Rudyard Kipling
Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Rudyard Kipling

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Der Wendepunkt

Schädel häufte er zu Ballen,
Dreißigtausend hochgetürmten,
Seinem Mädchen zu gefallen,
Wo des Oxis Wasser stürmten.
Grimmig sprach Attula Khan:
»Liebe schuf dies Nichts zum Mann!«
                          Oattars Geschichte.

Wenn man Empfängen, Hoffestlichkeiten und Privatbällen den Rücken kehrt, wenn man Menschen und Dinge, die man in seinem zivilisierten Leben kennengelernt hat, weit hinter sich läßt, kommt man zuletzt an die Grenzen, wo kein Tropfen weißen Blutes mehr pulsiert und der volle Strom des schwarzen an zu fluten fängt. Es ist leichter, sich unerwartet mit einer jüngst geadelten Herzogin zu unterhalten als mit den Menschen jenes Grenzgebietes, ohne ihre Sitten oder ihre Gefühle tief zu verletzen. Schwarzes und weißes Wesen mischt sich dort auf sonderbare Weise. Manchmal verrät sich das Weiße in Ausbrüchen ungestümen kindischen Stolzes, – eines verschrobenen Rassenstolzes –, und manchmal das Schwarze in noch ungestümerer Selbsterniedrigung und Demut, halbheidnischen Gebräuchen und einem seltsamen, unerforschlichen Trieb zum Verbrechen. Eines Tages wird dies Grenzvolk, das ohne Frage tiefer steht als die Schicht, aus der Derozio, der Nachahmer Byrons, hervorgegangen ist, auch seinen Schilderer oder Dichter hervorbringen. Und dann werden auch wir erst erfahren, wie es wirklich lebt und fühlt. Vorläufig kann kein Bericht Wahrheit oder auch nur größere Wahrscheinlichkeit vermitteln.

Miß Vezzis kam von jenseits der Grenze. Sie sollte bis zur Ankunft einer englischen Kinderwärterin die Kinder einer Dame beaufsichtigen. Die Dame sagte, Miß Vezzis wäre ein schlechtes, schmutziges und unzuverlässiges Kindermädchen. Sie kam nie auf den Gedanken, daß Miß Vezzis ein eigenes Leben zu führen und eigene Sorgen zu tragen hatte, und das gerade diese Dinge für Miß Vezzis in aller Welt das Wichtigste waren. Sehr wenige Dienstherrinnen erkennen diesen Standpunkt an. Miß Vezzis war schwarz wie Pech und für unseren Geschmack abschreckend häßlich. Sie trug Kleider aus bedrucktem Kattun und ausgetretene Schuhe. Wenn sie die Laune verlor, schalt sie mit den Kindern in dem Dialekt der Grenzsprache, einem Mischmasch aus Englisch, Portugiesisch und Hindustanisch. Sie war nicht anziehend, nicht reizvoll, aber sie hatte ihren Stolz und liebte es, sich »Miß« Vezzis nennen zu lassen.

Jeden Sonntag putzte sie sich wunderschön heraus und besuchte ihre Mama, die den größten Teil ihres Lebens auf einem alten Korbsessel in einem schmierigen Morgenrock aus Tussurseide versaß. Sie lebte in einem kaninchenbauartigen Hause, das voll war von lauter Vezzis, Pereiras, Ribieras, Lisboas, Gonsalvas und einer stets wechselnden Gesellschaft von Bummlern. Überall roch es nach Speiseresten, Knoblauch und abgestandenem Weihrauch; alte Kleider lagen herum, Unterröcke hingen statt Vorhängen an den Wänden, und alles war voll von leeren Flaschen, zinnernen Kruzifixen, vertrockneten Immortellen, jungen, herrenlosen Hunden, Gipsfiguren der heiligen Jungfrau und alten Hutkrempen.

Miß Vezzis erhielt für ihre Tätigkeit als Kindermädchen zwanzig Rupien im Monat und zankte sich allwöchentlich mit der Mama über ihren Zuschuß zum Haushalt. Wenn sie sich ausgestritten hatten, kletterte Michele D'Cruze gemächlich über die niedrige Lehmmauer, um Miß Vezzis im Stil der Grenzleute, – mit allerlei Förmlichkeiten, – den Hof zu machen. Michele war ein armes, kümmerliches Gewächs, ganz schwarz, aber er hatte seinen Stolz. Nicht um alles in der Welt hätte er sich mit einer Wasserpfeife im Munde sehen lassen; er blickte auf die Einheimischen herab, wie es nur ein Mann, der sieben Achtel von ihrem Blute in seinen eigenen Adern hat, tun wird. Die Familie der Vezzis hatte auch ihren Stolz. Sie führte ihren Ursprung auf einen mythischen Schienenleger zurück, der auf der Sone-Brücke gearbeitet hatte, als die ersten Eisenbahnen nach Indien kamen, und sie hielten sehr auf ihre englische Abstammung. Michele war Telegraphist mit 35 Rupien Monatsgehalt. Die Tatsache, daß er Regierungsbeamter war, stimmte Miß Vezzis milde gegen die Unzulänglichkeit seiner Ahnen.

