Rudyard Kipling
Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
Rudyard Kipling

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Die Bekehrung Aurelian Mc. Goggins

Reite mit müßiger Gerte, reit' mit gestrecktem Sporn.
Einmal in der Runde zu seiner Stunde
Zeig deinem Fohlen den Zorn.
Die Peitsche zuckt, und das Zaumzeug ruckt; tief sticht der stählerne Dorn. – –
                          Life's Handicap.

Dies ist eigentlich keine Geschichte. Es ist eine Abhandlung; und ich bin ungeheuer stolz darauf. Denn eine Abhandlung schreiben, ist eine Großtat.

Jeder hat das Recht einer eigenen religiösen Anschauung. Aber niemand, – am wenigsten ein jüngerer Beamter, – darf sie anderen Leuten gewaltsam eintrichtern wollen. – Hin und wieder schickt uns die Regierung die merkwürdigsten Leute in den Zivildienst. Aber Mc. Goggin war der sonderbarste von allen. Er war klug, hervorragend klug, nur führte ihn seine Klugheit auf falsche Bahnen. Anstatt sich an das Studium der Landessprachen zu halten, las er Bücher von Leuten wie Comte, glaube ich, Spencer und einem gewissen Professor Clifford. (Die Bücher findet man auf der Bibliothek.) Sie handeln vom inneren Menschen, aber vom Standpunkt derer, die keine leiblichen Nöte kennen. Es war nicht verboten, sie zu lesen; aber Mc. Goggins Mama hätte ihn trotzdem dafür züchtigen müssen. Das Gelesene gärte in seinem Hirn, und er kam nach Indien mit höchst aufgeklärten Anschauungen über das Leben im allgemeinen und seine Arbeit im besonderen. Sein keineswegs sehr ausführliches Glaubensbekenntnis bewies nur, daß die Menschen ohne Seele, die Welt ohne Gott und das Leben ohne Auferstehung sei, und daß man sich zum Wohle der Menschheit eben irgendwie durchzuschlagen habe. Eine seiner Unterlehren war augenscheinlich die, daß es noch verbrecherischer sei, Befehle auszuführen, als Befehle zu geben. Wenigstens behauptete das Mc. Goggin. Ich glaube aber, er hatte nur seine Elementarbücher mißverstanden.

Gegen den Glauben habe ich nichts einzuwenden. Er wurde in der Stadt geboren, in deren Nebel es nichts gibt als Maschinen, Asphalt und steinerne Bauten. Natürlich kommt da der Mensch allmählich zu der Überzeugung, daß es neben ihm nichts Höheres gibt, und daß das Stadtbauamt die Welt erschaffen hat. Aber hierzulande, wo man die Menschen als Menschen, – rohe, braune, nackte Menschen, unter dem freien, glühenden Himmel auf der allzuverbrauchten Erde vor Augen hat, da schwinden alle diese Theorien unmerklich dahin, und man kehrt zu einfacheren Vorstellungen zurück. Das Leben in Indien ist nicht lang genug, um es mit Beweisen vergeuden zu dürfen, daß das Weltall nicht von einem obersten Herrn geleitet wird. Und das ist verständlich. Denn der Deputierte steht über dem Beamten; der Regierungskommissar über den Deputierten; über dem Kommissar wieder der Unterstatthalter, und über allen denen der Vizekönig; und auch der steht wieder unter dem Staatssekretär, der dem Kaiser und König verantwortlich ist. Wenn nun der König keinem Höheren verantwortlich wäre, das heißt, wenn es überhaupt kein höheres Wesen gäbe, dann wäre unser ganzes Verwaltungssystem falsch, was natürlich völlig ausgeschlossen ist. In England kann man das den Leuten verzeihen, denn sie werden geistig verfüttert und nicht genug bewegt. Wenn man ein schweres, verfüttertes Pferd bewegt, schäumt und geifert es, bis man das Zaumzeug nicht mehr sieht. Aber es bleibt darum doch im Maule. In Indien wird kein Mensch verfüttert. Klima und Arbeit verbieten es, mit Worten wie mit Steinen um sich zu werfen.

