Rudyard Kipling
Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Rudyard Kipling

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In der Blüte seiner Jugend

Als ich von dem lustigen Streich berichtete, den »der Wurm« dem Oberleutnant spielte, versprach ich eine ähnliche, aber jeder Komik bare Geschichte. Hier ist sie.

Dicky Hart wurde in seiner frühen, frühen Jugend gekapert – nicht von Wirtstochter, Dienstmädchen, Barmädchen oder Köchin, sondern von einer jungen Dame so sehr seiner eigenen Klasse und Erziehung, daß nur eine Frau entdeckt hätte, daß sie in der Welt ein ganz, ganz klein wenig unter ihm stand. Dies geschah einen Monat vor seiner Abreise nach Indien und genau fünf Tage nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Das Mädchen war neunzehn – will sagen sechs Jahre älter in den Erfahrungen dieser Welt als Dicky, also – im Augenblick – doppelt so töricht wie er.

Nichts ist so gefährlich leicht – ausgenommen natürlich ein Sturz vom Pferd – wie eine Trauung auf dem Standesamt. Die Zeremonie kostet noch keine fünfzig Shilling und hat eine fatale Ähnlichkeit mit einem Gang aufs Leihhaus. Nach Angabe der Personalien genügen vier Minuten für die übrigen Formalitäten: Unterschriften, Zahlung der Gebühren usw. Zum Schluß fährt der Standesbeamte mit dem Löschpapier über die Namen und sagt grimmig, den Federhalter zwischen den Zähnen: »Jetzt sind Sie Mann und Frau«; und das junge Paar marschiert auf die Straße mit dem Gefühl, daß irgendwo irgend etwas entsetzlich illegal ist.

Aber diese Zeremonie ist trotzdem bindend und kann einen Mann genau so sicher ins Verderben schleifen wie der Fluch: »Bis der Tod euch scheidet«, der regelrecht von den Stufen des Altars gesprochen wird, während kichernde Brautjungfern den Hintergrund ausfüllen und das Kirchenschiff erdröhnt vom Klange: »So nimm denn meine Hände«. Auf jene andere Weise wurde Dicky Hatt gekapert, und er fand die Sache wunderschön, denn soeben hatte er eine Anstellung in Indien erhalten, die vom heimatlichen Gesichtspunkte aus einen geradezu fürstlichen Gehalt mit sich brachte. Die Heirat sollte ein Jahr lang geheimgehalten werden. Dann sollte Frau Dicky Hatt ihm nachreisen, und der Rest ihres Lebens würde ein einziger, goldener Traum sein. So wenigstens wurde der Plan unter den Laternen des Addison-Road Bahnhofs entworfen; und nach kurzen vier Wochen kam Gravesend, und Dicky dampfte seinem neuen Leben entgegen, während sich das Mädchen in einem Dreißig-Shilling-die-Woche, kombinierten Wohn- und Schlafzimmer, Montpelier-Square (Seitengasse des Knightsbridge-Kasernenviertels) die Augen ausweinte.

Aber das Land, in das Dicky reiste, war ein hartes Land, wo »Männer« von einundzwanzig Jahren noch als sehr junge Burschen gelten, und das Leben ungewöhnlich teuer ist. Das Gehalt, das aus einer Entfernung von sechstausend Meilen betrachtet, so stattliche Dimensionen zu haben schien, reichte nicht weit. Besonders wenn Dicky es durch zwei dividierte und mehr als die größere Hälfte nach Nummer 1-6 7/8 Montpelier Square sandte. Einhundertundfünfunddreißig Rupien als Rest von dreihundertunddreißig ist nicht viel zum Leben; aber es war natürlich lächerlich, anzunehmen, daß Mrs. Hatt ewig mit den zwanzig Pfund auskommen könnte, die Dicky von seiner Ausrüstung abgespart hatte. Dicky sah das auch ein und sandte natürlich sofort eine Rimesse, wobei er jedoch ständig im Auge behielt, daß zwölf Monate später siebenhundert Rupien daliegen mußten, um die Überfahrt erster Klasse für ein Dame zu bezahlen. Wenn man zu diesen Bagatellen noch die natürlichen Instinkte eines Jungen hinzurechnet, der in einem neuen Lande ein neues Leben anfängt und sich sehnt, unter die Leute zu gehen und sich zu amüsieren, sowie die Notwendigkeit, sich mühsam in ganz fremde Arbeit einzuarbeiten – das allein sollte eines jungen Burschen Kraft beanspruchen – so wird man einsehen, daß Dicky unter ziemlichen Hindernissen seine Laufbahn begann. Ja, er selbst sah das sogar ein – für zwei, drei Sekunden, trotzdem ahnte er noch nicht den vollen Glanz seiner Zukunft.