Nach einer sehr peinlichen Legende, – der Schneider, Dom Anna hatte sie von Poonani mitgebracht, – hatte nämlich einst ein schwarzer Jude aus Cochinchina in die Familie D'Cruze hineingeheiratet. Außerdem war es ein offenes Geheimnis, daß ein Onkel von Mrs. D'Cruze noch heute in einem südindischen Klub irgendwelche niederen Küchendienste verrichtete. Er schickte Mrs. D'Cruze zwar allmonatlich 7 Rupien 8 Anna, aber sie litt trotzalledem schwer unter dieser Schändung der Familie.

Nichtsdestoweniger überwand sich Mrs. Vezzis nach Verlauf einiger Sonntage soweit, diesen Makel zu übersehen und ihre Einwilligung in Miß Vezzis' Heirat mit Michele zu geben, allerdings unter der Bedingung, daß Michele mindestens 50 Rupien monatlich zur Gründung eines Hausstandes aufzuweisen habe. Diese bewundernswerte Vorsicht muß wohl ein letztes Erbteil vom Yorkshirer Blut des mythischen Schienenlegers gewesen sein. Denn jenseits der Grenze setzen die Leute ihren Stolz darein, zu heiraten, wann sie wollen, und nicht, wenn sie es können.

Angesichts der Beförderungsaussichten Micheles hätte Mrs. Vezzis ebensogut fordern können, er solle mit dem Mond in der Tasche wiederkommen. Aber er war sehr verliebt in Miß Vezzis, und das gab ihm den Mut, auszuharren. Eines Sonntags begleitete er Miß Vezzis zur Messe, und als sie dann Arm in Arm durch den heißen, dumpfigen Staub wieder nach Hause gingen, schwor er ihr bei den verschiedensten Heiligen, deren Namen uns hier nichts angehen, daß er nimmermehr von Miß Vezzis lassen werde. Und sie schwor bei ihrer Ehre und der ihrer Heiligen – die Eidesformel war etwas sonderbar: »In nomine Sanctissimae« (Gott weiß den Namen der Heiligen) und so weiter, daß auch sie nie von ihm lassen wolle. Der Schwur endigte mit einem Kuß auf Micheles Stirn, linke Backe und Mund.

In der nächsten Woche wurde Michele versetzt. Und Miß Vezzis' Tränen flossen auf den Fensterrahmen eines Coupés dritter Klasse, als er auf dem Bahnhof Abschied nahm.

Auf den Karten mit den Telegraphenlinien Indiens findet man eine lange Strecke an der Küste, von Backergunge bis Madras. Michele ging nach Tibasu, einer kleinen Telegraphennebenstelle im ersten Drittel dieser Linie, um Depeschen von Berhampur nach Chikakola weiterzugeben. Außerdem konnte er nach dem Dienst an Miß Vezzis und die Möglichkeit denken, einmal 50 Rupien im Monat zu verdienen. Das Tosen des bengalischen Meers und einen bengalischen Schreiber hatte er zur Gesellschaft, sonst nichts. Er schrieb verliebte Briefe an Miß Vezzis, deren Kuverts er innen mit Kreuzen beklebte.

Als er fast drei Wochen in Tibasu war, kam er an den Wendepunkt seines Lebens.

Man darf nie vergessen, daß die Einheimischen so wenig wie Kinder verstehen, was Autorität heißt, und was es bedeutet, sie zu verletzen. Und darum müssen sie stets und ständig die äußeren Zeichen unserer Autorität sichtbar vor Augen haben. Tibasu war ein gottverlassenes kleines Nest, in dem eigentlich nur ein paar Orissa-Mohammedaner wohnten. Denen kam nun der Gedanke, ganz für sich einen kleinen Aufstand in Szene zu setzen, da sie bereits längere Zeit nichts vom »Sahib« Steuereinnehmer gehört hatten und den indischen Richter gründlichst mißachteten. Aber die Hindus stellten sich ihnen entgegen und schlugen ihnen die Köpfe blutig, bis sie Gefallen an der Zügellosigkeit fanden. Und Hindus und Mohammedaner machten nun beide eine völlig planlose »Revolution«, nur um zu sehen, wie weit sie es treiben könnten. Sie plünderten sich gegenseitig die Läden und beglichen die Konten ihres persönlichen Grolles auf ihre Art. Es war ein unangenehmer kleiner Aufruhr, der aber nicht wert war, in der Zeitung erwähnt zu werden.

