Rudyard Kipling und Wolcott Balestier
Naulahka, das Staatsglück
Rudyard Kipling und Wolcott Balestier

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Zwölftes Kapitel.

Als er sich vom König verabschiedet hatte, wäre Tarvin am liebsten auf seinem Foxhallhengst im Galopp davon geritten, um das Naulahka zu suchen. Mechanisch wandte er sich seiner Wohnstätte zu und zog, in Gedanken verloren, die Zügel scharf an, eine Ungehörigkeit, die ihm der Hengst rasch zum Bewußtsein brachte. Das rief ihn in die Wirklichkeit zurück und lehrte ihn, sein Pferd und sein eigenes Ungestüm zu gleicher Zeit zügeln.

Tarvin war schon so vertraut geworden mit indischen Benennungen, daß ihn der Ortsname »Kuhmaul« weiter nicht anfocht, aber daß ein Staatskleinod im Kuhmaul sein sollte, fand er etwas verwunderlich, und darüber wollte er sich bei Estes einige Aufklärung verschaffen.

»Diese Heiden,« sagte er sich, »sind ja ganz die Leute, es in einer Salzlecke zu verstecken oder in die Erde zu vergraben! Jawohl, ein Loch in der Erde, das ist so ungefähr ihr Stil! Diamanten bewahren sie in alten Blechbüchsen auf, die sie mit Schuhriemen zuschnüren, das Naulahka hängt möglicherweise an einem Baum.«

Während er jetzt auf das Missionshaus zutrabte, sah er sich seine Umgebung mit ganz neuem, erhöhtem Interesse an, denn jede Ritze zwischen den Erdwellen, jedes Haus in der winkeligen Stadt konnte ja den heiß begehrten Schatz enthalten!

Estes, der schon viele Seltenheiten genossen hatte und Radschputana kannte wie der Gefangene die Wände seiner Zelle, hatte auf Tarvins Frage eine wahre Flut von Belehrungen bereit. In ganz Indien gab es »Mäuler«, von dem »Brennenden Maul« im Norden an, wo eine Ausströmung von Erdgasen von Millionen gläubiger Seelen als Verkörperung der Gottheit angebetet wurde, bis zum »Teufelsmaul« unter einigen vergessenen buddhistischen Tempelruinen in der südlichsten Ecke von Madras. Ein »Kuhmaul« befand sich auch etliche hundert Meilen von hier in einem Tempelhof von Benares und hatte großen Zulauf der Gläubigen, aber soweit Radschputana in Betracht kam, konnte es sich nur eines Kuhmauls rühmen, und das befand sich in einer toten Stadt.

Und nun erging sich der Missionar weitläufig in einer Geschichte von Kriegen und Raubthaten, die mehrere Jahrhunderte umfaßte und als Mittelpunkt eine felsumgürtete Stadt in der Wildnis hatte, die einst Stolz und Ruhm der Könige von Mewar gewesen war. Tarvin hörte zu mit einer Geduld, so groß wie seine Ermüdung – die Geschichte der Vergangenheit war dem Mann, der seine Stadt in der Gegenwart errichtete, gar nicht wichtig –, während Estes sich über die Vorzeit verbreitete, die freiwillige Selbstvernichtung von Tausenden von radschputanischen Frauen schilderte, die sich in den unterirdischen Palästen mit eigenen Händen den Holzstoß geschichtet hatten, um nicht in die Gewalt der mohammedanischen Eroberer zu fallen, die wohl ihre Männer und Väter und Brüder hatten töten können, aber um den billigen Ruhm dieser Eroberung doch betrogen sein sollten. Estes fand viel Geschmack an der Archäologie, und es war ihm ein Genuß, seine Kenntnisse vor einem Landsmann zu entfalten.

Seine Angaben über die Reise nach Gye-Mukh lauteten, Tarvin müsse die sechsundneunzig Meilen nach Rawut wieder im Büffelkarren zurücklegen, dort treffe er einen Zug, der ihn siebenundsechzig Meilen westwärts zu einem Knotenpunkt befördere, wo er dann umsteigen und mit einer andern Linie hundertundzwanzig Meilen nach Süden fahren müsse. Dann sei er nur noch anderthalb Wegstunden von jener Stadt entfernt und möge sich ihren wunderbaren neunstöckigen Turm des Ruhmes wie die cyklopische Stadtmauer und die verlassenen Paläste wohl anschauen. Zwei Tage würden Hin- und Herreise mindestens kosten.

Als man so weit war, verlangte Tarvin eine Karte, die ihm auf den ersten Blick deutlich machte, daß Estes ihm zumutete, drei Seiten eines ungeheuren Quadrats zu umkreisen, wahrend eine spinnenfüßige Linie geradeaus von Rhatore nach Gunnaur lief.

»Das käme mir kürzer vor,« sagte Tarvin, den Strich verfolgend.

»Ist aber nur ein Feldweg, und von der Beschaffenheit indischer Straßen haben Sie ja einen Begriff. Siebenundfünfzig Meilen auf einer derartigen Straße in diesem Sonnenbrand, das könnte einem das Leben kosten!«

Tarvin lächelte; er kannte die Angst vor der Sonne noch nicht, der Sonne, die Jahr um Jahr seinem Gefährten etwas von der Lebenskraft geraubt hatte.