Als das heiße Wetter einsetzte, schlangen sich die Ketten fester um ihn und fraßen ihm ins Fleisch. Anfänglich kamen Briefe – ausführliche, sieben Seiten lange, kreuz und quer geschriebene Briefe – von seiner Frau, die ihm erzählten, wie sehr sie sich nach ihm sehnte und was ihnen für ein Himmel auf Erden erblühen würde, wenn sie erst beisammen wären. Dann klopfte wohl irgendein jugendlicher Insasse des Junggesellenheims, in dem Dicky abgestiegen war, an die Tür von Dickys kahlem, kleinem Zimmer, um ihn aufzufordern, doch einmal herauszukommen und sich ein Pferd anzusehen – für ihn absolut das richtige. Aber Dicky konnte sich keine Pferde leisten und mußte das dem anderen auseinandersetzen. Dicky konnte es sich auch nicht leisten, in dem Junggesellenheim zu wohnen, und auch das mußte er auseinandersetzen, ehe er in ein einzelnes kleines Zimmer ganz in der Nähe des Büros zog, in dem er den ganzen Tag über beschäftigt war. Dort wirtschaftete er mit einem Inventar von einem grünen Wachstischtuch, einem Stuhl, einer eisernen Bettstelle, einer Photographie, einem Zahnputzglase – sehr stark und möglichst unzerbrechlich – und einem Kaffeefilter im Werte von sieben Rupien sechs Annas. Mittagessen erhielt er laut Vereinbarung für siebenunddreißig Rupien im Monat, was eine schamlose Übervorteilung bedeutete. Einen Punkah – oder Luftfächer – hatte er nicht, denn ein Punkah kostet monatlich fünfzehn Rupien; aber er schlief auf dem Dache seines Büros mit sämtlichen Briefen seiner Frau unter dem Kopfkissen. Hin und wieder wurde er zum Essen eingeladen, wo er sowohl einen Punkah wie eisgekühlte Getränke bekam. Allein das geschah nicht allzuoft, denn die Leute wollten keinen jungen Burschen bei sich sehen, der allem Anschein nach die Instinkte eines schottischen Seifenkrämers besaß und auf so unerfreuliche Art lebte. An Vergnügungen konnte sich Dicky auch nicht beteiligen, deshalb hatte er keine, außer der Freude, in seinem Bankbuch zu blättern und zu lesen, was darin über »Anleihen gegen genügende Sicherheit« zu lesen war. Die Rimessen schickte er übrigens durch eine Bank in Bombay, so daß niemand an dem Ort, wo er wohnte, etwas von seinen Privatangelegenheiten erfuhr.

Allmonatlich sandte er alles, was er nur irgend hatte erübrigen können, nach Hause, für seine Frau und – für noch etwas anderes, von dem man erwartete, daß es demnächst konkrete Form annehmen und einiges Geld kosten würde.

Etwa um diese Zeit wurde Dicky von einer nervösen, quälenden Furcht befallen, wie sie einen verheirateten Mann mitunter verfolgt, wenn er sich nicht wohlfühlt. Er hatte keinen Anspruch auf Pension. Wie, wenn er nun plötzlich stürbe und seine Frau unversorgt zurückblieb? Dieser Gedanke pflegte sich seiner an stillen, heißen Nächten zu bemächtigen, wenn er oben auf dem Dache lag, bis er ihn schüttelte und sein Herz ihn glauben machte, daß er auf der Stelle an einem Krampf sterben müßte. Auch das ist eine Gemütsverfassung, wie sie kein Junge in seinem Alter kennen dürfte. Das Ganze ist eine Sorge für einen in sich gefestigten, reifen Mann, und unter diesen Umständen machte es den armen, punkahlosen, schwitzenden Dicky Hatt halb verrückt. Dabei konnte er sich niemandem anvertrauen.

