Alexander Kielland
Schiffer Worse
Alexander Kielland

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Sechstes Kapitel.

Sarah und Henriette saßen in der Weberstube, emsig mit der Arbeit beschäftigt; Henriette flüsterte. Die Mutter schrieb Briefe in der Wohnstube, deren Thür offen stand; Madame Torvestad war etwas schwerhörig und konnte vom leise geführten Gespräch nichts verstehen.

»Ja, kannst du dir doch denken, wie sie auf solche Dinge verfallen können, denk dir mal, sie stahlen ein Stück Tau –«

»Wer?«

»Lauritz und die anderen.«

»Stahlen sie?«

»Ach, wo willst du hin!« rief Henriette ärgerlich, »Lauritz sollte stehlen? Nein – sie nahmen es nur, nahmen es, verstehst du, ein altes Tauende, keine sechs Schillinge wert, das hinter Worses Ladenthür lag. Was sollte der reiche Schiffer Worse sich wohl daraus machen!«

»Aber, Henriette, ich bitte dich,« antwortete die Schwester, »weißt du denn nicht, daß es nicht darauf ankommt, ob es viel oder wenig ist, sondern daß jeder, welcher stiehlt –«

»Ein Dieb ist – ja, ich kenne die Bibelstelle,« unterbrach sie Henriette rasch, »aber hör' nun, was sie mit dem Tau vorhatten; Lauritz erzählte es mir gestern nachmittag in der Küche, als ich Thee schenkte –«

»Während hier die Versammlung war?« fragte Sarah vorwurfsvoll.

Henriette nickte eifrig mit dem Kopf. »Nur nicht der Mutter sagen! O, er ist so voller Schwänke, der Lauritz, ich muß immer so furchtbar über ihn lachen. Aber kannst du dir denken, da spannten sie das Tau quer über die Straße und zwei Mann hielten an jedem Ende, als es anfing, dunkel zu werden; und wenn dann jemand kam, auf den sie böse waren, so zogen sie das Tau stramm an, daß er fallen mußte. Und da kam der Kriegskommissär, du weißt, der alte, rote, schlimme Kerl, der fiel auf den Kopf und brach den Arm.«

»Hast du denn den Verstand verloren, Henriette, du kannst doch nicht meinen, daß das recht war?«

»Ja, gerade vollkommen recht! Du solltest nur wissen, wie böse er ist; alle jungen Leute in der ganzen Stadt hassen ihn und ich auch; wenn er auf der Session ist, so schimpft und wettert er in einem fort, und zuletzt, wenn er ganz wütend geworden ist, so schlägt er mit der Reitpeitsche! O nein, das war gerade gut für ihn. Hätte er nur beide Arme gebrochen, der scheußliche Mensch!«

Sarah hörte ganz erschreckt der Schwester zu; da machte die Mutter eine Bewegung, als wenn sie sich erheben wollte, und die Schwestern arbeiteten jetzt eine Zeitlang, ohne zu sprechen, weiter. Sarah dachte darüber nach, wie sie sich Henriette gegenüber benehmen sollte, und sie fragte sich selbst, ob es nicht ihre Pflicht sei, der Mutter alles zu sagen. Madame Torvestad aber war merkwürdig schwach gegen ihre jüngste Tochter. Sie pflegte wohl zu sagen: »Für Henriette ist mir nicht bange, sie läßt sich leicht beugen und wird schon zur rechten Zeit vom Ruf der Gnade ergriffen werden. Dies war anders mit dir, Sarah! Du hast einen starken Sinn, der früh in der Zucht des Herrn geübt werden mußte. Und Gott sei Dank! weder dein braver Vater noch ich selber haben die Rute gespart, und Gott hat seinen reichen Segen dazu gegeben, daß du zu dem geworden, was du bist.«

Sie sagte dies mit ungewöhnlicher Wärme. Sonst war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter etwas steif. Sie sprachen miteinander über weltliche und geistliche Dinge, aber zu einer Vertraulichkeit zwischen ihnen kam es nie. Sarah war in den strengsten Grundsätzen von den Pflichten der Kinder gegen die Eltern erzogen und sie sah mit Ehrfurcht zur Mutter empor. Sie würde sich eher die Hand abgehauen, als gegen ihren Willen gehandelt haben; sie wagte es aber nicht, sich ihr um den Hals zu werfen, wozu sie oft einen heftigen Drang fühlte.

