Irrgarten leerer Zimmer, kleiner Seitentreppen, bedachter Höfe. Für Käte und den Maharadscha Kunwar hatte der dunkle, winkelige, geheimnisvolle, totenstille Bau nichts Befremdliches mehr, der Knabe war darin aufgewachsen, und Käte hatte sich damit abgefunden als mit einem Teil der Mühsale und Schrecken, die sie aus freien Stücken aufgesucht hatte.

Endlich war die Reise beendigt: Käte hob einen schweren Thürvorhang, der Prinz rief nach der Mutter, und die Königin fuhr mit einem leidenschaftlichen Aufschrei von ihrem Fenstersitz aus weißen Kissen auf.

»Wie . . . wie steht's mit dem Prinzen?«

Der Prinz zappelte, auf den Boden gelassen zu werden, und die Königin warf sich schluchzend über ihn, den kleinen Mann vom Kopf bis zu den Füßen mit Küssen bedeckend, tausend Kosenamen flüsternd. Des Kindes Zurückhaltung schmolz vor dieser Begrüßung. Er hatte sich vorgenommen gehabt, der Mutter den echten Radschputen zu zeigen, das heißt einen Mann, dem jede öffentliche Gefühlsäußerung in tiefster Seele zuwider ist, aber jetzt lachte und weinte er in ihren Armen. Die Frau aus der Wüste fuhr sich mit der Hand über die Augen und Käte wandte den Blick ab und sah zum Fenster hinaus.

»Wie soll ich Ihnen danken?!« rief die Königin endlich. »O mein Sohn, mein Liebling, Kind meines Herzens, die Götter und sie haben dich wieder gesund gemacht. Wer ist die Frau?« fragte sie rasch, zum erstenmal die hohe Gestalt erblickend, die in ihrem roten Gewand still am Thürvorhang stand.

»Sie hat mich hergetragen aus dem Wagen,« erklärte der Prinz. »Sie sagte, sie sei eine Radschputin von gutem Blut.«

»Vom Stamm der Khohan, eine Radschputin und Mutter von Radschputen,« versetzte die Frau einfach. »Die weiße Fee hat ein Wunder gethan an meinem Mann. Er war krank im Kopf und kannte mich nicht mehr. Freilich mußte er sterben, aber ehe sein Atem entfloh, hat er mich erkannt und beim Namen gerufen.«

»Und sie hat dich getragen!« rief die Königin, den Prinzen schaudernd näher an sich ziehend, denn wie jede Inderin, sah sie in der Berührung, ja dem Blick einer Witwe ein böses Omen.

Die Frau sank der Königin zu Füßen.

»Vergib mir! Vergib mir!« rief sie. »Drei Kinder habe ich geboren, alle haben mir die Götter genommen und meinen Mann zuletzt. Es that so wohl – o so wohl – wieder ein Kind im Arm zu halten! O du kannst ja vergeben,« setzte sie kläglich hinzu, »du bist reich in deinem Sohn und ich bin nur eine Witwe!«

»Bin ich nicht auch eine Witwe?« murmelte die Königin leise vor sich hin, »Sie spricht wahr, ich sollte vergeben – erhebe dich!«

Aber die Frau blieb am Boden liegen, der Königin nackte Füße umklammernd.

»Erhebe dich, Schwester!« flüsterte die Königin.

»Wir von den Feldern, wir wissen nicht zu reden mit den Vornehmen. Verzeiht mir die Königin, wenn meine Worte rauh sind?«

»Gewiß verzeihe ich das! Deine Sprache klingt weicher als die der Hügelleute von Kulu, aber fremde Wörter sind darin.«

»Ich komme aus der Wüste, treibe Kamele, melke die Ziegen, wie sollte ich die Sprache des Hofs reden können? Laß die weiße Fee sprechen für mich.«

Käte hatte zerstreut zugehört. Jetzt, da ihr keine Pflicht mehr oblag, kam das Entsetzen über die Schmach, die man ihr angethan hatte, kam die Angst um Tarvin mit neuer Gewalt über sie. Sie sah die Frauen wieder vor sich, wie sie an ihr vorbei gezogen waren, eine nach der andern, sah ihr zerstörtes Werk vor sich und sich aller Hoffnung beraubt, es wieder aufzurichten, und sie sah Tarvin in Todesgefahr, grausam gemordet – durch ihre Schuld!

