Rudyard Kipling und Wolcott Balestier
Naulahka, das Staatsglück
Rudyard Kipling und Wolcott Balestier

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Neuntes Kapitel.

Aufs neue standen Thränen in Kätes Augen, als sie vor dem Spiegel in Frau Estes' sorgsam für sie bereiteten Gastzimmer ihre Haare bürstete, dieses Mal Thränen des Aergers. Sie hatte ja schon öfter die Erfahrung gemacht, daß die Welt uns nichts für sie thun lassen will und daß ihr die Menschen mißliebig sind, die sie aus ihrer trägen Zufriedenheit aufrütteln möchten. Aber bei der Landung in Bombay hatte sie doch das Gefühl gehabt, daß jetzt alle Hemmnisse und Abhaltungen hinter ihr lägen: vor sich aber erblickte sie nur die naturgemäßen und zuträglichen Mühen ernster Arbeit. Und jetzt war Nick hier!

Die ganze Reise von Topaz her hatte sie in gehobener Stimmung zurückgelegt. Sie war vom Stapel gegangen, dieses Glück machte sie beinahe schwindeln, wie den Knaben der erste Vorgeschmack vom Leben des Mannes. Endlich war sie frei, niemand konnte ihr Einhalt gebieten. Nichts stand mehr zwischen ihr und der Erfüllung ihres Gelübdes, nur noch eine kurze Wartezeit, und sie konnte die Hand ausstrecken und ihre Arbeit in Angriff nehmen. Wenige Tage und Nächte noch, und sie stand Aug in Auge dem Leid gegenüber, das nach ihr geschrieen hatte über Länder und Meere. In ihren Träumen sah sie flehend gerungene Hände, die sich zu ihr erhoben, fieberglühende Finger, die sich um die ihrigen klammerten. Der stetige Gang des Schiffs war ihrer Sehnsucht zu langsam, sie zählte fast die Drehungen der Schraube. Im Vorderteil des Schiffs stand sie mit windzerzaustem Haar: mit hungrigen Blicken nach Indien ausspähend, eilte ihr Herz dem Schiff voraus, den Gesuchten entgegen: ihr persönliches Leben schien sich von ihr abzulösen und eilig, eilig über die Wellen dahinzugleiten, bis es die Elenden erreicht hatte und sich ihnen hingab. Als sie den Fuß aufs Land setzte, kam ein Augenblick des Umschlags, des Zauderns. Jetzt war sie ihrer Arbeit nahe – aber war sie ihr auch bestimmt? Diese alte Bangigkeit, die von Anfang an neben allem Planen und Handeln hergeschlichen war, warf sie jetzt mit dem festen Entschluß hinter sich, von Stund an alles Grübeln zu lassen. Soviel Arbeit, als der Himmel sie verrichten ließ, war ihr bestimmt, und sie ging mit einem neuen, starken, demütigen Aufopferungsdrang vorwärts, der sie über sich selbst hinaushob und stützte.

In dieser Stimmung hatte sie vor den Mauern von Rhatore den Wagenschlag geöffnet – um in Tarvins Arme zu sinken!

Sie war ja nicht ungerecht gegen ihn, sie würdigte die Herzensgüte wohl, die ihn übers Meer getrieben hatte, aber ach – es wäre ihr so viel lieber gewesen, wenn er nicht gekommen wäre! Das Bewußtsein, daß ein Mann, dem sie nichts zuliebe thun konnte, mit ganzem Herzen an ihr hing, war eine schwere Last, auch wenn vierzehntausend Meilen zwischen ihr und diesem Mann lagen, blieb er aber an ihrer Seite in Indien, so wurde es zu einer niederdrückenden Bürde, die ihr die Kraft benahm, andern ernstlich zu helfen. Die Liebe erschien ihr ja in diesem Augenblick wirklich nicht als das Wichtigste im Leben, die Barmherzigkeit stand ihr weit darüber, aber gleichgültig konnte ihr deshalb Nicks Jammer doch nicht sein, sie konnte ihn nicht von sich abschütteln, nicht ihre Haare flechten, ohne daran zu denken! An dem Morgen, wo sie in ihr neues Leben eintreten wollte, das allen, die ihr erreichbar sein würden, Hilfe bedeuten wollte, dachte sie an Nikolas Tarvin!

Und weil sie voraussah, daß sie immerfort an ihn denken werde, wünschte sie ihn weit weg. Er war der Schaulustige, der in der Kirche umhergeht und die Knieenden im Gebet stört, er war der andre Gedanke, der sich in die eigenen einschleicht. Seine Person verkörperte ihr das Leben, das sie hinter sich gelassen, von dem sie sich abgewendet hatte, ja, weit schlimmer, er stellte ihr ein Leiden vor Augen, das sie nicht heilen wollte und konnte. Vom Gespenst einer zuwartenden Liebe verfolgt, verrichtet man keine großen Thaten, mit geteilter Seele hat noch kein Eroberer Städte bezwungen. Was sie zu vollbringen glühte, brauchte ihre ganze Kraft, ihre ganze Seele, eine Teilung selbst mit Nick war unmöglich. Und doch war es gut von ihm, herüber zu kommen, es lag sein ganzes Wesen darin. Sie wußte, daß selbstsüchtige Hoffnung allein ihn nicht getrieben hatte, es war, wie er sagte – er konnte nicht mehr schlafen aus Angst um sie. Seine Sorge um sie, das war selbstlose, echte Güte.