Wenn Henriette voll Mutwillen sie küßte und umschlang, fühlte Sarah ein wundersames Wohlbehagen; sie riß sich aber gleich wieder los, da sie wußte, daß die Mutter es nicht gern sähe.

Nachdem die Schwestern eine Zeitlang stillschweigend gearbeitet hatten, flüsterte Henriette wieder: »Er hatte neulich Sonnabend etwas im Kopf.«

»Wer?«

»Lauritz.«

»Pfui doch, woher weißt du denn das?«

»Er erzählte es mir selbst.«

»Schämt er sich denn aber gar nicht?«

»Ach, das ist doch nicht so schlimm, er war auch nicht ganz betrunken, wie du dir wohl denken kannst, sondern er hatte nur so einen Spitz, wie sie es nennen.«

Henriette schien ganz stolz auf ihn zu sein; ehe sich Sarah aber von ihrem letzten Schrecken erholt hatte, rief die Mutter: »Sarah, komm her und hilf mir. Wo ist die Stelle, wo der Herr vom Weinstock spricht?«

»Evangelium Johannis, fünfzehntes Kapitel.«

»Lies es mir vor.«

Sarah begann, während die Mutter sie mit ihren klugen Augen beobachtete; sie gab sich aber den Anschein, als ob der Brief, den sie schrieb, und das Vorgelesene sie völlig beschäftigten.

Madame Torvestad schrieb häufig; ihre Briefe standen wegen ihres verständigen, liebreichen Tones in hohem Ansehen und wurden von den Freunden ringsum im Lande sehr geschätzt. Sie wurden dort, wohin sie gesandt wurden, in den Versammlungen vorgelesen und dann sorgfältig aufbewahrt, um an die, welche bekümmert und trostbedürftig waren, ausgeliehen zu werden.

Als Sarah den zwölften Vers las: »Dies ist mein Gebot, daß ihr einander lieben sollt, gleichwie ich euch geliebet habe,« unterbrach die Mutter sie und sagte: »Ja, das war eben der Vers, an den ich dachte.«

Sie sah wieder in ihren Brief und schrieb weiter, indem sie zugleich das Geschriebene vor sich hin sprach; Sarah merkte aber gut, daß es zugleich an sie gerichtet sei: »Das ist die erste Frucht, welche der Zweig des wahren Weinstocks tragen soll, nämlich die Liebe, die gegenseitige Liebe unter den Brüdern; diese Liebe ist es, die namentlich Johannes als das Zeichen der Kinder Gottes hinstellt. Aber, liebes Herz, jetzt gilt es, gib acht darauf, wie deine Liebe zu den Brüdern entstanden ist, oder weshalb du sie liebst, ob etwa, weil sie von Gott geboren sind, oder darum, weil etwas Liebenswürdiges an ihrer Person vorhanden ist. Gib acht, ob deine Liebe damals und dadurch entstand, daß du selbst den Herrn suchtest, daß du nach seiner Gnade und nach Frieden mit Gott hungertest und dürstetest und damals anfingst, ihn so zu lieben, daß sobald du sahst oder hörtest, daß ein anderer auch den Herrn suchte und liebte, dieser andere dir bloß dadurch so lieb, so liebenswert und brüderlich nahe ward, daß du darüber alle seine anderen Eigenschaften vergaßest.«