Michele arbeitete gerade in seinem Dienstraum, als er jenen Lärm hörte, den man im ganzen Lehen nicht wieder vergißt, jenes »Ah-Yah« einer aufgebrachten Volksmenge. (Wenn dieser Lärm drei Töne tiefer wird und sich in ein dumpf dröhnendes »Uh« verwandelt, geht, wer es hört, am besten seiner Wege, zumal wenn er allein ist.) Der einheimische Polizeiaufseher stürzte zu Michele hinein und meldete, daß die Stadt in Aufruhr sei, und daß man das Telegraphenamt stürmen wolle. Der Schreier setzte seine Mütze auf und verschwand in aller Ruhe durchs Fenster. Der Polizeiaufseher folgte trotz seiner Angst dem alten Rasseinstinkt, der auch den winzigsten Tropfen weißen Blutes noch anerkennt, und fragte: »Was befiehlt der Sahib? –«

Dieses »Sahib« war für Michele entscheidend. In all seiner entsetzlichen Angst fühlte er, der Mann mit dem Juden aus Cochinchina und dem knechtischen Onkel im Stammbaum, dennoch, daß er der einzige Vertreter englischer Autorität am Orte war. Er dachte an Miß Vezzis und die fünfzig Rupien und tat, was die Lage der Dinge forderte. Es gab sieben einheimische Polizisten in Tibasu und vier altmodische, nicht einmal gezogene Musketen. Alle sieben waren bleich vor Furcht, aber doch noch zu leiten. Michele schloß den Telegraphenapparat ab und schritt an der Spitze seiner Armee dem Gesindel entgegen. Als die schreiende Bande um die Ecke bog, legte er an und feuerte, und gleichzeitig, instinktiv, schossen auch seine Leute.

Der ganze Haufen, – bis ins Mark feige Hunde, – heulte auf und rannte, davon; ein Toter und ein Sterbender waren geblieben, Michele war in Angstschweiß gebadet, aber er unterdrückte seine Schwäche und ging in den Ort hinunter an dem Haus vorbei, in dem sich der Richter verbarrikadiert hatte. Die Straßen waren menschenleer. Tibasu war noch verängstigter als Michele. Er war dem Pack zur rechten Zeit entgegengetreten.

Er ging zum Telegraphenamt zurück und rief Chikakola um Hilfe an. Noch ehe die Antwort kam, erschienen die Ältesten von Tibasu als Abordnung. Sie erklärten, daß der Richter Micheles Handlungsweise für »verfassungswidrig« halte, und versuchten ihn einzuschüchtern. Aber das Herz Michele D'Cruzes war weiß und stark, denn er liebte Miß Vezzis, das Kindermädchen, und hatte zum erstenmal »Verantwortlichkeit« und »Erfolg« gekostet. Und das ist ein berauschender Trank, der schon mehr Menschen zu Schanden gemacht hat als Branntwein. Michele gab zur Antwort, der Richter möge sagen, was er wolle; er, der Telegraphist, sei die englische Regierung in Tibasu, solange bis der Hilfssteuereinnehmer ankomme, und er werde die Ältesten des Ortes für weitere Unruhen verantwortlich machen. Sie sagten gesenkten Hauptes: »Übe Gnade« oder etwas Gleichbedeutendes und gingen in großer Furcht wieder fort. Und einer beschuldigte den anderen, den Aufruhr angezettelt zu haben.

Michele machte die ganze Nacht mit seinen sieben Polizisten die Runde und ging bei Morgengrauen dem Hilfssteuereinnehmer entgegen, der herangeritten kam, um Tibasu zu unterwerfen. Aber in Gegenwart des jungen Engländers fühlte sich Michele immer mehr in seine angeborene Natur zurückfallen. Sein Bericht von dem Aufstand in Tibasu endete mit einem krampfhaften Tränenausbruch aus Kummer, einen Menschen getötet zu haben, aus Scham, sich nicht mehr so erhaben fühlen zu können wie während der Nacht, und aus kindischem Zorn, daß seine Zunge der Schilderung seiner großen Taten nicht gewachsen war. Es war der Tropfen weißen Blutes, der in Micheles Adern ohne sein Wissen wieder versiegte.

Aber der Engländer verstand. Nachdem er die Tibasuner verwiesen und mit dem Richter geredet hatte, bis dieser wohllöbliche Beamte grün und gelb wurde, nahm er sich Zeit zu einem offiziellen Bericht über Micheles Führung. Dieses Schreiben kam ins richtige Fahrwasser und brachte den Erfolg, daß Michele von neuem versetzt wurde mit dem fürstlichen Gehalt von 66 Rupien im Monat.

Er wurde unter allem herkömmlichem Pomp mit Miß Vezzis getraut, und heute krabbeln bereits verschiedene kleine D'Cruze auf den Veranden des Haupttelegraphenamtes herum.

Aber wenn man Michele auch das Einkommen des ganzen Bezirks verspräche, er könnte doch nie und nimmer zum zweiten Male, was er in Tibasu für Miß Vezzis, das Kindermädchen, gekonnt hatte.

Und das beweist, daß in sieben Fällen von neun eine Frau dahintersteckt, wenn ein Mann etwas leistet, was in keinem Verhältnis zu seinem Gehalt steht.

Nur ein Sonnenstich kann Ausnahmen davon schaffen.


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