»Ich werde doch wohl hinreiten. Um halb Indien herumzufahren, nach einem Ziel, das mir gerade gegenüber liegt, hieße mir zuviel Zeit verschwenden, wenn es auch hierzulande Brauch sein mag.«

Er fragte weiter, wie denn das Kuhmaul eigentlich beschaffen sein möge, und Estes gab ihm archäologische, philologische und architekturgeschichtliche Erklärungen, aus denen für Tarvin wenigstens hervorging, daß es ein Loch sein müsse, ein sehr altes, ganz hervorragend altes Loch von besonderer Heiligkeit, schließlich aber eben doch nichts als ein Loch im Boden.

Tarvin beschloß, sofort dahin aufzubrechen, der Damm mochte warten, bis er zurückkam. Es war ohnehin zweifelhaft, ob des Königs Anwandlung von Begeisterung so weit reichen würde, daß er morgen seine Gefängnisse aufschließen ließe. Dann überlegte sich Tarvin, ob er den Maharadscha von seinem Vorhaben in Kenntnis setzen, oder erst das Naulahka besichtigen und hernach die Unterhandlungen anknüpfen solle. Da letzteres mehr in Geist und Brauch des Landes lag, entschied er sich dafür. Mit Estes' Karte in der Tasche, kehrte er ins Rasthaus zurück, um seinen Leibstall zu besichtigen. Wie jeder Westamerikaner rechnete Tarvin ein Pferd zur Notdurft des Lebens, und so hatte er sich gleich nach seiner Ankunft instinktmäßig eines angeschafft. Es war ihm dabei wohlthuend gewesen, alle Kniffe und Pfiffe der Roßhändler, mit denen er's je im Leben zu thun gehabt hatte, bei dem mageren, schwärzlichen Kabuli getreulich wiederzufinden, der ihm an einem unbeschäftigten Abend vor der Veranda des Rasthauses einen bockenden, ungebärdigen Gaul vorführte, und noch wohlthuender war es ihm gewesen, sich mit dem Kerl herumzubalgen, wie er sich daheim mit solchem Gelichter herumzubalgen pflegte. Das Ergebnis dieses in gebrochenem Englisch und äußerst nachdrücklichem Amerikanisch geführten Wortkampfes war der Ankauf eines unschönen, mausfarbigen Kathiavarhengstes von zweifelhaftem Ruf gewesen, der wegen Bosheit aus dem Dienst seiner Majestät entlassen worden war und sich mit der Hoffnung trug, auf seinen Lorbeeren ruhen zu dürfen, nachdem er das Leben mehr als eines Reitersmanns der irregulären Deolee-Kavallerie auf dem Kerbholz hatte. In Stunden, wo Tarvin um jeden Preis irgend etwas leisten, vornehmen mußte, hatte er ihm diesen Irrtum gründlich benommen, und wenn auch nicht gerade dankbar für Belehrung, so fand sich der Kathiavar doch mit Höflichkeit darein. Er führte bei seinem jetzigen Gebieter den Namen Fibby Winks, womit sein wenig kavaliermäßiges Betragen gekennzeichnet und eine Aehnlichkeit konstatiert werden sollte, die Tarvin zwischen dem schmalen, langen Pferdekopf und jenem Amerikaner fand, der ihm ein Recht streitig zu machen wagte.

Tarvin traf den Gaul in der Nachmittagssonne hinter dem Rasthaus schlafend und nahm ihm die Stalldecke ab.

»Wir wollen einen kleinen Spaziergang machen, Fibby,« kündigte er ihm an.

Der Kathiavar schnappte und wieherte unwirsch.

»Ja wohl, du warst von jeher ein Faulpelz, Fibby.«

Fibby wurde von dem aufgeregten eingeborenen Diener gesattelt und Tarvin holte indes aus seinem Zimmer eine Wolldecke, die er so zusammenrollte, als enthielte sie allerhand Lebensmittel. Fibby sollte sich seine Mahlzeiten selbst suchen. Dann machte er sich auf den Weg, so leichtherzig, als ob sich's um einen Spazierritt um die Stadtmauer gehandelt hätte. Es war jetzt gegen drei Uhr nachmittags. Tarvin war entschlossen, daß Fibby mit Hilfe der Sporen den ganzen unergründlichen Vorrat von Bosheit und Halsstarrigkeit daransetzen müsse, die siebenundfünfzig englischen Meilen in zehn Stunden zu bewältigen, falls der Weg annehmbar war. Fand es sich, daß er sehr schlecht war, so würde er ihm zwölf Stunden Zeit vergönnen. Auf dem Heimweg waren dann jedenfalls die Sporen entbehrlich. Heute nacht war Mondschein und Tarvin wußte schon genug von Feldwegen in Gokral Sitarun und Bergpfaden anderwärts, um sicher zu sein, daß ihm Straßenkreuzungen kein Kopfzerbrechen kosten würden.