Frau Estes hatte Tarvin auf heute zum Frühstück eingeladen gehabt, als Käte noch nicht in Sicht gewesen war, und er war nicht der Mann, darum eine Einladung im letzten Augenblick abzusagen. So saß er ihr denn an ihrem ersten Morgen in Indien am Frühstückstisch gegenüber und lächelte ihr zu, daß sie ihn wider Willen freundlich ansehen mußte. Trotz einer schlaflosen Nacht sah sie ungemein frisch und hübsch aus in dem weißen Waschkleid, womit sie den verstaubten Reiseanzug vertauscht hatte, und als Frau Estes nach der Mahlzeit ihren Haushalt beschickte und der Hausherr in seine innerhalb der Stadt gelegene Missionsschule gegangen war, setzten sich die beiden Gäste allein auf die Veranda und Tarvin sprach sich bewundernd über das kühle weiße Kleid aus, eine Toilette, die im Westen Amerikas selten gesehen wird. Allein Käte that seiner Artigkeit Einhalt.

»Nick,« begann sie, ihm gerade in die Augen sehend, »willst du mir etwas zuliebe thun?«

Tarvin sah ihren Ernst und versuchte den Angriff mit Humor abzuschlagen, aber sie ließ ihn nicht dazu kommen.

»Nein, Nick, nicht so,« schnitt sie ihm das Wort ab. »Es ist etwas, woran mir sehr viel liegt. Willst du es mir zuliebe thun?«

»Als ob ich nicht alles für dich thäte!« rief er ernst.

»Ich weiß doch nicht, ob gerade dieses! Aber du mußt es thun.«

»Was ist's denn?«

»Fortgehen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Du mußt gehen.«

»Höre mich an, Käte,« begann er, beide Hände in die tiefen Taschen seines weißen Rocks vergrabend. »Ich kann nicht gehen. Du hast noch keine Ahnung davon, wo du hingekommen bist – richte dasselbe Verlangen heute in acht Tagen wieder an mich. Nachgeben werde ich dir auch dann nicht, aber wenigstens will ich dann den Fall mit dir durchsprechen.«

»Ich weiß jetzt schon, was in Betracht kommt,« entgegnete sie, »aber ich will leisten und vollbringen, was mich hierher führt, und wenn du da bist, kann ich's nicht. Du verstehst ganz gut, wie ich's meine, Nick, und weißt, daß es genau so ist, wie ich dir sage. Daran ändert niemand etwas.«

»Doch, ich kann's ändern, indem ich mein Betragen danach einrichte – ich will sehr artig sein!«

»Du brauchst mir gar nicht zu sagen, daß du das willst, ich weiß es! Aber all deine Güte ändert nicht, daß du mich hemmst. Glaube mir das, Nick, und geh fort. Nicht, weil ich dich nicht gern um mich hätte, das weißt du ja . . .«

»Oho!« warf Nick lächelnd hin.

»Ach, stelle dich doch nicht, als ob du mich falsch verständest,« rief Käte, ohne daß der Ernst von ihren Zügen gewichen wäre.

»Nein, ich verstehe dich wohl, aber wenn ich mich gut halte, bin ich dir nicht im Wege. Das weiß ich und du wirst es einsehen,« fügte er sanft hinzu. »Eine greuliche Reise, nicht wahr?«

»Du hattest mir versprochen, sie nicht zu machen!«

»Habe sie auch nicht gemacht,« behauptete Tarvin lächelnd, indem er ihr die Hängematte zurecht machte und sich einen von den tiefen, rohrgeflochtenen Verandastühlen holte. Er legte sich hinein, kreuzte die Beine und stülpte den weißen Korkhelm, zu dem er sich bequemt hatte, auf sein Knie. »Ich nahm eigens die andre Route.«

»Wieso?« fragte Käte, mit einiger Vorsicht in die Hängematte sinkend.

»Ueber San Francisco und Yokohama – du hattest mir ja verboten, dir zu folgen.«

»Nick!«

Die eine Silbe enthielt wunderbarerweise alle Anklage und Mißbilligung, alle Neigung und Verzweiflung, womit die geringste und größte seiner Vermessenheiten sie erfüllte.

Tarvin fand ausnahmsweise keine Entgegnung auf diesen inhaltschweren Laut und Käte konnte die Pause nützen, um sich zu vergewissern, daß seine Gegenwart ihr ein Greuel sei, und hatte Zeit, die Aufwallung von Stolz zu bekämpfen, die ihr einflüstern wollte, es sei doch schön, so aus Liebe um die Welt herum verfolgt zu werden, und die heimliche Bewunderung einer solchen Hingebung zu unterdrücken. Sie hatte vor allem Zeit, sich des Gefühls von Einsamkeit und Verlassenheit zu schämen, das sich wie eine Wolke aus dieser endlosen Wüste auf sie herwälzte und ihr die schützende Nähe des Mannes, den sie daheim, im andern Leben gekannt hatte, lieh und erwünscht zu machen drohte. Das empfand sie als das Schlimmste und eine wirkliche Schande.

»Du hast doch nicht im Ernst erwartet,« sagte Tarvin jetzt, »daß ich daheim bleiben und dich allein deinen Weg suchen lassen werde in diesem alten Sandhaufen, wo einem alles Mögliche zustoßen kann? Wenn ich dich allein hätte ankommen lassen in diesem Gokral Sitarun, dich kleines, verlassenes Ding, das wäre doch eine frostige Geschichte gewesen? Wie frostig, das weiß ich erst, seit ich hier bin und gesehen habe, was für eine Gegend das ist!«

»Warum sagtest du mir nicht, daß du hierher kommen werdest?«

»Bei unserm letzten Zusammensein hast du nicht sonderlich viel Teilnahme für mein Thun und Lassen verraten!«

»Nick!! Ich wollte dich nicht hier haben und ich mußte doch her.«

»Und jetzt bist du ja da! Hoffentlich gefällt dir's,« bemerkte er spitzig.