Eine gewisse Anzahl Widerstände ist für jeden Mann so notwendig wie für einen Billardball. Beide verrichten gegebenenfalls Wunder. Dicky brauchte sehr dringend Geld und arbeitete wie ein Pferd dafür. Aber natürlich wußten die Leute, die seine Arbeitskraft gekauft hatten, daß ein junger Bursche mit einem gewissen Einkommen sehr behaglich leben kann – und Gehälter sind in Indien eine Frage des Alters, nicht der Leistungen. Wenn dieser spezielle junge Dachs also für zwei arbeiten wollte, Gott – der große Gott Geschäft – verhüte, daß sie es ihm untersagten! Aber der nämliche große Gott verbot auch, ihm in seinem geradezu lächerlich jugendlichen Alter eine Gehaltserhöhung zu gewähren! Dicky verdiente sich daher zwar einige kleine Zulagen – recht anständige für einen grünen Jungen – aber lange nicht ausreichend für Frau und Kind, und viel, viel zu klein für die siebenhundert Rupien Überfahrt, die er und seine junge Frau seinerzeit so leichten Herzens besprochen hatten. Trotzdem mußte er sich wohl oder übel zufriedengeben.

Sein ganzes Geld – er wußte selbst nicht wie – schmolz dank der Rimessen nach der Heimat und der erdrückenden Wechselkurse dahin – und der Ton der Briefe von Hause änderte sich und wurde unzufrieden. »Weshalb wollte er, Dicky, nicht Frau und Kind zu sich nehmen? Er hätte doch sein Gehalt – ein ausgezeichnetes Gehalt – und es sei doch nicht recht von ihm, sich in Indien zu amüsieren. Und würde – könnte er nicht den Wechsel ein wenig erhöhen?« Hier folgte die Liste einer Baby-Ausstattung, so lang wie eine Wucherrechnung. Und Dicky, der sich halb krank sehnte nach seiner Frau und nach dem kleinen Sohn, den er nie gesehen hatte – was wiederum ein Erlebnis ist, das kein Junge seines Alters durchmachen dürfte, – erhöhte den Wechsel und schrieb sonderbare, halb knabenhafte, halb männliche Briefe des Inhalts, daß das Leben doch nicht ganz so vergnüglich sei, und würde die kleine Frau nicht noch ein Weilchen warten? Allein die kleine Frau nahm zwar das Geld bereitwilligst an, murrte aber gegen die Wartezeit, und in ihre Briefe schlich sich ein fremder, harter Ton, den Dicky nicht verstand. Wie sollte er auch, armer Junge!

Später, gerade als man Dicky zu verstehen gegeben hatte, daß eine Ehe nicht nur seine Karriere ruinieren, sondern ihn obendrein seine Stellung kosten würde – man zitierte das Beispiel eines anderen, jungen Burschen, der sich, wie die Redensart lautet, ebenfalls »wie ein Esel benommen hatte« – traf die Nachricht ein, daß Dickys Sohn, sein kleiner, kleiner Sohn, gestorben sei. Dahinter standen vierzig hastig gekritzelte Zeilen einer zornigen Frau, die besagten, daß der Tod hätte vermieden werden können, wenn gewisse kostspielige Dinge ermöglicht worden wären, oder wenn Dicky Mutter und Kind zu sich genommen hätte. Der Brief traf Dicky bis ins Herz; da er aber offiziell zu einem Sohne nicht berechtigt war, durfte er seinen Kummer nicht zeigen.

Wie Dicky sich durch die nächsten vier Monate durchrang und welche Hoffnungen er in seinem Herzen nährte, um sich zur Arbeit zu zwingen, wagt kein Mensch zu sagen. Er kämpfte tapfer weiter, obwohl die Siebenhundert-Rupien-Überfahrt noch immer in weiter Ferne schwamm, und nichts änderte sich an seinem Lebensstil, außer, daß er sich zu einem neuen Kaffeefilter aufschwang. Da war die Last seiner Büro–Arbeit und die Last seiner Rimessen, und das Bewußtsein von seines Jungen Tod, der diesen Jungen vielleicht näher berührte, als es bei einem ausgewachsenen Manne der Fall gewesen wäre; und – härter als alles andere – die Last seiner täglichen Entbehrungen. Grauhaarige Kollegen, die seine Sparsamkeit und seine Gewohnheit, sich alles zu versagen, billigten, gemahnten ihn an den alten, weisen Reim:

»Will ein Jüngling es weit bringen in der Kunst, Kunst, Kunst,
So fliehe er der Weiber eitle Gunst, Gunst, Gunst.«

Und Dicky, der glaubte, alles durchgemacht zu haben, was ein Mann durchmachen kann, mußte ihnen lachend zustimmen, während die Schlußzeile seines Bankbuches ihm Tag und Nacht im Kopfe herumging.