Nachdem Fibby beigebracht worden war, daß man nicht von ihm verlangte, in drei Richtungen zumal, sondern nur in einer auszuschreiten, kaute er sich behaglich auf dem Gebiß ab, senkte den Kopf und begann kunstgerecht zu traben; da zog aber Tarvin die Zügel an und hielt ihm eine schöne Rede: »Du mußt nämlich wissen, Söhnchen, wir reiten nicht zum Vergnügen – vor Sonnenuntergang wirst du das vollständig begriffen haben. Nun hat dich irgend eine Kommißseele gelehrt, deine kostbare Zeit mit englischem Trab zu vergeuden. Wir werden uns im Verlauf unsres Unternehmens noch über verschiedene Punkte auseinandersetzen müssen, dieses aber muß jetzt schon klar werden; wir wollen nicht mit einem Frevel beginnen. Sei also so gut, Fibby, und laß das Traben und schreite aus wie ein braves, mannhaftes Roß von Natur geht.«

Dieser Vortrag genügte noch nicht vollständig, vielmehr hatte Tarvin noch einige Ergänzungen nötig, bis Fibby wirklich in den leichten Laufschritt verfiel, den Eingeborene des Ostens wie des Westens reiten und der weder Pferd noch Mann ermüdet. Nun dämmerte dem Tier wohl auch eine Ahnung, daß man eine lange Reise vorhabe, denn er ließ den Schwanz hängen und legte sich ordentlich ins Zeug.

Anfangs mußte er in eine Wolke sandigen Staubs schreiten, zwischen Baumwollfrachtwagen und ländlichen Karren, die sich rasselnd und knarrend nach der Bahnlinie von Gunnaur bewegten. Als die Sonne zu sinken begann, tanzte sein großer Schatten wie ein Gespenst über vulkanische Felsbrocken, die mit niederem Buschwerk oder da und dort mit einer Aloe bewachsen waren.

Die Fuhrleute spannten jetzt am Straßenrand ihre Zugtiere aus und schickten sich an, bei trüb glostenden Feuern ihre Abendmahlzeit zu bereiten und zu verzehren. Fibby spitzte die Ohren und schielte wehmütig nach den Lagerfeuern, hielt aber wacker aus in der wachsenden Dunkelheit und Tarvin roch den scharfen Saft des Kameldorns, den seine Hufe zerstampften. Hinter ihnen stieg der Mond in voller Herrlichkeit auf, und seinen lauernden Schatten folgend, überholte Fibby bald einen nackten Mann, der über der Schulter einen Stecken mit bimmelnden Glöckchen trug, und schweratmend und schweißtriefend vor einem andern zu fliehen schien, der ihn mit entblößtem Schwert verfolgte. Die beiden waren der Landpostbote und die ihm zum Schutz beigegebene Wache auf dem Weg nach Gunnaur. Das Gebimmel der Glöckchen verklang in der Ferne, und Fibby ging jetzt langsamer zwischen endlosen Reihen von Dorngesträuch hin, das verzweifelt die Arme zu den Sternen emporstreckte und Riesenschatten quer über die Straße warf. Ein Nachttier brach seitwärts aus dem Dickicht und Fibby schnaubte in Todesangst. Dann raschelte ein Stachelschwein gerade vor seinen Füßen über den Weg und verpestete die stille Luft eine ganze Strecke weit mit seinem Gestank. Ein Stück weiter tauchte ein Lichtschein auf; ein Büffelkarren war zusammengebrochen und die Treiber schliefen friedlich, um erst bei Tageslicht den Schaden zu untersuchen. Hier blieb Fibby einfach stehen und sein Herr weckte die Schläfer etwas unsanft, machte sie aber durch eine Rupie, die solchen Leuten ein Vermögen bedeutet, höchst willig, dem Pferd Futter und Wasser zu reichen. Tarvin lockerte ihm die Gurten und behandelte ihn so artig als möglich, und als Fibby sich neu gekräftigt wieder auf den Weg machte, war er zum zweitenmal voll guten Willens. Das Blut seiner Ahnherrn, ihre Abenteuerlust und Kühnheit schien sich in ihm zu rühren! Stammte er doch von einem Geschlecht, das gewöhnt war, seinen Herrn an einem Tag dreißig Seemeilen weit zu tragen, um, während eine Stadt eingeäschert wurde, angepflockt an eine Lanze, kurze Rast zu halten, und ehe die Asche der niedergebrannten Häuser verkühlt war, wieder zu stehen, von wannen man gekommen war. So hob nun Fibby mutvoll den Schweif, wieherte und setzte sich in Bewegung.

Die Straße führte nun meilenlang abwärts, kreuzte verschiedene ausgetrocknete Wasserläufe, einmal auch einen breiten seichten Fluß, wo Fibby einen ausgiebigen Trunk that und sich gern in einem Melonenbeet gewälzt haben würde, wenn ihn die scharfen Sporen nicht gleich wieder den jenseitigen Abhang hinaufgetrieben hätten. Das Land wurde von Viertelstunde zu Viertelstunde fruchtbarer, die Erdwellen breiter; im Licht des sinkenden Monds schimmerten die opiumtragenden Mohnfelder silberweiß, in dunkeln Wassern ragte das Zuckerrohr.