Sarah war, während die Mutter sprach, glühend rot geworden; sie beugte sich über die Bibel und wollte weiter lesen, allein die Mutter unterbrach sie: »Ich danke dir, Sarah, du brauchst nicht mehr zu lesen; ich wollte nur diese Betrachtungen der gegenseitigen Liebe in mir selbst durch das heilige Wort erwecken.«

Dann schrieb sie weiter und las wie vorher halb für sich, halb zu Sarah gewandt: »Siehe, dort hat der Versucher wieder eine seiner tückischen Fallen gestellt, gib acht und bete zu Gott, er möge deinen Fuß bewahren, daß du nicht hineintrittst. Denn die sündhafte Liebe liegt auf der Lauer hinter der Liebe zu den Brüdern, wie die Schlange sich hinter den köstlichen Früchten des Baumes versteckte. Sieh dich deshalb wohl vor, daß du im Geiste liebst und nicht im Fleische. Wenn du aber im Geiste liebst und du auf deinem Wege einem begegnest, der denselben Gott sucht, den du liebst und in dessen Liebe ihr beide vereinigt seid, da sollst du gewißlich diesen einen Suchenden lieben. Und wäre er auch« – hier wurde ihre Stimme eindringlicher – »und wäre er auch bloß ein Suchender in weiter Ferne, ja wäre er sogar ein Irrender, der nur dunkel das Licht unterscheiden könnte, mit nur gebrechlichen Füßen danach wanderte, ja wenn auch sein Aussehen und sein natürlicher Sinn noch so abstoßend und der Umgang mit ihm noch so schwierig wäre, du sollst ihn doch lieben um der gemeinschaftlichen Liebe willen, die euch zuerst liebte. – So, mein Kind, ich danke für deinen Beistand. Geh nun wieder zu deiner Arbeit und bete zum Herrn, er möge um seiner Liebe willen die gegenseitige Liebe in deinem Herzen verklären, auf daß du dich nicht irrest.«

Als Sarah aus der Stube gehen wollte, fügte die Mutter hinzu: »Ich wundere mich darüber, daß wenn ihr Schwestern so zusammen sitzet, ihr dann nicht ein religiöses Lied singt; das thaten wir immer so in meiner Jugend. Das erleichtert die Arbeit und beschützt den Sinn gegen böse Gedanken und die Anfälle des Versuchers.«

Bald darauf sangen die Schwestern mit klarer, aber gedämpfter Stimme ein Lied, das, wie sie wußten, die Mutter liebte:

»Mach hoch das Thor und weit die Thür,
Dein Ehrenkönig kommt zu dir.«

Wenn Henriette die Worte vergessen hatte, so summte sie die Melodie mit, bis sie wieder auf den Text kam. Sarah aber war ganz bleich geworden, ihre Augen brannten, sie schlug sie aber nicht auf.

Keine von ihnen hörte, daß Hans Nielsen Fennefos die Treppe herauf kam und auf dem Absatz draußen stehen blieb. Er lauschte dem Gesang und gedachte unwillkürlich jener Nacht, als er seine Mutter singen hörte. Eine tiefe Bewegung ergriff ihn, es war ihm, als sei Sarahs weiche Stimme der seiner Mutter ähnlich und Thränen traten ihm in die Augen. Als er in seine kleine Kammer hinaufgekommen war, saß er lange in einander widerstreitende Gedanken versunken. Wie sehr hätte er gewünscht, in diesem Augenblick seine Mutter bei sich zu haben, um sich mit ihr zu beraten. Sie war aber vor zwei Jahren gestorben. Die, welche an ihrem Sterbebett standen, erzählten, es sei so gewesen, als habe sie sich in den Himmel hineingesungen.

Hans Nielsen kam aus einer Versammlung der Aeltesten von den Brüdern, zu denen er selbst gehörte; denn es kam dabei nicht an auf die Jahre, sondern auf Glauben, Liebe, Gerechtigkeit und Erfahrung in religiösen Dingen, sowie wahre Weisheit.