»Ist es wirklich so schlimm, Nick?« fragte sie. »Nicht, als ob mich das im geringsten erschreckte . . .«

»Schlimm! Erinnerst du dich an Mastodon?«

Mastodon war eine jener Städte des Westens, die ihre Zukunft hinter sich haben, eine vollständig aufgegebene, verlassene Stadt ohne einen einzigen Bewohner.

»Nimm Mastodons Oede und Leadvilles Ruchlosigkeit – die Ruchlosigkeit im ersten Jahr des Entstehens – dann hast du etwa einen Begriff von den Zuständen hier, einen schwachen freilich, denn es ist um neun Zehntel schlimmer.«

Tarvin entwarf nun ein Bild der Verhältnisse der Vergangenheit, Politik und Gesellschaft von Gokral Sitarun, das von seinem persönlichen Standpunkt aus aufgenommen war, und er ging dabei mit dem toten, erstarrten Osten ins Gericht, wie nur das Lebensgefühl des werdenden amerikanischen Westens ins Gericht gehen konnte. Sein Thema erfüllte und erregte ihn; er war glücklich, zu jemand sprechen zu können, der seinen Standpunkt wenigstens begriff, wenn auch nicht vollständig teilte. Der Ton, den er anschlug, lud Käte ein, doch auch ein wenig mit ihm zu lachen, und sie lachte aus Gefälligkeit, aber nur ein klein wenig, dann bemerkte sie, daß ihr diese Zustände mehr traurig als belustigend vorkämen.

Darin gab er ihr ja vollkommen recht, fügte aber hinzu, daß er nur lache, um nicht weinen zu müssen. Er sagte, es gehe ihm auf die Nerven, die Trägheit, Starrheit, Leblosigkeit dieses reichen, stark bevölkerten Landes nur mitanzusehen, eines Landes, das von Rechts wegen blühen und gedeihen müßte, eines Volkes, das Handel treiben, Erfindungen machen, sich rühren könnte, neue Städte gründen, die alten erhalten und für die Neuzeit brauchbar machen, Schienen legen, Unternehmungen beginnen sollte, daß es eine Art hätte.

»Sie haben Hilfsquellen genug,« versicherte er, »sie können sich gar nicht darauf hinausreden, das Land sei arm. Das Land ist recht! Versetze die Einwohnerschaft einer rührigen Stadt in Colorado nach Rhatore, gib ein gutes Lokalblatt heraus, organisiere eine Handelskammer, teile der Welt mit, was hier los ist und du wirst in sechs Monaten einen Aufschwung erleben, daß dem indischen Kaiserreich Hören und Sehen vergeht! Aber was kann man mit diesen Leuten hier anfangen? Sie sind tot, sind Mumien, hölzerne Götzenbilder! In diesem ganzen Gokral Sitarun ist nicht genug echte altmodische Energie, Umtriebigkeit, nicht genug Schwung und Regsamkeit, um einen Milchwagen in Bewegung zu setzen!«

»Ja, ja,« murmelte Käte mit leuchtenden Augen vor sich hin, »deshalb bin ich ja gekommen.«

»Wieso? Du?«

»Weil sie nicht sind wie wir,« versetzte sie, ihm ein verklärtes Gesicht zukehrend. »Wenn sie klug und gewandt und weise wären, wozu hätten sie uns nötig? Weil sie thörichte, dumpfe, hilflose Geschöpfe sind, deshalb brauchen sie uns, deshalb« – sie atmete tief auf – »thut es wohl, hier zu sein.«

»Es thut wohl, dich hier zu haben, soviel ist richtig,« bemerkte Tarvin.

Sie schreckte zusammen.

»Bitte, bitte, Nick, komm mir nicht mit solchen Reden!«

»Wie du befiehlst,« brummte er mißgestimmt.

»Du mußt mich recht verstehen, Nick,« sagte sie ernst, aber nicht unfreundlich. »Ich gehöre solchen Dingen nicht mehr an, nicht einmal die Möglichkeit davon darf mich streifen! Betrachte mich wie eine, die den Schleier genommen hat, betrachte mich als Klosterschwester, die jedem Glück bis auf das Glück ihrer Arbeit auf ewig entsagt hat!«

»Hm – erlaubst du, daß ich rauche?«

Sie nickte, und er steckte seine Zigarre in Brand.

»Freut mich, daß ich hier bin, der Zeremonie wegen.«

»Was für eine Zeremonie meinst du?«

»Nun, ich kann ja zusehen, wenn du den Schleier nimmst. Du wirst es aber nicht thun.«

»Und warum nicht?«

Er brummte etwas Unverständliches und blies Rauchringe in die Luft, dann blickte er auf.

»Weil ich sehr triftige Gründe habe, daran zu zweifeln. Ich kenne dich, ich kenne Rhatore und ich kenne . . .«

»Was noch? Wen noch?«

»Mich,« versetzte er.

Sie legte ihre Hände im Schoß zusammen.

»Nick,« sagte sie, sich aus der Hängematte beugend, »du weißt, daß ich dich gern habe, viel zu gern, um dich auch fernerhin denken zu lassen – du sprachst davon, du könntest nicht mehr schlafen. Meinst du denn, ich könne schlafen, wenn ich immerfort denken muß, du liegest wach vor Schmerz und Enttäuschung, die ich nicht lindern kann, außer indem ich dich bitte, fortzugehen! Und darum bitte ich dich von ganzem Herzen!«

Tarvin sog nachdenklich an seiner Zigarre.

»Mein liebes Kind,« sagte er nach eine Weile, »ich fürchte mich nicht.«

Sie wandte sich ab und blickte seufzend auf die endlose Wüste hinaus.

»Ich wollte, du wüßtest was Furcht ist!« sagte sie mutlos.