Aber Mohn und Zuckerrohr verschwanden jählings, als Fibby jetzt eine lange steile Böschung hinunterklettern mußte, mit weitgeöffneten Nüstern den Morgenwind witternd. Er wußte wohl, daß der Tag ihm Ruhe bringen würde. Tarvin folgte mit spähendem Blick der weißen Straßenlinie, die im sammetigen Dunkel niedrigen Buschwerks verschwand. Er überblickte von hier eine weite, von sanftgeschwungenen Hügellinien umrandete Ebene, die von seinem erhöhten Standpunkt aus so glatt erschien wie der Meeresspiegel. Und gleich der See trug sie auf ihrer Brust ein Schiff, einen gigantischen Monitor, der mit scharfgeschwungenem Bug in gerader Richtung von Norden nach Süden strebte. Es war ein Schiff, wie es noch kein Menschenauge erblickt hat, wohl zwei Meilen lang mit drei- bis vierhundert Fuß freien Raums auf Deck, einsam, schweigend, ohne Masten und Lichter, herrenlos auf der Erde treibend.

»Wir sind nah am Ziel, Fib, mein Junge,« sagte Tarvin, die Zügel anziehend und das gespenstische Ungeheuer im Sternenschein ermessend. »Wir wollen ihm so nah kommen, als wir können, und dann das Tageslicht abwarten, eh wir an Bord gehen.«

Das Pferd kletterte den mit scharfen Steinen und schlafenden Ziegen übersäten Abhang hinunter. Dann machte die Straße eine scharfe Biegung nach links und lief nun parallel mit der Längsseite des Schiffs, Tarvin aber trieb das Pferd rechts ab in einen kürzeren Fußpfad, wo das arme Tier kläglich zwischen Büschen und Wurzeln und einem ganzen Netzwerk bis zu sechs Fuß tiefer, vom Regen eingerissener Wasserrinnsale hinstolperte.

Endlich stöhnte Fibby in heller Verzweiflung laut auf, und jetzt erbarmte sich Tarvin seiner, stieg ab, band ihn an einen Baumstamm und ermahnte ihn, bis zur Frühstückszeit über seine Sünden nachzudenken. Er selbst war vom Sattel herab in ein ausgetrocknetes, stauberfülltes Wasserloch geraten, zehn Schritte weiter und das Buschwerk schlug über ihm zusammen, peitschte seine Stirn, hakte seine Dornen in seine Kleider ein und streckte seinen Knieen Luftwurzeln entgegen, die es fast unmöglich machten, den immer steiler werdenden Pfad zu erklimmen.

Schließlich arbeitete sich Tarvin auf Händen und Knieen rutschend weiter, von Kopf bis zu Fuß mit Staub und Erde und Laub überzogen, kaum mehr zu unterscheiden von den Wildschweinen, die da und dort wie schieferfarbige Schatten durch das Dickicht schlüpften, nach nächtlichem Raubzug ihre Ruhestätten aufzusuchen. Viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich durch ihr Grunzen stören zu lassen, stemmte und schwang er sich in die Höhe, die Wurzeln schüttelnd, als ob er das Naulahka aus den Tiefen der Erde zu Tag fördern wollte, und bei jedem Ruck und Tritt gotteslästerlich fluchend. Als er endlich einen Augenblick stille hielt, um sich den Schweiß von der Stirne zu wischen, entdeckte er mehr durch Betastung als mit dem Auge, daß er dicht am Fuß einer Mauer in die Kniee gesunken war, die bolzgerade bis zu den Sternen aufzusteigen schien. Aus dem Dickicht unter ihm erklang Fibbys klägliches Wiehern.

»Dir thut nichts weh, mein Sohn,« sagte Tarvin, nach Luft schnappend und das dürre Gras ausspeiend, das ihm zwischen die Zähne geraten war, »du kannst von Glück sagen, daß du nicht an meiner Stelle bist und daß dir niemand zumutet, heute nacht das Fliegen zu erlernen!«

Dabei schielte er mutlos an der glatten Mauerfläche empor und gab einem Eulenruf einen leisen Pfiff zur Antwort. Jetzt versuchte er, längs der Mauer weiterzukommen, die eine Hand gegen die roh behauenen Steine gestemmt, mit der andern seine Augen vor dem Buschwerk wahrend. Zwischen zwei Cyklopensteinen hatte einst ein Feigenkern Raum und dann jahrhundertelang ungestörte Muße gefunden, sich zu einem knorrigen, trotzigen Baum zu entwickeln, der sich zwischen die Fugen drängte und das Mauerwerk da und dort sprengte. Tarvin überlegte eine Weile, ob er auf den Ansatz des untersten Astes steigen solle, ging noch ein paar Schritte weiter, um sich die Sache von beiden Seiten anzusehen, und stand nun plötzlich vor einer Lücke in der Mauer, die in ihrer ganzen Dicke von wohl zwanzig Fuß so breit gespalten war, daß ein ganzes Regiment hätte durchziehen können.