Es war aus Nielsens Heimatsgegend ein Schreiben eingetroffen, in welchem darüber geklagt ward, daß sich dort unter den Brüdern eine gewisse Lauheit eingeschlichen habe. Es ward daher die Bitte ausgesprochen, daß man jemand hinsenden möge, der das verglimmte Feuer wieder anzufachen verstände. Man wünschte am liebsten Hans Nielsen, wollte aber auch gern jeden anderen nehmen, der dazu ausersehen würde. Als dies Schreiben verlesen war, sagte der Aelteste in der Versammlung, ein Greis, der noch mit Hauge zusammen gewirkt hatte: »Nun, lieber Hans Nielsen, was meinst du dazu? Bezeugt der Geist in dir, daß du dem Ruf der Brüder folgen sollst, oder weißt du einen anderen, der sich besser dazu eignen würde?«

»Ich denke, daß Hans Nielsen der Meinung ist, es sei gut für ihn, dort zu bleiben, wo er ist,« sprach Sivert Jespersen, ohne von der Postille, in welcher er blätterte, aufzusehen.

Es ward nun nicht weiter über die Sache gesprochen. Sie kannten einander so genau und verstanden einen kleinen Wink oder eine schwache Betonung so gut, daß die Pause, die jetzt folgte, ihnen dieselben Aufschlüsse gab, wie eine längere Erörterung.

Endlich erhob Fennefos sich und sagte: »Ich will mich selbst prüfen und den Geist bitten, mich zu erleuchten; morgen oder vielleicht heute abend in der Versammlung werde ich euch meine Antwort bringen.«

Nun saß er in seiner Kammer und prüfte sich ganz aufrichtig, um über sich selbst zur Klarheit zu kommen. Er hatte schon mehrere Male Spuren einer Mißbilligung, wie sie aus Sivert Jespersens Bemerkung herausklang, bei seinen Freunden wahrgenommen. Im allgemeinen wünschte man ihn wohl in der Gemeinde zu behalten; aber es gab doch mehrere, die sich durch seine Anwesenheit gedrückt fühlten. Diese gaben nicht undeutlich zu erkennen, daß der Aufenthalt im Hause der Madame Torvestad für einen Laienprediger schädlich werden und zu Verweichlichung führen könne. Als dies zu Hans Nielsens Kenntnis kam, fiel sein erster Gedanke auf Sarah. So scharf wie er nur konnte, hatte er sein eigenes Herz erforscht. Es war ihm aber nicht möglich, mit Sicherheit zu entscheiden, ob die Freude, die er in ihrer Gesellschaft empfand, das Emporkeimen einer sündhaften Liebe, oder vielmehr herzliches Gefühl von Freundschaft und Ergebenheit für dieses Mädchen sei, das besser und reiner war als alle anderen.

Als er darüber nicht zu einem bestimmten Schluß hatte kommen können, und da der Gedanke ihn zu beunruhigen und zu ängstigen begann, war er eines Tages zu Madame Torvestad gegangen und hatte sie ohne Umschweife gefragt, ob sie ihm den Rat geben könne, er solle sich verheiraten, und ob sie ein christlich gesinntes Mädchen kenne, das sie ihm zur Frau empfehlen wolle.

Madame Torvestad wurde dadurch nicht überrascht. Es war unter Hauges Freunden und namentlich unter den Herrnhutern nichts Ungewöhnliches, daß sich die Jüngeren in solchen Angelegenheiten von den Aelteren leiten ließen. Man wollte sogar wissen, daß der selige Torvestad dereinst seine Frau in Christiansfeld durchs Los erhalten habe. Andererseits aber lag es der Madame Torvestad so nahe, an ihre Töchter und namentlich an Sarah zu denken, daß Hans Nielsens Anfrage fast als ein Antrag anzusehen war. Sie antwortete aber ausweichend; sie glaube nicht, daß er, ein so beliebter Prediger schon jetzt seine Reisen im Lande aufgeben dürfe, und er könne selbst einsehen, daß, wenn er erst verheiratet wäre, er sich nicht so leicht von Hause losmachen könne. Sie fügte hinzu, daß sie zur Zeit auch kein Mädchen kenne, das sich besonders gut für ihn eigne.