»Was willst du?« fragte sie teilnahmlos, als die Frau sie am Rocksaum zerrte, setzte aber dann, zur Königin gewendet, hinzu: »Das ist die einzige von all den Frauen, denen ich Liebe erzeigt habe, die heute an meiner Seite blieb, Königin.«

»Ja, es wurde im Palast davon gesprochen,« versetzte die Königin, den Arm um des Prinzen Schultern gelegt, »daß Ihrem Spital Unheil widerfahren sein soll, Sahiba?«

»Ich habe keinen Spital mehr,« sagte Käte bitter.

»Und du hast mir doch versprochen, mich einmal hinzuführen,« bemerkte der Knabe.

»Die Frauen waren Närrinnen,« berichtete das braune Weib von seinem Platz am Boden aus. »Ein toller Priester hat ihnen Lügen aufgebunden, er hat ihnen gesagt, die Arzneien seien verhext . . .«

»Bewahre uns vor bösen Geistern und Teufelsspuk,« murmelte die Königin.

»Verhext – Arzneien, die sie mit ihrer eigenen Hand mischt und berührt! Und da sind die Närrinnen davongelaufen, Sahiba, und haben geschrieen, ihre Kinder könnten mißgestaltete Affen werden und ihre Hühnerseelchen in die Hölle kommen! Aho! Sie werden's ja inne werden, morgen schon, nicht erst in acht Tagen, wohin ihre Seelen kommen, denn sterben werden sie alle miteinander, die dummen Gänse, nun ihnen niemand mehr hilft!«

Käte schauderte; sie wußte ja am besten, wie wahr die Frau sprach.

»Aber diese Arzneien,« hob die Königin an. »Man kann doch nicht wissen, ob nicht ein Zauber darin steckt!«

Sie sah Käte an und lachte verlegen.

»Dekho! Sieh diese doch nur an,« sagte das braune Weib mit ruhiger Ueberlegenheit. »Sie ist ein Mädchen und sonst nichts: was vermöchte sie an den Thoren des Lebens auszurichten?«

»Sie hat meinen Sohn gesund gemacht, darum ist sie mir eine Schwester,« erklärte die Königin.

»Sie hat meinen Mann sprechen gemacht vor der Todesstunde, deshalb diene ich ihr mit Leib und Seele, gerade wie dir auch, Sahiba,« sagte das Weib.

Der Prinz blickte fragend in seiner Mutter Gesicht.

»Sie nennt dich ›du‹,« bemerkte er, als ob die Frau ihn nicht hören könnte. »Das ziemt sich nicht! Eine Königin und eine Dörflerin ›du und du‹!«

»Wir sind beide Frauen, kleiner Mann – bleibe ruhig in meinem Arm! O, wie wohl es thut, dich wieder zu halten, du ärmliches Kerlchen!«

»Der Sohn des Himmels sieht aus wie dürrer Mais,« sagte das braune Weib rasch.

»Nein, wie ein ausgemergelter Affe,« fiel die Königin ein, ihre Lippen in des Kindes Haar drückend.

Beide Frauen sprachen laut und nachdrücklich – die Herabsetzung des beliebtesten Guts sollte die Götter täuschen, daß sie nicht neidisch würden auf menschliches Glück.