»Das sieht ihnen ähnlich! So sind sie!« brummte Tarvin vor sich hin. »Das hätte ich mir ja denken können! Eine sechzig Fuß hohe Mauer aufrichten und ein achtzig Fuß breites Loch darin anbringen! Das Halsband hängt wahrscheinlich an einem Busch oder ein Kind spielt damit und – ich kann's nicht erreichen!«

Er stolperte über den Schutt in der Öffnung hinüber und stand dann mitten unter geborstenen Pfeilern, Steinplatten, herabgestürzten Tragsteinen und eingesunkenen Grabmälern. Fast unter seinen Reitstiefeln hörte er ein leises, langgedehntes Zischen – keinem vom Weibe Geborenen braucht die Stimme der Schlange erst vorgestellt zu werden, er kennt sie beim ersten Mal.

Er machte einen Satz und stand dann still. Fibbys Wiehern drang nur noch ganz schwach an sein Ohr. Der Morgenwind strich durch die Kluft in der Mauer und Tarvin trocknete sich erleichterten Herzens die Stirn. Weiter vordringen wollte er erst, wenn es Tag wurde, jetzt war es an der Zeit, sich zu stärken. Daß es dabei angebracht war, sich nicht vom Fleck zu rühren, hatte ihn die zischende Stimme gelehrt.

So zog er denn seine Feldflasche und seinen Mundvorrat aus der Rocktasche und aß mit wahrem Heißhunger, ohne dabei die gespannte Umschau zu versäumen. Das nächtliche Dunkel lüftete sich schon ein wenig und er unterschied den Umriß eines großen Gebäudes, von dem ihn nur ein paar Schritte trennten. Seitwärts davon tauchten andre Schatten auf, blaß und geisterhaft wie Traumgesichter, Schatten von Tempeln und abermals Tempeln und Häusern. Der Wind, der zwischen ihnen durchfuhr, trug das sausende Geräusch von seinem Hauch gepeitschter Hecken mit sich.

Die Schatten wurden größer und greifbarer, und Tarvin sah jetzt, daß er mit dem Gesicht gegen ein umgestürztes Grabmal stand. Jetzt mußte er die Augen eindrücken, denn ohne alle vorbereitenden Anzeichen war jählings in seinem Rücken die Morgenröte aufgeschossen und hatte die Stadt der Toten aus dem Dunkel der Nacht gehoben. Weiträumige zackenkupplige Paläste enthüllten, blutrot übergossen, ihre unheimliche Leere und starrten in den Tag hinein, der ihre innersten Räume durchdrang.

Singend, pfeifend strich der Wind durch die öden Straßen, und da er niemand fand, der ihm Antwort gegeben hätte, ging er wieder, eine Wolke von Schutt und Staub vor sich her jagend, die er plötzlich zu einem kleinen Cyklontrichter zusammendrehte und seufzend hinwarf.

Zierliches, marmornes Netzwerk, das aus einer Fensterfüllung herabgestürzt war, lag auf dem dürren Gras und eine Eidechse kroch darüber hin, um sich zu sonnen. Schon war die glühende Morgenröte verflogen, erbarmungslos klares Licht lag auf allem, ein Weih kreiste am wolkenlosen blauen Himmel; der kaum geborene Tag hätte schon so alt sein können wie die tote Stadt. Es war Tarvin, als ob der Tag und er selbst stillstünden, um auf den Flügeln ziellos hingewirbelten Staubs die Jahrhunderte an sich vorüberlauschen zu hören.

Als er jetzt die erste Straße betrat, spazierte ein Pfau aus dem leeren Thorbogen eines hoffärtigen roten Hauses und schlug im Glanz der Sonne ein prachtvolles Rad. Tarvin blieb stehen und nahm vollkommen ernsthaft vor dem königlichen Vogel den Hut ab, das einzige lebende Wesen grüßend, das sich im Farbenschmuck seines Gefieders leuchtend von der Steinwelt abhob.

Das Schweigen des Orts und die vermessene Nacktheit der leeren Gebäude legten sich ihm wie ein schwerer Druck auf die Seele. Lange Zeit war Tarvin nicht einmal imstand, vor sich hinzupfeifen, sondern wanderte planlos zwischen den Mauern umher, besah sich die ungeheuren, natürlich ausgetrockneten Wassersammler, die hohlen Schilderhäuser, womit die Verschanzung wie mit Nägeln besetzt war, die von der Zeit morsch gewordenen Bogen, die jeden Straßeneingang überspannten, und vor allem den neunstöckigen Turm des Ruhmes mit seinem halbeingestürzten Dach, das in einer Höhe von hundertfünfzig Fuß in die Luft ragte, um dem umliegenden Land zu sagen, daß die königliche Stadt nicht tot sei, sondern sich eines Tags wieder bevölkern werde mit Menschen.