»Furcht ist ein Gefühl, das der Gesetzgeber nicht kennen darf,« versetzte er im Rednerton.

Sie fuhr rasch herum und sah ihn an.

»Gesetzgeber! O Nick, bist du . . .«

»Gewählt? Ja, ich bedaure, dir es sagen zu müssen, mit einer Mehrheit von 1518 Stimmen« – damit reichte er ihr das Telegramm.

»Mein armer Papa!«

»Nun, ich weiß nicht . . .«

»Ach! Ich gratuliere dir natürlich von Herzen!«

»Danke schön.«

»Aber ich zweifle, ob es das Richtige für dich ist.«

»Ja, daran zweifle ich auch! Wenn ich die ganze Sitzungsperiode hier zubringe, werden meine Wähler bei meiner Rückkehr wahrscheinlich nicht in der Laune sein, meine politische Laufbahn sehr zu fördern!«

»Um so mehr Grund . . .«

»Nicht wie du meinst! Um so mehr Grund, die Hauptsache in Ordnung zu bringen, sage ich dir. In der Politik kann ich jederzeit festen Fuß fassen, aber bei dir festen Fuß zu fassen, Käte, dazu ist nur jetzt die Zeit, jetzt und hier

Er stand auf und beugte sich über sie.

»Meinst du, ich könne das auf später aufschieben, Käte? Nein, von einem Tag zum andern will ich mich ja gedulden, will es frohen Mutes thun, und du sollst nichts mehr davon hören, bis du bereit bist. Du hast mich ja gern, Käte, ich weiß es, und ich – nun ich habe dich sehr lieb, und wenn sich zwei Menschen lieb haben, so endet die Geschichte wie sie enden muß. Jetzt adieu« – er reichte ihr die Hand – »morgen hole ich dich ab und führe dich in die Stadt!«

Käte sah der entschwindenden Gestalt lange nach, dann zog sie sich ins Haus zurück, und ein Plauderstündchen mit Frau Estes, wobei wesentlich von den Kindern in Bangor die Rede war, half ihr zu einer verständigeren, gesünderen Anschauung der Lage, die durch Tarvins Anwesenheit nun einmal gegeben war. Sie sah, daß er entschlossen war zu bleiben, und wenn sie den Ort nicht verlassen wollte, mußte sie den rechten Weg finden, diese Thatsache mit ihren Plänen zu vereinigen. Seine Hartnäckigkeit erschwerte ein Unternehmen, das sie sich sowieso nicht leicht gedacht hatte, und weil sie gewöhnt war, unverbrüchlich an sein Wort zu glauben, war sie auch im stande, sich auf sein Versprechen »des Artigseins« zu verlassen. Faßte man den Begriff ein wenig weit, so bedeutete es für Tarvin wirklich viel, am Ende das Höchste, was sie fordern konnte.

Alles reiflich überlegt, blieb ihr ja immer noch die Möglichkeit zu fliehen, aber sie fühlte zu ihrer Schande, daß eine furchtbare Anwandlung von Heimweh sie am nächsten Morgen zu ihm hinzog und ihr seine heitere Gegenwart sehr willkommen erscheinen ließ. Frau Estes war ja die Güte selbst, die beiden Frauen hatten sich sofort zu einander hingezogen gefühlt und herzliche Freundschaft geschlossen, aber ein Gesicht aus der alten Heimat war doch noch etwas andres, und vielleicht war ihr gerade Nicks Gesicht besonders viel wert. Jedenfalls lehnte sie die von ihm vorgeschlagene Führung durch die Stadt keineswegs ab.

Tarvin brachte bei diesem Gang den Vorsprung von zehn Tagen, den er in der Bekanntschaft mit Rhatore hatte, gehörig zur Geltung; er warf sich ganz zum Führer auf, zeigte ihr die Gebäude und die Aussicht und gab die aus zweiter Hand gewonnene Einsicht in die Verhältnisse mit einer Sicherheit von sich, um die ihn mancher im Dienst ergraute englische Beamte hätte beneiden können. Die Fragen der indischen Politik trug er auf dem Herzen, als ob ihm die Lösung aller Schwierigkeiten auferlegt wäre – war er denn nicht Mitglied eines gesetzgebenden Körpers und als solches in allen Dingen zuständig? Die rastlose und praktische Neugierde, womit er allem zu Leib ging, was ihm neu war, hatte ihm in diesen zehn Tagen wirklich viel Belehrung über Rhatore und Gokral Sitarun eingetragen und setzte ihn jetzt in die Lage, dieser Käte, die noch so ganz Neuling war, alle Wunder und Geheimnisse der winkeligen Gäßchen zu erklären, auf deren dickem Sand die Fußtritte von Menschen wie Kamelen nur gedämpft erklangen. Bei der fürstlichen Menagerie ausgehungerter Tiger hielten sie sich länger auf, auch verweilten sie vor den Käfigen der zwei zahmen Jagdleoparden, die Kappen trugen wie die Falken und gähnend und scharrend auf ihren Lagerstätten am Hauptthor der Stadt ruhten. Und er zeigte ihr auch die gewichtige Thüre des großen Stadtthors, die, zum Schutz gegen Angriffe des lebendigen Sturmbocks, des Elefanten, mit fußlangen Stacheln gespickt war. Dann führte er sie durch die lange Reihe dunkler Kauflädchen, der Bazars, die sich in zerfallenen Palästen eingenistet haben, deren Erbauer längst vergessen sind. Sie besuchten die zerstreut liegenden Baracken, wo sie ins Gewimmel phantastisch herausgeputzter Soldaten gerieten, die ihre Markteinkäufe am Flintenlauf baumeln ließen, und das Mausoleum der Beherrscher von Gokral Sitarun im Schatten des großen Tempels, wo die Kinder der Sonne und des Monds ihre Andacht verrichten, und wo der glattpolierte schwarze Stier über den quadratischen Platz hinüberstarrte nach dem billigen Bronzedenkmal von Oberst Nolans Amtsvorgänger, einem herausfordernd energischen und herausfordernd häßlichen Herrn aus Yorkshire. Schließlich sahen sie sich außerhalb der Mauern die geräuschvolle Karawanserai vor dem Thor der drei Gottheiten an, von wo die Kamele mit ihrer glitzernden Last von Steinsalz den Weg zur Eisenbahn antraten und wo bei Tag und Nacht in Mäntel gehüllte Reiter mit Kinnbändern einkehrten, deren Sprache kein Mensch verstehen konnte und die mit Gott weiß welcher Geschwindigkeit von jenseits der weißen Hügel von Jensulmir einherjagten.