Hätte Mc. Goggin seinen Glauben samt allen Schlagworten auf »ismus« bei sich behalten, dann hätte ihn auch niemand danach gefragt. Aber seine Großväter waren Methodistenprediger gewesen, und der Hang zum Predigen brach bei ihm wieder durch. Alle Leute im Klub sollten zu der Einsicht kommen, keine Seele zu besitzen, und ihm helfen, den Schöpfungsgedanken zu tilgen. Er hatte ohne Zweifel keine Seele, da er noch zu jung war, und das sagten ihm viele Leute. Daraus folge aber nicht, daß seine älteren Vorgesetzten ebenso unentwickelt gewesen seien. Ob es nun eine jenseitige Welt gab oder nicht, diesseits wollte man wenigstens ungestört seine Zeitung lesen können. »Das gehört nicht zur Sache, das gehört nicht zur Sache,« pflegte Aurelian zu sagen. Darauf warf man ihm Kissen an den Kopf und forderte ihn auf, sich in die Welt zu begeben, an der sein Glauben hing. Man taufte ihn »Blastoderm«, – denn nach seiner Behauptung entstammte er einer prähistorischen Familie dieses Namens, – und versuchte ihn durch geißelnden Spott zum Schweigen zu bringen. Er war eine Erzplage für den Klub und ein Ärgernis, besonders für die älteren Herren. Sein Vorgesetzter, der an der Grenze zu arbeiten hatte, während er auf der faulen Bärenhaut lag, sagte ihm ganz offen, er sei für einen gescheiten Jungen doch eigentlich ein recht großer Dummkopf. Er hätte, wenn er bei der Arbeit geblieben wäre, sehr bald einen Posten im Ministerium bekommen können. Männer seines Schlages sind stets dort zu finden; Männer, die ganz Gehirn sind, scheinbar körperlos und voll von tausend Theorien. Keine Menschenseele kümmerte sich weiter um Mc. Goggins Seele. Er hätte ihretwegen keine Seele, zwei Seelen oder auch die eines anderen haben können. Seine Pflicht war es, zu gehorchen und vor seinen Akten zu sitzen, statt den Klub mit seinen »Ismen« zu belästigen.

Er war ein ausgezeichneter Arbeiter, aber er konnte keinen Befehl ohne Verbesserungsversuche hinnehmen. Daran war wieder sein Glaube schuld, denn er forderte von den Menschen zuviel Verantwortlichkeit und überließ zuviel ihrem Ehrgefühl. Ein altes Pferd kann man manchmal auch ohne Trense reiten, ein Füllen niemals. Mc. Goggin machte sich bei seinen Rechtssachen mehr Mühe als sonst wer seines Alters. Er glaubte wohl, daß eine dreißig Seiten lange Urteilsverfügung in einem Fünfzig-Rupien-Prozesse, bei dem beide Parteien bestimmt Meineide geschworen hatten, die Menschheit fördere. Jedenfalls arbeitete er zu viel, kränkte sich über jeden Tadel und predigte nach dem Dienst seinen lächerlichen Glauben, bis der Arzt ihn eines Tages vor Übertreibungen warnen mußte. Kein Mensch wird im Juni ungestraft anderthalb Rupien Arbeit für eine Rupie leisten. Aber Mc. Goggin war geistig immer noch verfüttert, stolz auf seine Kraft und jedem Rate unzugänglich. Er arbeitete am Tage neun Stunden ununterbrochen.

»Gewiß,« sagte der Arzt, »aber Sie werden zusammenbrechen. Ihre Tragfläche ist überlastet.« Mc. Goggin war ein zarter Mensch.

Eines Tages kam der Zusammenbruch so dramatisch, als wäre er gerade nur dieser Abhandlung zuliebe geschehen. Es war kurz vor der Regenzeit. Wir saßen alle auf der Veranda in der windstillen, dumpfigheißen Luft. Wir atmeten schwer und beteten zu den tiefschwarzen Wolken um Kühlung. Ganz, ganz aus der Ferne drang ein leises Rauschen herüber, das zum Brausen werden mußte, wenn die Regenwolken erst über den Fluß kamen. Einer von uns vernahm es, erhob sich vom Stuhl, horchte auf und sagte nicht unerwartet: Gott sei Dank!

Der Blastoderm wandte sich um und sagte: »Warum? Ich versichere Sie, es sind lediglich Folgen völlig natürlicher Ursachen, atmosphärische Erscheinungen einfachster Art. Warum danken Sie dafür einem Wesen, das nie existiert hat, einem Fabelwesen, das – – –«

»Blastoderm,« brummte sein Nachbar, »immer ruhig Blut! Geben Sie mir mal bitte den ›Pionier‹. Wir kennen Ihre Fabelwesen.« Der Blastoderm griff nach dem Zeitungstisch, nahm eine Zeitung und zuckte zusammen, als wenn ihn etwas gestochen hätte. Dann gab er die Zeitung weiter.