»Aho – mein kleiner Affe ist tot,« warf der Prinz plötzlich dazwischen. »Ich muß einen andern haben. Laßt mich in den Palast gehen und mir einen neuen Affen aussuchen!«

»Er soll sich nicht im Palast herumtreiben,« rief die Königin erregt, mit einem hilfeflehenden Blick auf Käte, denn sie selbst hatte es nie fertig gebracht, des Knaben Willen zu durchkreuzen. »Du bist noch viel zu schwach, Lalji, – o, Fräulein Sahib, er soll nicht aus dem Zimmer gehen!«

»Es ist mein Befehl,« erklärte der Prinz, ohne die Mutter anzusehen. »Ich will!«

»Bleibe bei uns, Liebling,« sagte Käte geistesabwesend, denn sie überlegte gerade, ob ihr Spital nicht doch in ein paar Monaten wieder zusammengeflickt werden könnte und ob sie die Tarvin drohende Gefahr nicht am Ende überschätzt habe.

»Ich gehe!« wiederholte der Prinz, sich aus den Armen der Mutter lösend, »Ich habe genug von diesem Gethue.«

»Gibt mir die Königin Erlaubnis?« fragte das braune Weib flüsternd.

Die Königin nickte, und der Prinz fühlte sich plötzlich von zwei Armen gefesselt, gegen deren Kraft es keinen Widerstand gab.

»Laß mich gehen, du – du Witwe!« zischte der kleine Mann wütend.

»Es ziemt sich nicht, daß ein Radschpute die Mutter von Radschputen mißachtet, mein König,« lautete die gelassene Antwort. »Wenn der junge Stier der Kuh nicht gehorcht, lehrt ihn das Joch Gehorsam. Der Sohn des Himmels ist noch schwach, in all diesen Gängen, auf den vielen Treppen würde er straucheln und fallen, darum bleibt er hier. Wenn der Zorn verraucht ist, wird er noch schwächer sein, als vorher, jetzt schon . . .«, die großen leuchtenden Augen bohrten sich förmlich in die des Kinds . . ., »jetzt schon,« fuhr die gleichmäßige Stimme fort, »weicht der Zorn. Nur noch einen Augenblick, Sohn des Himmels, und du bist kein Prinz mehr, nur ein kleines, kleines Kind, gerade wie die Kinder, die ich geboren habe, ach, und wie ich keines mehr gebären werde.«

Bei den letzten Worten hatte sich das Köpfchen des Knaben auf ihre Schulter gesenkt. Die Heftigkeit hatte sich ausgetobt und ihn, wie die Frau vorausgesehen, müde und schläfrig gemacht.

»O Schmach! O Schmach!« murmelte er schlaftrunken. »Ja, ich will gar nicht mehr fort . . . laßt mich nur schlafen, schlafen!«

Das braune Weib tätschelte ihn auf den Rücken, bis die Königin hungrige Arme nach ihrem Eigentum ausstreckte und es wieder an sich riß. Sie bettete das Kind auf ein Kissen an ihrer Seite, breitete den Saum ihres langen Musselinkleides über ihn und sah ihr Kleinod zärtlich an. Das braune Weib kauerte sich auf dem Boden zusammen. Käte saß auch auf einem Kissen und lauschte dem Ticken einer billigen amerikanischen Wanduhr, die irgendwo in einer Nische hing. Durch viele Wände gedämpft klang der Gesang einer Frauenstimme herein. Der Mittagswind rauschte in den durchbrochenen Fensterschirmen, und vom Hof, der wohl hundert Fuß tiefer liegen mochte, drang das Scharren und Stampfen der Pferde der Leibwache herauf, die mit den Schwänzen fuchtelten und in den Zaum bissen. Käte lauschte all diesen Geräuschen in abermals wachsender Angst um Tarvin. Die Königin beugte sich immer tiefer über den schlafenden Sohn; Mutterglück feuchtete ihre Augen.