Unterwegs erkundigte sich Tarvin auch angelegentlich nach Topaz. Wie sie es verlassen habe? Wie die liebe alte Stadt aussehe? Käte erinnerte ihn daran, daß sie ja schon drei Tage nach ihm abgereist sei.

»Drei Tage! Drei Tage sind eine lange Zeit im Leben einer wachsenden Stadt!« rief Tarvin.

»Ich habe keine Veränderungen bemerkt in diesen drei Tagen,« sagte Käte lächelnd.

»Keine? Peters hatte doch gesagt, er wolle gerade am Tag nach meiner Abreise die Grabarbeiten für sein Backsteingasthaus in der G.-straße anfangen lassen, und Parsons erwartete eine neue Dynamomaschine für das städtische Elektrizitätswerk. In der Massachusettsstraße wollte man mit dem Nivellieren beginnen und auf meinem Grundstück von dreiundzwanzig Morgen sollte gerade an dem Tag der erste Baum gepflanzt werden. Kearney wollte ein neues Schaufenster von Spiegelglas in seinem Droguengeschäft einsetzen, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn die neuen Briefladen, die Maxim in Meridan bestellt hatte, auch noch vor deiner Abreise angekommen wären – ist dir nichts aufgefallen?«

Käte schüttelte den Kopf.

»Ich hatte in den Tagen an andres zu denken, Nick.«

»Hm – ich hätt's gern gewußt! Aber es ist ja einerlei – es ist wohl zu viel verlangt von einem Mädchen, daß sie neben ihren eigenen Angelegenheiten die Verbesserungen der Stadt im Auge behalten solle,« setzte er entschuldigend hinzu. »Frauen sind nun einmal nicht so geschaffen – ich habe gleichzeitig einen Wahlkampf und verschiedene Geschäfte und noch etwas ganz andres im Kopf und im Herzen haben müssen . . .«

Er lächelte Käte pfiffig an und sie drohte ihm mit dem Finger.

»Ja so, ein verbotener Gesprächsgegenstand! Gut, gut, ich will ganz gewiß artig sein! Aber wenn einer gewollt hätte, daß ich etwas nicht merke, der hätte früh aufstehen müssen! Was haben denn deine Eltern gesagt, als es nun ernst wurde, Käte?«

»O bitte, sprich mir nicht davon!«

»Wie du befiehlst.«

»Wenn ich manchmal bei Nacht plötzlich aufwache und an die Mutter denken muß, das ist furchtbar. . . . Ich glaube fast, ich hätte zu allerletzt noch fahnenflüchtig werden können, wenn jemand das rechte – oder auch das unrechte Wort gesprochen hätte, so war mir's zu Mut, als ich in den Zug stieg und ihnen das letzte Lebewohl zuwinkte!«

»Ich Narr! Warum war ich nicht da!« stöhnte Tarvin.

»Du hättest das Wort nicht sprechen können, Nick,« versetzte sie ruhig.

»Aber dein Vater, willst du sagen. Ja, wenn er zufällig ein andrer wäre, würde er's gekonnt und gethan haben! Wenn ich daran denke, möchte ich . . .«

»Sag nichts gegen meinen Vater!« rief sie mit zitternden Lippen.

»O mein liebes Kind!« murmelte er, sich mühsam beherrschend. »Das wollte ich ja nicht . . . sag mir, über wen ich losziehen soll . . . irgend jemand muß ich verwünschen, dann will ich Ruhe geben!«

»Nick!!«

»Nun, ich bin eben kein Holzblock,« brummte er.

»Nein, nur ein sehr, sehr thörichter Mann!«

Tarvin lächelte.

»Nun bist du's, die schimpft!« bemerkte er.

Um auf etwas andres zu kommen, erkundigte sich Käte nach dem Maharadscha Kunwar, und Tarvin schilderte ihr das seltsame Kerlchen und meinte, es wäre gut bestellt, wenn die übrige Gesellschaft in Rhatore nicht schlechter wäre.

»Du solltest Sitabhai sehen!«

Er erzählte ihr dann ausführlich vom Maharadscha und den Leuten im Palast, mit denen sie ja in Berührung kommen mußte. Sie besprachen die seltsame Mischung von Lebensüberdruß und Kindlichkeit in diesem Volk, die auch Käte schon beobachtet hatte, und sprachen über die Ursprünglichkeit seiner Neigungen, die Einfalt seiner Anschauungen – einfältig und einheitlich wie der ganze Orient.