»Wie gesagt,« fuhr er langsam und mit Anstrengung fort, »lediglich Folgen völlig natürlicher Ursachen, – natürlicher Ursachen, – ich wollte sagen – –«

»Aber Blastoderm, Sie haben mir ja ein ganz falsches Blatt gegeben.«

Der Staub wirbelte in kleinen Wolken auf, die Baumwipfel schwankten hin und her, und die Dohlen pfiffen. Aber niemand achtete auf den Regen. Wir starrten alle den Blastoderm an, der neben seinem Stuhl stand und nach Worten rang. Er sagte noch langsamer als zuvor:

»Völlig verständlich, – Wörterbuch, – rote Eiche, – abhängig von, – Ursachen, – Federball, – allein, – –«

»Blastoderm ist besoffen,« sagte einer. Aber Blastoderm war es nicht. Er sah uns blöde an und griff in dem einsetzenden Halbdunkel mit seinen Händen wild um sich. Er schrie gellend auf:

»Was ist denn? – Ich kann nicht – an mich halten – erreichbar – Markt – dunkel – –«

Aber seine Zunge schien im Munde zu erstarren. Und gerade als ein doppelzüngiger Blitz den weiten Himmel in drei Teile spaltete, und der Regen in Strömen niederprasselte, verlor der Blastoderm die Sprache. Er schnaubte und stampfte wie ein gewaltsam gehaltenes Pferd, und sein Auge war voller Entsetzen.

Drei Minuten später war der Arzt da und ließ sich den Vorfall erzählen. »Aphasie,« sagte er, »bringen Sie ihn auf sein Zimmer. Ich habe den Krach kommen sehen.« Wir trugen den Blastoderm durch den Regenguß nach Hause, und der Arzt gab ihm Brom zum Schlafen.

Dann kam der Arzt aus dem Zimmer wieder zu uns und erklärte uns, daß die Aphasie, wie so manche Krankheit Indiens, die Menschen plötzlich wie mit einem Keulenschlag trifft. Er habe nur ein einziges Mal einen so starken Fall bei einem einheimischen Soldaten gehabt. – Ich für meine Person habe leichte Aphasie schon öfter bei stark überarbeiteten Menschen erlebt, aber dies plötzliche Verstummen war unheimlich. Wenn es auch nur, um mit dem Blastoderm zu reden, »die Folge ganz natürlicher Ursachen« war.

»Er muß Urlaub nehmen,« sagte der Arzt, »ein Vierteljahr wird er wohl nicht arbeiten können. Nein, nein, es ist weder Wahnsinn noch sonst etwas Verwandtes! Es ist nur ein völliges Versagen der Sprachfähigkeit und des Gedächtnisses. Ich denke, der Blastoderm wird sich jetzt wohl ein Weilchen still verhalten müssen.«

Zwei Tage später kam ihm die Sprache wieder. Seine erste Frage war: »Was war es denn eigentlich?« Der Arzt klärte ihn auf. »Aber ich kann es nicht begreifen!« sagte der Blastoderm. »Ich bin doch ganz normal und soll meines Denkvermögens, meines Gedächtnisses nicht ganz Herr sein? Ist denn das möglich?«

»Gehen Sie drei Monate in die Berge,« sagte der Arzt, »und grübeln Sie nicht weiter.«

»Aber ich kann es nicht begreifen,« wiederholte der Blastoderm. »Mein eigener Verstand! Mein eigenstes Gedächtnis!«

»Das ist nicht zu ändern,« sagte der Arzt. »Es gibt manches, was Sie nicht begreifen. Wenn Sie erst einmal so lange im Berufe sind wie ich, dann werden Sie genau wissen, wieviel ein Mensch in dieser Welt sein Eigen nennen darf.«

Der Schlag duckte den Blastoderm. Er konnte ihn nicht begreifen. Mit Zittern und Zagen ging er ins Gebirge, immer in der Ungewißheit, ob es ihm wohl vergönnt sein würde, den Satz, den er begonnen, zu beenden.

Das Ereignis nahm ihm ganz heilsam seine Selbstsicherheit. Die natürliche Erklärung, daß er überarbeitet gewesen sei, befriedigte ihn nicht. Ein Etwas hatte ihm die Sprache von den Lippen genommen, wie eine Mutter die Milch von Kinderlippen wischt, und er fühlte eine Angst, eine furchtbare Angst.

So hatte denn der Klub Ruhe vor ihm, als er zurückkam. Wenn jemand gelegentlich Mc. Goggin über menschliche Einrichtungen rechten hören sollte, – über göttliche scheint er nicht mehr soviel zu wissen wie früher, – dann lege er nur seinen Finger an die Lippen und sehe zu, was dann geschieht.

Aber er mache mir keinen Vorwurf, wenn ihm ein Glas an den Kopf fliegt.


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