»Jetzt ist er fest eingeschlafen,« sagte sie endlich. »Was war doch das mit seinem Affen, Fräulein Sahib?«

»Er ist gestorben,« versetzte Käte, sich gewaltsam zur Lüge zwingend. »Wahrscheinlich hat er im Garten faules Obst gegessen.«

»Im Garten?« fragte die Königin hastig.

»Ja, im Garten.«

Das braune Weib sah die beiden Frauen forschend an; sie wußte nicht, was sie aus Frage und Antwort machen sollte, und streichelte der Königin die Füße.

»Affen sterben leicht,« bemerkte sie. »In Banswarra habe ich einmal eine Art Pest unter dem Affenvolk erlebt.«

»Wie starb er denn?« fragte die Königin.

»Das . . . das weiß ich nicht genau,« stotterte Käte.

Und nun herrschte wieder ein langes Schweigen in dem schwülen Raum.

»Fräulein Käte,« begann die Königin dann flüsternd, »was denken Sie über meinen Sohn? Ist er gesund oder nicht?«

»Kräftig ist er nicht, aber mit der Zeit kann er es werden, doch wäre es gut, wenn er eine Weile von hier fort käme.«

Die Königin nickte ergebungsvoll.

»Daran habe ich auch schon oft gedacht, wenn ich so allein saß, und dann war mir's, als ob mir das Herz aus der Brust gerissen würde. Ja, es wäre gut, wenn er fort käme von hier, nur daß ich so gar nichts weiß von der Welt, wohin er gehen soll,« sagte die arme Mutter, ihre Hände in hilfloser Verzweiflung nach dem Sonnenschein ausstreckend. »Weiß ich denn, ob er dort sicher sein wird? Weiß ich's denn hier? Seit Sie zu uns gekommen sind, hat mein Herz ein wenig Trost gefunden, aber weiß ich denn, wann Sie wieder gehen?«

»Auch wenn ich da bin, kann ich das Kind nicht vor jedem Uebel behüten,« sagte Käte, die Hände vors Gesicht schlagend. »Darum schicken Sie ihn fort, fort aus diesem Palast, so schnell als möglich. In Gottes Namen lassen Sie ihn ziehen.«

»Such hai! Such hai! Es ist die Wahrheit, die Wahrheit.«

Die Königin wandte sich zu dem Weib, das zu ihren Füßen saß.

»Drei hast du geboren?« fragte sie.

»Drei – ein viertes hat nie geatmet, und lauter Söhne waren's,« sagte das Weib der Wüste.

»Und die Götter haben sie von dir genommen.«

»An Blattern starb der eine, am Fieber zwei.«

»Bist du gewiß, daß die Götter es gethan?«

»Ich war bei ihnen bis zum letzten Atemzug.«

»Dein Mann – der war also ganz dein eigen?«

»Wir waren nur zu zweien, er und ich. In unsern Dörfern sind die Männer arm, da haben sie genug an einem Weib.«

»O ihr seid reich in euren Dörfern! Höre mich an – wenn ein Kebsweib deinen dreien nach dem Leben getrachtet hätte . . .«

»Würde ich sie erschlagen haben, was sonst?«

Das Weib rief's mit bebenden Nüstern und ihre Hand griff rasch in die Falten des Gewandes.

»Und wenn du an Stelle der drei nur einen einzigen gehabt hättest, die Wonne deiner Augen, und gewußt hättest, daß dein Schoß keinen zweiten tragen wird, und das Kebsweib hätte diesem einzigen auf Schleichwegen nach dem Leben getrachtet? Was dann?«

»Ich würde sie erschlagen haben, aber leicht hätte ich ihr das Sterben nicht gemacht. An ihres Mannes Seite, in seinen Armen würde ich sie erschlagen haben, und wenn sie gestorben wäre, eh' meine Rache satt war, wäre ich ihr nachgeschlichen in die Hölle.«

»Du kannst in die Sonne hinaustreten und durch die Straßen gehen, und kein Mann sieht sich nach dir um,« versetzte die Königin mit Bitterkeit. »Deine Hände sind frei, dein Antlitz ist unverhüllt. Wenn du aber eine Sklavin wärest unter Sklaven, eine Fremde unter fremdem Volk und« – sie flüsterte es kaum vernehmlich – »der Gunst deines Herrn beraubt?«

Das Weib küßte den zarten Fuß, den ihre Hände umklammert hielten.