Nach mühsamem Aufstieg in dem Turm, dessen Außenwände eine völlige Kruste von Hochreliefdarstellungen menschlicher und tierischer Gestalten trugen, sah Tarvin herab auf das weite schlafende Gelände, worin die Totenstadt lag. Er sah die Straße, die er zur Nachtzeit geritten war, und konnte sie dreißig Meilen weit verfolgen, wie sie bald in einer Einsenkung verschwand, bald wieder auftauchte, er überblickte die weißen Mohnfelder und das braungrüne Buschwerk und sah, wie die endlose Ebene im Norden vom funkelnden Schienenstrang der Bahnlinie durchschnitten wurde. Wie zur See vom höchsten Mastkorb hielt er Umschau aus seiner luftigen Höhe, denn sobald er wieder unten war in der Stadt, beraubte ihn das himmelhoch ragende Bollwerk jedes Ausblicks. An der Nordseite, wo die Eisenbahnlinie der Stadt am nächsten kam, liefen steingepflasterte Laufgräben an der Böschung hinunter, die sich von dieser Höhe genau ausnahmen wie die herabgelassenen Fallreepstreppen an einem Schiff, und durch die von der Zeit und wuchernden Bäumen gerissenen Lücken in der Mauer sah man den fernen bläulichen Horizont der Ebene hereinschimmern, gerade als ob es die tiefblaue See wäre.

Eingedenk, daß Fibby im Gesträuch auf sein Frühstück wartete, beeilte er sich, die zerbröckelnden Stufen wieder hinabzusteigen, und eingedenk des Wesentlichen, was ihm Estes über die Lage des Kuhmauls gesagt hatte, schlug er ein Seitensträßchen ein, wobei er vielen Eichhörnchen und Affen in die Quere kam, die im kühlen Dunkel der leeren Thorbogen ihre Wohnung aufgeschlagen hatten. Das letzte der Häuser endete in einem von Mimosen und Binsen überwucherten Schutthaufen, durch den schmale Fußspuren liefen.

Tarvin nahm Notiz von diesem Haus, als der ersten thatsächlichen Ruine, die er zu Gesicht bekam. Was er den Tempeln und Palästen hauptsächlich zur Last legte, war, daß sie eben keine Ruinen waren, sondern nur leer, tot, ausgefegt, von den Teufeln der Einsamkeit schwelgerisch in Besitz genommen. Mit der Zeit, in ein paar Tausend Jahren vielleicht, würde die Stadt in Staub und Moder zerfallen, dieses Haus wenigstens war mit gutem Beispiel vorangegangen.

Die Fußspur, der er folgte, führte ihn auf einen vorspringenden massiven Felsblock, der wie ein Wasserfall überhing. Kaum hatte indes Tarvin einen einzigen Schritt darauf gemacht, als er auf der Nase lag, denn das Gestein hatte tiefe Rinnen glätter als Eis, die von Millionen nackter Füße eingetreten und blank poliert worden waren; wie lange diese Füße dazu gebraucht hatten, würde kein Mensch nachrechnen können. Als er sich wieder aufrichtete, hörte er ein boshaftes Kichern und Glucksen, das halb unterdrückt mit einem Stickhusten endete, dann ganz verstummte und von neuem wieder anhob. Tarvin schwor sich im stillen, den Spötter ausfindig zu machen und zu bestrafen, sobald er sein Halsband gefunden haben würde, und gab dann etwas besser acht auf sein Gleichgewicht. An dem Punkt, wohin er jetzt gelangt war, schien es ihm, als ob das Kuhmaul ein ausgedienter Steinbruch wäre, dem die Schlingpflanzen aus dem Hals wuchsen.

Der Blick auf alles tiefer Liegende war durch das dichte Laubwerk von Bäumen versperrt, die sich aufwärts reckten und ihre Köpfe zusammenstreckten wie eine Leichenwache über einem Toten. Früher hatten in den Fels gehauene Stufen den beinahe senkrechten Abhang hinunter geführt, sie waren aber von den nackten Füßen längst zu bloßen glasigen Runzeln abgeschliffen worden, und der vom Wind hergetragene Staub hatte in den Vertiefungen eine dünne Erdschichte angesetzt. Tarvin spähte längere Zeit ärgerlich hinunter, denn das Hohngelächter drang wieder aus der Tiefe herauf, dann stieg er, die Stiefelabsätze tief in die Mulden bohrend, Schritt für Schritt hinab und suchte von Zeit zu Zeit an einem Grasbüschel Halt. Ehe er sich's versah, war er der Sonne entrückt und stand bis über die Schultern in hohem, hartem Gras. Die Fußspur führte immer noch weiter, die Senkung dauerte an und er griff beim Weiterschreiten mit beiden Händen in die starken Grashalme. Jetzt fühlte er eine Feuchtigkeit an seinen Ellbogen und sah, daß der Fels, wo dieser aus der Erde ragte, von Nässe zerfressen und mit Moos überzogen war. Die Luft wurde feucht und kühl und beim nächsten Schritt, den er mehr hinabrutschte als ging, sah er, auf einem breiteren Steinvorsprung aufatmend, was ihm das Geäst der Bäume bisher verhüllt hatte. Die Stämme wuchsen aus der Umfassungsmauer eines viereckigen Teichs empor, dessen Wasser so still stand, daß es längst den Höhepunkt der Fäulnis überschritten hatte und phosphorisch leuchtend im fast nächtlichen Schatten des üppigen Laubwerkes lag. Durch die Sommerhitze war der Spiegel gesunken, und so zog sich eine Bank getrockneten Schlamms rundum. Das Kapitäl eines umgesunkenen Pilasters, in das ungeheuerliche und unzüchtige Götzenbilder gehauen waren, ragte aus der Pfütze empor wie der Kopf einer aufs Land zusteuernden Schildkröte. Hoch über Tarvins Haupt, da wo noch Sonnenstrahlen durchs Gezweig drangen, schwirrte es von Vögeln; kleine Zweigchen und Beeren fielen zuweilen herab in das tote Gewässer und ihr Aufklatschen hallte wider von den Rändern des Teichs, der von keinem Sonnenschein wußte.