Hans Nielsen ward durch diesen Bescheid schmerzlich berührt. Er konnte nicht begreifen, was Madame Torvestad dagegen haben könne, ihm ihre Tochter zu geben. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß die Madame andere Pläne haben könne, aber noch weniger dachte er daran, sich ihrem Willen zu widersetzen oder ihn zu umgehen. Er bestrebte sich im Gegenteil, zu der Ueberzeugung zu kommen, daß sie recht habe, und es gelang ihm dies auch nach einiger Ueberwindung.

Eine Woche war seitdem vergangen und Hans Nielsen hatte in dieser Zeit sich selbst genau beobachtet. Er sagte sich, daß, wenn ihn heftiges Verlangen zu Sarah gezogen hätte, so müßte er tiefen Schmerz gefühlt haben, als er seine Hoffnungen getäuscht gesehen. Aber wenn er aufrichtig gegen sich sein wollte, so fühlte er keinen tiefen Schmerz. Gewiß wäre er sehr glücklich gewesen, wenn sein Wunsch erfüllt worden wäre; allein da er nun, obgleich er in ihrer Nähe verblieb, weder einen Drang empfand, sich ihr noch weiter zu nähern, oder aus Besorgnis an sündhaftem Begehren, sie zu fliehen, so gewann er die Ueberzeugung, daß seine Gedanken rein seien, und er ward ruhiger, aber auch etwas schwermütig.

Nun kam jener Brief, dazu der Argwohn, der in Sivert Jespersens Worten versteckt lag, und dann zuletzt die Gefühle, die auf ihn einstürmten, als er sie singen hörte. Alle seine Zweifel regten sich wieder, und wie er so allein im trauten Stübchen saß und es dort immer dunkler ward beim herannahenden Abend, kam sein Blut stärker in Wallung, und Gedanken, die er nie zuvor gehabt, traten heran, um sich gegenseitig anzuklagen und zu verteidigen. Weshalb wollte er nicht von dannen ziehen und in den Winter hinein seinem Beruf von Hütte zu Hütte folgen? Weshalb zog es ihn nicht hin zu all den Armen und Bekümmerten, welche ringsumher im Lande in ihrer Einsamkeit mit Zweifeln und Anfechtungen kämpften? Warum sehnte er sich nicht wie früher nach dem Kampf mit den bösen Mächten? War es nicht so, wie Sivert Jespersen gesagt hatte: er befand sich zu wohl in seiner Umgebung? Und war es nicht wiederum Sarah, nur Sarah, die daran schuld war? Er fühlte, daß eine der bösen Stunden herankäme, die ihn bisweilen, zumal als er jünger war, heimsuchten. Er rang die Hände und betete, der Geist möge ihn erleuchten und das Dunkel zerstreuen. Er krümmte sich wie im Schmerz zusammen und atmete kurz und beschwerlich, und die Gedanken wirbelten an ihm vorbei, böse Gedanken, häßliche, unreine Gedanken, die nicht sein eigen waren; statt sich selbst ernsthaft zu prüfen, erinnerte er sich der Zweifel und Spöttereien, die er gehört; wilde verwirrte Bilder jagten ihm durch den Kopf, und wenn er einen Entschluß fassen, einen festen Punkt aufstellen wollte, um der furchtbaren Anfechtung zu entgehen, so ließ ihn alles im Stich, er lag machtlos da, gefesselt an Händen und Füßen, und der Teufel selbst stand vor ihm und grinste ihn an. Da rief er laut: »Weich von mir, Satan!« und ermattet und vernichtet warf er sich ins Sofa auf sein Angesicht.