»Sie sind nicht, was wir gebildet nennen. Von Ibsen wissen sie rein nichts und aus Tolstoi machen sie sich so wenig als aus sauren Aepfeln,« bemerkte Tarvin, der nicht umsonst in Topaz seine drei Zeitungen am Tag gelesen hatte. »Wenn sie die moderne Frau wirklich zu Gesicht bekämen und begreifen könnten, ich glaube sie wäre ihres Lebens keine Stunde mehr sicher! Aber sie haben doch auch ganz richtige Ideen, ausgezeichnete, altmodische Grundsätze, ungefähr dieselben, die mir auf meiner Mutter Knieen im fernen Staat Maine eingeimpft wurden. Meine Mutter glaubte nämlich an die Ehe, mußt du wissen, und darin stimme ich mit ihr überein und zugleich mit den altmodischen Indern. Diese ehrwürdige, hausbackene, wurmstichige Einrichtung, dieser überwundene Standpunkt steht hier noch in hohem Ansehen.«

»Habe ich je gesagt, daß ich Nora recht gebe, Nick?« rief Käte, seinem Gedankengang im Sprung folgend.

»So? Nun, dann hast du ja auch wenigstens einen Punkt mit dem indischen Reich gemein. Das ›Puppenheim‹ würde in diesem gesegneten, altväterischen Land einfach abgelehnt werden, es fände keinen Raum.«

»Aber alle deine Ansichten teile ich darum doch nicht,« fühlte sie sich gedrungen hinzuzusetzen.

»Von einer weiß ich das sehr genau,« versetzte er mit einem pfiffigen Lächeln. »Gerade zu der will ich dich aber bekehren!«

Käte blieb mitten in der Straße stehen.

»Und ich hatte dir vertraut, Nick!« sagte sie vorwurfsvoll.

Tarvin blieb auch stehen und sah ihr wehmütig in die anklagenden Augen.

»O Gott!« seufzte er. »Ich hatte mir auch mehr zugetraut, aber ich muß eben immer daran denken. Was kannst du auch andres von mir erwarten? Aber ich will dir etwas sagen, Käte, dies soll das letzte Mal gewesen sein – endgültig, unwiderruflich. Ich schließe ab damit – von heute an bin ich ein bekehrter Sünder. Nicht mehr daran zu denken, gelobe ich dir nicht, und weiter fühlen muß ich, ob ich will oder nicht. Aber ich will schweigen – meine Hand darauf.«

Damit reichte er ihr die Hand und Käte faßte sie. Dann gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Tarvin in trübseligem Ton fragte: »Heckler hast du wohl unmittelbar vor der Abreise nicht mehr gesehen, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dachte mir's. Du und er, ihr wart ja nie dicke Freunde.«

»Soviel ich weiß, nahm man an, du seiest nach San Francisco gefahren, um persönlich mit einigen Direktoren der Central-Colorado-California-Linie zu verhandeln. Man nahm das an, weil der Schaffner deines Zugs die Nachricht verbreitete, du seiest nach Alaska gereist, und daran wollte niemand glauben; was die Wahrheitsliebe betrifft, scheinst du keinen guten Leumund in Topaz zu haben, Nick, das thut mir sehr leid!«

»Mir auch, mir auch, Käte!« rief Tarvin mit Ueberzeugung. »Aber wenn man mir alles glaubte, wie sollte ich's dann fertig bringen, den Leuten etwas weis zu machen? Ich wollte, daß sie mich in San Francisco vermuten sollten, für ihre Interessen thätig. Wenn ich aber das durch den Schaffner hätte ausstreuen lassen, so würde man vor Abend behauptet haben, ich kaufe in Chile Land auf! Dabei fällt mir ein – wenn du nach Hause schreibst, so erwähne, bitte, nicht, daß ich hier bin. Vielleicht bringen sie's auch heraus – nach den Gesetzen des Widerspruchs, aber ich will ihnen keinen Anhaltspunkt geben.«

»Du kannst ruhig sein, ich erwähne es gewiß nicht,« versicherte Käte, die dabei sehr rot wurde.

Gleich nachher kam sie wieder auf ihre Mutter zu sprechen. In der heißen Sehnsucht nach der Heimat, die inmitten der fremdartigen Welt, die Tarvin ihr zeigte, aufs neue in ihr aufstieg, schnitt ihr der Gedanke an die Mutter, die einsam und sehnsüchtig, geduldig auf ein Wort von ihr wartete, durchs Herz wie in der Stunde der Trennung. Die Erinnerung war ihr in diesem Augenblick so schmerzlich, daß sie nicht schweigend damit fertig wurde, aber als Tarvin dann fragte, warum sie denn fortgegangen sei, wenn sie so empfinde, versetzte sie mit dem Mut ihrer guten Stunden: »Warum zieht der Mann in den Krieg?«

In den nächsten Tagen sah Käte nicht viel von Tarvin. Frau Estes führte sie im Palast ein, und da gab es genug des Neuen, um Herz und Gedanken auszufüllen. Beklommen tastete sie in einem Reich umher, wo ewiges Zwielicht herrscht, suchte ihren Weg in den Irrgärten von Gängen, Treppen, Höfen, Geheimthüren, wo verschleierte Frauen an ihr vorüberstreiften, sie anstarrten und hinter ihrem Rücken über sie lachten, oder mit kindischer Neugier ihr Kleid, ihren Hut, ihre Handschuhe befühlten. Sie verzweifelte daran, sich jemals auch nur im kleinsten Teil dieses ungeheuren Bienenstocks zurechtzufinden, in dem Dämmerlicht die blassen Gesichter der Frauen unterscheiden zu lernen, die sie durch lange Reihen leerer Zimmer führten, wo der Wind allein unter dem glitzernden Deckenschmuck seufzte, und hinauf in schwebende Gärten, zweihundert Fuß über der Stadt, und doch noch neidisch von hohen Mauern eingefaßt, und aus der strahlenden Helle der flachen Dächer über nicht enden wollende Treppen hinab in stille unterirdische Gemächer, die man aus Furcht vor der Hitze sechzig Fuß tief in den Felsen gehauen hatte. Und auf Schritt und Tritt Frauen und Kinder und abermals Kinder und Frauen! Man schätzte die Einwohnerschaft des Palastes auf viertausend lebende Seelen: wie viele tot und begraben darin lagen, wußte kein Mensch zu sagen.