»Dann würde ich mich nicht verzehren in Sorge, dann würde ich nur daran denken, wie aus meinem Sohn ein König werden kann, und würde ihn fortschicken, dahin, wo des Kebsweibes Macht nicht reicht!«

»Ist es so leicht, sich die Hand abzuhauen?« fragte die Königin schluchzend.

»Besser die Hand als das Herz, Sahiba! Wer vermöchte ein Kind zu behüten an einem Ort wie dieser?«

»Sie ist von weit her gekommen,« entgegnete die Königin, auf Käte deutend, »und sie hat ihn mir schon einmal vom Tod errettet.«

»Ihre Mittel sind gut und ihre Hand ist geschickt, aber – du weißt es ja – sie ist nur ein Mädchen, das weder Besitz noch Verlust kennt. Es mag ja sein, daß ich ein Kind des Unglücks bin und daß mein Blick Unheil bringt – mein Mann freilich sprach anders im letzten Herbst – aber es mag ja sein. Und doch kenne ich den Schmerz in der Brust und den Jammer um das Neugeborene, wie du ihn kennst.«

»Wie ich ihn kenne!«

»Mein Haus ist leer und ich bin eine Witwe und kinderlos und nie mehr wird ein Mann mich zur Ehe begehren.«

»Wie ich – wie ich . . .«

»Nein, dir ist der Kleine geblieben, mag dich auch sonst alles verlassen haben, und der Kleine muß sorglich behütet werden. Wenn sich Neid und Eifersucht rühren gegen den Knaben, so ist's nicht wohl gethan, ihn in diesem Mistbeet zu lassen. Laß ihn fort!«

»Aber wohin? Weiß es das Fräulein Sahib? Uns die wir hinterm Vorhang sitzen, ist die Welt ja dunkel.«

»Ich weiß, daß der Prinz aus freiem eigenem Antrieb in eine Fürstenschule nach Adschmir gehen möchte, wie er mir selbst gesagt hat,« erwiderte Käte, die, das Kinn in die Hand gestützt, der ganzen Unterredung gefolgt war. »Es handelt sich ja nur um ein Jahr oder zwei.«

Die Königin lachte ein wenig unter ihren Thränen.

»Nur ein Jahr oder zwei, Fräulein Käte! Weiß du nicht, wie lang eine einzige Nacht ist ohne den Knaben?«

»Aber er kann zurückkommen, wenn du ihn rufst, aber kein Rufen bringt die Meinigen zurück. Nur ein Jahr oder zwei. Sahiba, auch denen, die nicht hinterm Vorhang sitzen, ist die Welt dunkel!« sagte das braune Weib leise zur Königin. »Es ist nicht ihre Schuld – wie sollte sie wissen?«

Käte fühlte sich wider Willen verletzt von dieser Art, sie beharrlich vom Gespräch auszuschließen. Sie, mit dem schweren eigenen Leid im Herzen, sie, die sich andrer Leiden zum Lebensberuf erkoren hatte, sie sollte an diesem gemeinsamen Frauenleid keinen Anteil haben?