Das Kichern und Glucksen, das Tarvin so geärgert hatte, ertönte jetzt aufs neue, dieses Mal in seinem Rücken. Sich scharf umwendend, entdeckte er, daß es von einem dünnen Wasserstrahl herrührte, der stoßweise aus dem Maul eines roh in Stein gehauenen Kuhhauptes hervorsprudelte und über eine Steinrinne in den regungslosen blauen Teich rieselte. Unmittelbar dahinter stieg die steile Felswand auf, an der er herabgeglitten war. Das war also das Kuhmaul.

Der Teich lag am Boden eines hohen Schachts, und der einzige Weg, der aus Licht und Sonnenglut in dieses düstere nasse Gewölbe führte, war der, den Tarvin gekommen war.

»Recht freundlich vom König, das muß ich sagen,« brummte er, vorsichtig auf dem Gesimse weitergehend, das fast ebenso schlüpfrig war wie sein Felsenabstieg. »Was in aller Welt soll dabei herauskommen?«

Er kehrte wieder um, denn das Gesimse war nur an einer Seite des Teichs erhalten, während die andern drei von lehmigen Schmutzanhäufungen eingefaßt waren, die zu betreten nicht ratsam schien und die ihm doch die einzige Möglichkeit boten, seine Erforschung weiter zu treiben. Jetzt kicherte und gluckste das Kuhmaul wieder, weil sich ein neuer Wasserstrudel durch seine unförmlichen Kinnladen drängte.

»So vertrockne doch!« brummte Tarvin ungeduldig, indes er sich ziemlich ratlos in dem Halbdunkel umsah.

Er warf zuerst einen Felsbrocken auf den Schmutzwall, betastete ihn dann vorsichtig mit der Zehenspitze und beschloß, da er ziemlich verläßlich zu sein schien, den Umgang zu wagen. Da an der rechten Seite des Teichs mehr Bäume standen als an der linken, wählte er diese und hielt sich für den Fall eines Fehltritts vorsichtig an den Zweigen fest.

Ursprünglich war die Felseneinfassung des Teichs vollkommen wagrecht gewesen, aber Zeit, Feuchtigkeit und die eroberungslustigen Baumwurzeln hatten die Steine an tausend Stellen gesprengt und gespalten, so daß der Fuß nur hie und da zweifelhaften Halt fand.

Entschlossen, ringsum zu wandern, arbeitete sich Tarvin an der rechten Seite des Teichs weiter. Die Dämmerung vertiefte sich noch, als er jetzt unmittelbar unter dem größten der Feigenbäume war, der tausend Arme über das Wasser hinbreitete und mit schlangenhaft gewundenen Wurzeln vom Durchmesser eines männlichen Körpers am überhängenden Felsen hinaufkletterte. Hier ruhte Tarvin eine Weile, in einer Wölbung des Geästes sitzend, um sich noch klarer zu verdeutlichen, wie der Ort beschaffen war. Die Sonne schoß den schlüpfrigen Pfad herunter, den er gekommen war und der ihm nun gerade gegenüber lag, und sie warf einen breiten Lichtfleck auf das verwitterte buntschimmernde Marmorgesims des jenseitigen Teichrands und auf die stumpfe Schnauze des Kuhmauls. Da wo Tarvin saß, herrschte volle Finsternis und ein fast unerträglicher Moschusgeruch. Das faulig schillernde Wasser war kein einladender Anblick, und so sah er lieber in die Höhe nach den Bäumen und dem überhängenden Gestein in seinem Rücken und entdeckte auch die smaragdenen Flügel eines Papageis, der sich auf einem der oberen Zweige schaukelte. Nie im Leben hatte Tarvin den gesegneten Sonnenschein so vermißt und herbeigesehnt. Er fror und hatte ein Gefühl eindringender Feuchtigkeit am ganzen Körper, auch merkte er deutlich, daß ein kalter Luftzug gegen sein Gesicht wehte, sobald er es dem Felsen und den Schlangenwurzeln zukehrte.