Viele von den Frauen – wie viele, das hätte sie nicht sagen können – weigerten sich, durch Gerede und Gerüchte verhetzt, unbedingt, Kätes Hilfeleistungen anzunehmen. Sie seien nicht krank, erklärten sie, und die Berührung der weißen Frau sei befleckend. Andre vertrauten ihr die Kinder an und baten sie, den schwächlichen, im Dunkel aufgewachsenen Pflänzchen Farbe und Frische zu verschaffen, und glutäugige Mädchen stürzten aus der Dämmerung auf sie los mit leidenschaftlichen Klagen, die sie nicht verstand, nicht zu verstehen wagte. Von den Wänden der kleinen Stübchen starrten ihr häßliche anstößige Bilder entgegen und unzüchtige Götter grinsten sie aus schauerlichen Nischen über den Thüren höhnisch an. Die heiße Luft, Küchen- und Weihrauchdüfte, die unbeschreibliche Ausdünstung der dicht zusammengepferchten Menschheit benahmen ihr oft den Atem, aber was sie zu hören bekam und erraten lernte, war widerlicher als alle mit den Sinnen wahrnehmbaren Greuel. Es war entschieden etwas ganz andres um den heldenmütigen Entschluß, dem im Geist geschauten Elend indischer Frauen ihr Mitgefühl, ihr Leben zu weihen, und der unbeschreiblichen Wirklichkeit in der Abgeschlossenheit der Frauengemächer von Rhatore gegenüberzutreten.

Tarvin erforschte mittlerweile das Land nach einem selbst ersonnenen System. Es beruhte auf Ausnutzung der Möglichkeiten nach Maßstab ihrer Bedeutung – alles, was er unternahm, stand in ursächlichem, wenn auch nicht immer erkennbarem Zusammenhang mit seinem Zweck und Ziel, dem Naulahka.

In den fürstlichen Gärten, wo unzählige, nur selten bezahlte Gärtner mit Wasserschläuchen und Gießkannen gegen die zerstörende Gewalt der Hitze ankämpften, konnte er ungehemmt aus und ein gehen. Er hatte auch freien Zutritt zum Leibstall des Maharadscha, wo achthundert Pferde allnächtlich auf der Streu lagen, und konnte zusehen, wenn sie am Morgen zu je vierhundert in einer Staubwolke zur Morgenarbeit ausrückten. Die äußeren Palasthöfe standen ihm uneingeschränkt offen, er konnte der Toilette der Elefanten beiwohnen, wenn der Maharadscha einen Staatsumzug hielt, konnte mit der Wache plaudern und lachen und sich an drachenköpfigen, schlangenhalsigen Geschützen erbauen, die von eingeborenen Kunsthandwerkern erfunden waren, denen hier im fernen Osten die Mitrailleuse gedämmert haben mußte. Aber in das Gebiet, wo Käte weilte, durfte er keinen Fuß setzen. Er wußte, daß ihr Leben in Rhatore so sicher war wie in Topaz, aber als sie zum erstenmal, zuversichtlich und ohne Zaudern hinter dem teppichverhangenen Eingang zum Frauenpalast verschwand, fuhr seine Hand unwillkürlich nach dem Griff seines Revolvers.

Der Maharadscha war ein guter Kamerad und ein vortrefflicher Pachisispieler, aber als Tarvin ihm eine halbe Stunde nach jenem Verschwinden gegenüber saß, überlegte er sich doch, daß er des Maharadscha Leben keiner Versicherungsgesellschaft empfehlen möchte, falls seiner Liebe etwas zu Leid geschähe in dem geheimnisvollen Reich, aus dem außer Flüstern und Rascheln kein Laut in die Außenwelt drang. Als Käte späterhin wieder heraustrat, wobei der Maharadscha Kunwar an ihrem Arm hing, war ihr Gesicht blaß und verzerrt, in ihren Augen funkelten Thränen der Entrüstung. Sie war sehend geworden.

Tarvin eilte an ihre Seite, aber sie wies ihn mit der herrischen Gebärde von sich, die allen Frauen in tiefer Erregung zu Gebot steht, und flüchtete sich zu Frau Estes.

Es war ihm, als ob er mit rauher Hand aus ihrem Leben hinausgedrängt worden wäre, und der Maharadscha Kunwar traf ihn am Abend, wie er mit großen Schritten auf der Veranda des Rasthauses hin und her ging, beinah bereuend, daß er den Maharadscha, den eigentlichen Urheber jenes Schreckensausdrucks in Kätes Augen, nicht niedergeschossen hatte. Mit einem tiefen Atemzug dankte er seinem Schöpfer dafür, daß er hier war, um sie zu bewachen, zu verteidigen, im Notfall mit Gewalt fortzubringen. Ihn schauderte, wenn er sich Käte hier allein vorstellte, einzig auf Frau Estes' Beistand aus der Ferne angewiesen.

»Ich habe etwas für Käte gebracht,« sagte der Prinz vorsichtig aus dem Wagen steigend, denn er hielt einen Pack, der seine beiden Arme ausfüllte. »Komm mit mir zu ihr!«

Nichts Schlimmes ahnend, fuhr Tarvin mit seinem kleinen Freund zum Missionshaus.

»Alle Leute in meinem Palast sagen, daß sie deine Käte sei,« bemerkte er unterwegs.

»Freut mich, daß die Herrschaften das gemerkt haben!« brummte Tarvin ingrimmig in sich hinein.