Und doch sollte er, ehe das Ende kam, noch weiteren Elends innewerden. Es kam ein Brief von der kleinen Frau – die natürliche Folge der anderen Briefe, hätte Dicky es nur gewußt, und der Kehrreim dieses Schreibens lautete: »Durchgegangen ist sie mit 'nem Hübscheren als du!« Er war ein ziemlich merkwürdiges Produkt, ohne Komma und Punkt. Sie dächte gar nicht daran bis in alle Ewigkeit zu warten und das Baby wäre tot und Dicky sei ja nur ein Junge und er würde sie niemals wiedersehen und weshalb hätte er bei der Abfahrt in Gravesend nicht mit dem Taschentuch gewinkt und Gott sei ihr Zeuge daß sie eine schlechte Frau wäre aber Dicky der sich in Indien amüsiere sei noch viel schlechter und der andere Mann bete den Boden unter ihren Füßen an und würde Dicky ihr wohl vergeben, denn sie selber könne ihm nie verzeihen; und weitere Briefe würden sie nicht erreichen.

Statt dem Himmel für seine Freiheit zu danken, lernte Dicky bis ins Kleinste die Gefühle eines gekränkten Gatten kennen – wiederum keineswegs die richtige Erfahrung für einen Jungen seines Alters – denn er sah seine Frau vor sich, wie sie in dem Zimmer für dreißig Shilling in Montpelier Square im Bette geweint hatte, als sein letzter Tag in England anbrach. Worauf er sich in seinem eigenen Bette wälzte und sich die Finger zerbiß. Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß sie beide, wenn sie sich jetzt nach zwei Jahren wiederträfen, vielleicht inzwischen ganz neue, andere Menschen geworden wären. Theoretisch hätte er daran denken sollen. So aber verbrachte er die Nacht nach dem Eintreffen des englischen Postschiffes in ziemlichen Schmerzen.

Am nächsten Morgen spürte Dicky Hatt keine Lust zur Arbeit. Er sagte sich ganz logisch, daß er sich die Freuden der Jugend hatte entgehen lassen. Er war müde und hatte sämtliche Nöte des Lebens noch vor seinem vierundzwanzigsten Lebensjahre kennengelernt. Seine Ehre war beim Teufel – hier rührte sich in ihm der Mann – und jetzt wollte er auch zum Teufel gehen – das war wieder der Junge, der aus ihm sprach. So neigte er den Kopf auf das grüne Wachstischtuch und weinte, ehe er auf seine Stellung und auf alles, was sie ihm bot, verzichtete.

Doch jetzt kam der Lohn für seine Dienste. Man bot ihm drei Tage Bedenkzeit, und der Chef seines Büros sagte nach einigem Hin- und Hertelegraphieren, es sei zwar ein ganz ungewöhnlicher Schritt, aber in Berücksichtigung der außerordentlichen Fähigkeiten, die Mr. Hatt zu dieser und jener Zeit gezeigt hätte, sei er in der Lage, ihm eine ungleich höhere Stellung anzubieten – zu Anfang nur auf Probe, später jedoch, bei natürlichem Verlauf der Dinge, für dauernd. »Und wie hoch ist dieser Posten dotiert?« fragte Dicky. »Mit sechshundertundfünfzig Rupien,« antwortete langsam der Chef, in der festen Erwartung, den jungen Mann vor Dankbarkeit und Freude zusammenbrechen zu sehen.

Jetzt hatte er es also erreicht! Genug für die Siebenhundert-Rupien-Überfahrt, und genug, um seine Frau und den kleinen Sohn zu retten! Dicky brach in brüllendes Gelächter aus – in ein Gelächter, das stärker war als er – ein häßliches, disharmonisches Gelächter, das augenscheinlich kein Ende nehmen wollte. Als er sich schließlich wieder in der Gewalt hatte, sagte er vollkommen ernst: »Ich habe die Arbeit satt. Ich bin ein alter Mann geworden. Es ist Zeit, daß ich mich zurückziehe, und ich werde gehen.«

»Der Junge ist verrückt geworden«, sagte der Chef.

Ich glaube, er hatte recht: Dicky Hatt jedoch ist nie wieder aufgetaucht, um diese Frage zu entscheiden.


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