Mehr sein Raumgefühl als thatsächliche Wahrnehmung sagte ihm, daß hinter den Wurzeln, worauf er saß, ein Zugang, ein unterirdischer Durchgang sein müsse, und mehr die angeborene amerikanische Neugierde, als eigentliche Abenteuerlust trieb ihn, sich in die Dunkelheit zu stürzen, die sich vor ihm aufthat und hinter ihm zusammenschlug. Er fühlte, daß er behauene Steine mit einer dünnen trockenen Erdschicht unter den Füßen hatte, und als er die Arme ausbreitete, konnte er zu beiden Seiten Mauerwerk fühlen. Er steckte ein Streichholz an und verwünschte seine Unbekanntschaft mit Kuhmäulern, die ihn das Mitbringen einer Laterne hatte versäumen lassen. Das erste Streichholz flammte flackernd auf, um in dem starken Luftzug sofort zu erlöschen, und eh' noch das Hölzchen verglüht war, hörte er vor sich ein Geräusch, wie es etwa die zurückweichende Welle auf kiesigem Strand hervorbringt. Sehr ermutigend klang der Ton nicht, aber Tarvin arbeitete sich, nachdem er sich mit rascher Kopfwendung überzeugt hatte, daß das Tageslicht noch in gerader Linie hinter ihm glimmte, doch ein paar Schritte weiter und strich ein zweites Zündholz an, das er dieses Mal mit der Hand vor dem Luftzug schützte. Beim nächsten Schritt überlief ihn ein Schauder, sein Stiefelabsatz hatte einen Totenschädel zermalmt.

Das flackernde Lichtchen zeigte ihm, daß er den Durchgang selbst schon hinter sich hatte und jetzt in einem pechschwarzen Raum von unerkennbarem Umfang stand. Er glaubte einen Pfeiler, nein ganze Reihen von Pfeilern zu unterscheiden, die in dem unstäten Lichtschein wie Betrunkene schwankten: sicher war er dessen nicht, um so sicherer aber, daß der Boden unter ihm vollständig bedeckt war mit Totengebeinen. Jetzt wurde er sich auch bewußt, daß ein Paar smaragdgrüner Augen ihn unverwandt anstarrten und daß tiefe schnaubende Atemzüge durch den Raum tönten, die nicht von ihm herrührten. Er warf das Zündholz weg, die Augen zogen sich zurück, ein fürchterliches Rascheln und Krachen ertönte in der Finsternis, ein Geheul erklang, das von Mensch oder Tier herrühren konnte, und Tarvin sprang nach links, schwang sich atemlos keuchend über die Baumwurzeln und floh in wildem Lauf um den Teich herum, bis er wieder auf dem festen Gesims stand, wo er, das Kuhmaul im Rücken, Halt machte und seinen Revolver hervorzog.

In diesem Augenblick der Erwartung, was aus dem unterirdischen Gang hervorkommen werde, lernte Tarvin kennen, was rein physische Todesangst heißt. Dann bemerkte er plötzlich, ohne recht hinzusehen, daß ein Teil des Schlammwalls zur Linken, den er nur deshalb nicht betreten hatte, weil weniger Zweige darüber hinragten, sich in Bewegung setzte. Es war ein sehr beträchtlicher Teil, wohl die Hälfte der ganzen Länge und dieser Teil ruderte langsam über das Wasser, ein langer Streifen von Schleim und Schlamm. Aus dem Loch hinter den Wurzeln des Feigenbaumes kam nichts heraus, aber hart an dem Gesims, worauf Tarvin stand, fast unter seinen Schuhsohlen, fing der Schlammwall zu grunzen an und äugte zwischen hornigen mit grünlichem Schleim verklebten Augenlidern zu ihm hinauf.

Der Amerikaner des Westens ist mit vielen seltsamen Erscheinungen vertraut, aber der Alligator gehört nicht in den Kreis seiner üblichen Lebenserfahrungen. Zum zweitenmal an diesem Tag legte Tarvin einen schwierigen Weg zurück, ohne recht inne zu werden, was er that. Ehe er sich's versah, saß er im sengenden Sonnenlicht oberhalb des schlüpfrigen steilen Pfades, der in die Tiefe führte. Seine beiden Hände waren voll von heilsamem hartem Dschungelgras und reinlicher trockener Erde, er sah die tote Stadt vor sich und um sich und fühlte sich geborgen.

Das Kuhmaul kicherte und gluckste unsichtbar, wie es gegluckst hatte, als der Teich angelegt worden war, und das mag geschehen sein, als die Zeit überhaupt entstand. Ein verkrüppelter alter Mann, fast vollständig nackt, kam mit einem jungen Zicklein, das er am Strick zog, durch das hohe Gras geschritten und rief von Zeit zu Zeit: »Ao, Bhai! Ao! Komm, Bruder! Komm!« Tarvin war erst starr vor Staunen, überhaupt ein menschliches Wesen zu erblicken, und noch mehr, dieses Wesen mir nichts dir nichts zu den Greueln der Finsternis hinabsteigen zu sehen. Er wußte eben nicht, daß dem heiligen Krokodil beim Kuhmaul allmorgendlich sein Frühstück gebracht wurde, wie es ihm gebracht worden war in den Tagen, wo Gunnaur von Menschen gewimmelt und seine schönen Königinnen noch nichts geahnt hatten von Tod und Verödung.

Schluß des ersten Bandes.

 


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