»Was hast du denn da?« fragte er den Knaben laut, indem er die Hand auf den sorglich gehüteten Pack legte.

»Das ist von meiner Mutter, der Königin. Das ist die wirkliche Königin, weißt du, ich bin ja der Prinz. Ich muß auch etwas bestellen.«

Nach Kinderart begann er, seinen Auftrag leise vor sich hin zu flüstern, um ihn ja nicht zu vergessen.

Käte saß auf der Veranda, als der Wagen anfuhr, und ihr trauriges Gesicht hellte sich beim Anblick des Knaben ein wenig auf.

»Die Wache soll nicht in den Garten treten – auf der Straße warten!«

Wagen und Gefolge zogen sich auf diesen Befehl zurück. Der Maharadscha Kunwar streckte Käte das Paket hin, ohne Tarvins Hand dabei loszulassen.

»Es ist von meiner Mutter,« begann er. »Du hast sie ja gesehen. Dieser Mann kann bleiben: er ist« – er suchte ein wenig nach dem Ausdruck – »von Deinem Herzen, nicht wahr? Deine Rede ist seine Rede?«

Käte errötete, aber sie machte keinen Versuch, das Kind zu widerlegen – was hätte sie auch sagen können?

»Und das soll ich dir sagen, zuerst vor allem, bis du es ganz verstehest.«

Das Kind strich sich die baumelnden Smaragden aus der Stirne, richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und sprach zögernd, die ihm eingeprägten Worte aus der heimischen Mundart ins Englische übertragend: »Meine Mutter die Königin – die wirkliche Königin – sagt: ›Drei Monate habe ich daran gearbeitet. Es ist für dich, weil ich dein Angesicht gesehen habe. Was ich gemacht, kann wieder zertrennt werden, und einer Zigeunerin Hände zerstören alles. Bei den Göttern beschwöre ich dich, achte darauf, daß eine Zigeunerin nicht zerstört, was ich gemacht habe, denn mein Leib und meine Seele wohnen darin. Bewahre und schütze mein Werk, das von mir kommt – ein Gewand, daran ich neun Jahre gewebt habe!‹ – Ich kann besser englisch als meine Mutter,« setzte der Knabe im Alltagston hinzu.

Käte öffnete das Paket und entfaltete ein ungeschickt gestricktes Umschlagtuch von grober schwarzer Wolle mit gelben Streifen und schreiend roten Fransen – mit solchen Handarbeiten füllten in Gokral Sitarun Königinnen ihre müßigen Stunden aus.

»Das ist alles,« sagte der Maharadscha Kunwar, ohne sich indes zum Gehen anzuschicken.

Käte drehte die armselige Gabe hin und her und fand keine Worte; die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Der Knabe, der Tarvins Hand noch keinen Augenblick losgelassen hatte, fing plötzlich an, die Botschaft feierlich Wort für Wort zu wiederholen, und seine schmale Hand krampfte sich dabei förmlich um Tarvins Finger.

»Sag deiner Mutter, daß ich ihr sehr dankbar sei,« erwiderte Käte verwirrt und befangen mit unsicherer Stimme.

»Das war die rechte Antwort nicht,« sagte der Knabe mit einem hilfesuchenden Blick auf seinen hochgewachsenen Freund, den neuen Engländer.

Das müßige Geschwätz der Handlungsreisenden auf der Veranda des Rasthauses kam Tarvin in den Sinn, und einen Schritt vortretend, legte er die Hand auf Kätes Schulter und flüsterte dicht an ihrem Ohr: »Begreifst du nicht, was sie meint? Des Knaben Leben – das Gewand, woran sie neun Jahre gewebt hat!«

»Aber was kann ich thun?« stöhnte Käte in tiefster Seele erschrocken.

»Ihn bewachen, ihn ohne Aufhören bewachen! Du begreifst doch sonst so rasch – Sitabhai trachtet ihm nach dem Leben. Du sollst sorgen, daß sie ihm kein Leid anthut.«

Jetzt dämmerte Käte einiges Verständnis – der erste Tag in dem grauenvollen Palast hatte ihr Möglichkeiten genug gezeigt, warum nicht auch die eines Kindermords? Sie hatte schon einen Begriff bekommen von dem Haß zwischen kinderlosen Frauen und den Müttern von Königen! Bewegungslos stand der Maharadscha Kunwar; die Juwelen an seiner Kleidung funkelten im Zwielicht.

»Soll ich's noch einmal sagen?« fragte er.

»Nein, nein, nein, Kind! O nein!« schrie Käte förmlich auf, indem sie auf den Knieen zu ihm hinrutschte und die kleine Gestalt in überwallendem zärtlichem Mitleid an ihre Brust preßte.

»O Nick, was sollen wir beginnen in diesem gräßlichen Land?« rief sie, in Thränen ausbrechend.

»Ach!« sagte der Knabe vollständig unbewegt. »Wenn ich dich weinen sehe, soll ich gehen!«

Mit heller Stimme nach seiner Leibwache und dem Wagen rufend, ging er die Stufen hinunter. Das häßliche wollene Tuch blieb am Boden liegen.

Schluchzend saß Käte in der jäh hereingebrochenen Dunkelheit. Weder Estes noch seine Frau waren in der Nähe. Das kleine Wörtchen »wir«, das sie in ihrem Jammer ausgestoßen hatte, war für Tarvin eine beseligende Offenbarung gewesen. Er beugte sich über sie und umschlang sie mit seinen Armen; Käte stieß ihn nicht zurück.

»Wir werden's miteinander durchkämpfen, mein kleines Mädchen!« flüsterte er, ihr bebendes Köpfchen an seiner Schulter bettend.


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