»Was soll ich nicht wissen?« fragte sie in diesem Gefühl beinah ungestüm: »Kenne ich etwa den Schmerz nicht? Ist er nicht mein Leben?«

»Noch nicht,« versetzte die Königin sanft. »Weder Leid noch Lust. Fräulein Käte, du bist sehr klug und weißt vieles, ich dagegen bin eine Frau, die nur die vier Wände ihres Palastes kennt, und doch bin ich wissender als du, denn ich weiß, was du nicht wissen kannst, obwohl du mir meinen Sohn zurückgegeben hast und dieser Frau die Sprache ihres Mannes! Womit soll ich dir's lohnen?«

»Mit der Wahrheit,« flüsterte das braune Weib. »Sag' ihr: ›Wir sind alle drei Frauen, Sahiba – das abgefallene Laub, der blühende Baum und die verschlossene Knospe‹.«

Die Königin faßte Kätes Hände und zog das Mädchen sanft zu sich heran, bis ihr Kopf auf dem Knie der Königin ruhte. Erschöpft von den Aufregungen des Morgens, müde an Leib und Seele, ließ sich Käte die Ruhestätte gern gefallen. Weiche, linde Frauenhände strichen ihr das dunkle Haar aus der Stirn, und Augen, die viel geweint hatten, senkten sich tief in die ihrigen, indes der Arm des braunen Weibes sich um ihre Hüften schmiegte.

»Höre mich an, meine Schwester,« begann die Königin mit unendlicher Zärtlichkeit. »In unsern Bergen daheim bei meinen Leuten erzählt man von einer Ratte, die ein Stück Safran gefunden und damit eines Apothekers Laden aufgeschlossen habe. So ist es mit dem Schmerz, den du kennst und heilst, Geliebteste. Du bist mir doch nicht böse? Nein, es darf dich nicht kränken! Vergiß, daß du eine Weiße bist und wir Inderinnen sind, bedenke nur, daß wir Schwestern sind. Kleine Schwester, für uns Frauen alle gilt eine Wahrheit – die kein Kind geboren hat, ist keine Wissende, die Welt ist ihr verborgen. Ich bete zitternd zu dem und jenem Gott, von dem du sagst, er sei schwarzer Stein, ich schaudre vor dem Nachtwind, weil ich glaube, die bösen Geister reiten um diese Stunde an meinem Fenster vorüber, und ich sitze hier im Dunkeln und stricke wollene Sachen, die niemand trägt, und bereite Süßigkeiten, die ungekostet von meines Herrn Tisch zurückkommen. Und du, die viele tausend Meilen weit her gekommen, du bist sehr klug und hast mich tausend Dinge gelehrt, wovon ich nichts wußte, und bei alledem bist du doch das Kind und ich bin die Mutter. Was ich weiß, kannst du nicht wissen, kannst den Quell meiner Glückseligkeit nicht ergründen und nicht das Meer meines Leids, bis du selbst gleiches Weh gekostet haben wirst. Ich habe dir von meinem Kind erzählt – alles, ja mehr als alles? Kleine Schwester, weniger als die Wurzeln meiner Liebe zu ihm habe ich dir gezeigt, weil ich wußte, daß du mich nicht verstehen könntest! Ich hätte dir mein Leid geklagt, all mein Leid und mehr denn alles, meinst du, als ich mein Gesicht an deine Brust lehnte? Wie hätte ich dir alles klagen können? Du bist ein Mädchen und das Herz in deinem Busen, das am meinigen schlug, verriet mir schon durch seinen Schlag, daß es mich nicht verstand. Und siehe, dieses Weib, das von draußen herein kommt, weiß mehr von mir als du! Und in einer Schule, so hast du mir erzählt, haben sie dich gelehrt, wie man Kranke heilt, und es gibt keine Krankheit, von der du nicht wüßtest? Kleine Schwester, was soll die vom Leben verstehen, die nie Leben gab? Hast du je ein Kind saugen gefühlt an deiner Brust? Was brauchst du denn zu erröten? Hast du's gefühlt? Nein, ich weiß es! Als ich deine Sprache zum erstenmal vernahm, als ich dich nur gehen sah im Hof von meinem Fenster aus, wußte ich, daß du es nie gefühlt hast. Und die andern, meine Schwestern in der Welt, wissen's auch, nur daß sie nicht zu dir sprechen wie ich. Wenn das Leben wächst in ihrem Schoß und sie wach liegen in der Nacht, hören sie die ganze Erde sich rühren nach dem Takt ihres Herzschlags. Aber warum sollen sie dir das sagen? Heute ist dein Werk im Spital unter dir zusammengebrochen – ist's nicht so? Und die Frauen sind fortgegangen, eine nach der andern? Und was hast du ihnen gesagt?«

An Kätes Stelle antwortete das braune Weib: »Sie sagte: Bleibt bei mir, ich will euch gesund machen.«

»Und mit welchem Eid hat sie's ihnen gelobt?«

»Mit keinem Eid,« versetzte die Frau. »Sie stand nur unterm Thor und rief sie an.«

»Und worauf soll sich ein Mädchen berufen, um schlotternde Weiber zurückzuhalten? Auf die Mühsal, die sie auf sich genommen hat? Die verstehen jene nicht, aber von den Schmerzen, die ein Weib mit dem andern geteilt hat, weiß jede. Kein Kind hat in deinen Armen geruht, der Mutterblick leuchtet nicht aus deinen Augen, mit welchem Zauber willst du denn Weibern gebieten? Sie sagten, deine Arzneien seien verhext und die Frucht ihres Leibes werde mißgestaltet – was weißt denn du von der Quelle des Lebens und Todes, um sie anders zu belehren? In den Büchern deiner Schule, ich weiß es wohl, steht geschrieben, daß solche Dinge nicht sein können, aber wir Frauen lesen keine Bücher, nicht aus Büchern lernen wir das Leben begreifen. Wie sollte eine, die es nur aus Büchern kennt, unsern Willen lenken? Es müßte denn sein, daß die Götter ihr beistehen und die Götter sind fern. Du hast dein Leben dran gesetzt, den Frauen zu helfen, kleine Schwester – wann wirst du selbst Weib werden?«

Die Stimme verstummte. Kätes Haupt war im Schoß der Königin vergraben; sie hob es nicht.

»Ay!« sagte das braune Weib. »Das Zeichen des Frauenstandes ist von meinem Haupt genommen, die Glasspangen an meinem Arm sind zerbrochen und mein Anblick bedeutet Unheil dem Manne, der auf die Reise auszieht. Solang ich lebe, muß ich einsam bleiben, allein mein Brot verdienen und an die Toten denken. Aber wenn ich auch wüßte, daß ich alles Leid noch einmal erfahren sollte, in einem statt in zehn Jahren, doch würde ich den Göttern danken, daß sie mir Liebe geschenkt haben und ein Kind. Will das Fräulein Sahib diese Worte als Zahlung nehmen für alles, was sie an meinem Mann gethan hat? ›Ein wandernder Priester, ein kinderloses Weib und ein Stein im Wasser, die gehören zusammen,‹ sagt ein Wort unsres Volkes. Was will das Fräulein Sahib jetzt beginnen? Die Königin hat Wahrheit gesprochen. Die Götter und deine Weisheit, die weit hinaus geht über die Mädchenweisheit, haben dir bis hierher geholfen. Des bin ich Zeuge, die ich um dich war und dein Thun gesehen habe. Aber die Götter haben dir zu wissen gethan, daß ihre Hilfe zu Ende sei – was bleibt dir dann? Ist dies ein Leben für eine wie du? Ist es nicht, wie die Königin sagt? Sie, die hier allein sitzt und nichts sieht von der Welt, hat gesehen, was ich sah und wußte, als ich dich Tag für Tag bei den Kranken sah – kleine Schwester, ist es nicht so?«

Käte hob langsam den Kopf und stand auf.

»Nimm das Kind, und laß uns gehen,« sagte sie mit heiserer Stimme.

Die barmherzige Dunkelheit im Zimmer verbarg den andern ihr Antlitz.

»Nein,« entschied die Königin. »Die Frau soll ihn zurückbringen. Geh' du allein.«

Und Käte ging.


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