Aber als er seine Augen schloß, war es ihm, als ob kleine feurige Zungen hinter den Augenlidern flammten, sie sammelten sich, flimmerten, verschwanden und kamen wieder, bis es ihm plötzlich schien, als habe er in einem Moment vor den geschlossenen Augen in der Dunkelheit die Worte: »Zieh fort!« gelesen. Er sprang auf und sah sich in der halbdunklen Kammer um, indem er ausrief: »Zieh, zieh fort!« Es wurde klar in seinem Kopf, und es ward stiller in ihm, er war erhört worden: der Geist hatte ihn erleuchtet und die Finsternis verjagt, und er kniete nieder und dankte. Dann warf er Rock und Weste ab, öffnete das Fenster und ließ den herabströmenden Regen sich über sein Gesicht ergießen. Nun war er über sich selbst zur Klarheit gekommen. Es war wirklich Gefahr vorhanden; er mußte fort, je eher je lieber, und nun sehnte er sich – ja Gott sei gelobt – er sehnte sich nach dem Kampf mit den bösen Mächten.

Er zündete sein Licht an und rasierte sich, ohne daß ihm die Hand zitterte, er war völlig ruhig geworden; wohl etwas matt, aber wunderbar froh und zufrieden. Dann wusch er sich über den ganzen Körper und zog reine Kleider an.

Hans Nielsen war von schöner, kräftiger Gestalt, seine Stirn war nicht sehr hoch, aber breit und offen. Das dunkle Haar war etwas steif, weshalb er es ganz kurz geschnitten trug. Seine Nase war groß und gebogen, der Mund mit den schmalen Lippen festgeschlossen, das Kinn rein und kräftig. Da die Lippen so schmal waren und er keinen Bart trug, traten, wenn er sprach, beide Reihen seiner starken, gleichmäßigen Zähne weit hervor; und viele in der Versammlung konnten, wenn er sang oder vorlas, das Auge nicht von diesem Munde abwenden, einem Munde so rot und weiß, so frisch und sauber, der niemals durch Tabak und geistige Getränke verunreinigt wurde. Reinheit war überhaupt das Wort, das zum Manne paßte. Dies galt nicht nur von seiner Kleidung und seiner Wäsche, sondern auch von dem Antlitz mit den großen offenen Zügen und dem glattrasierten, starken Kinn. Und aus den grauen klaren Augen leuchtete ein so heller und doch ernster Strahl, daß manche den Blick nicht zu ertragen vermochten. Sein Auge hatte nicht den scharfen, stechenden Blick, welchen viele seiner Mitbrüder in den Sünder hineinbohrten, als wollten sie in tiefe Abgründe verborgener Bosheit eindringen. Hans Nielsens Blick machte den Eindruck, als erwarte er, dieselbe Reinheit zu finden, wie die, aus der er hervorgegangen war; und das war wohl der Grund, weshalb die meisten zur Seite sehen mußten, wenn er gerade vor ihnen stand.

Fast alle Haugianer der Stadt waren in der Versammlung, da es Samstag war. Es entstand eine freudige Bewegung unter ihnen, als Fennefos zu Endre Egeland, der am kleinen Katheder stand, um aus der Postille vorzulesen, herantrat und ihn bat, ein paar Worte zur Versammlung sprechen zu dürfen. Alle setzten sich zurecht, um dem beliebten Redner gut zuhören zu können; es war recht lange her, daß er zu ihnen gesprochen.

Viele wurden jedoch schmerzlich überrascht, als er begann: »Geliebte Brüder und Schwestern, ich bin gekommen, um Abschied von euch zu nehmen.«

Allen aber that es wohl, seine Stimme wieder zu hören. Die Alten nickten entzückt mit dem Kopfe und lächelten einander zu: das waren einmal wieder der Ton, die kräftigen wohlbekannten Worte aus Hauges Tagen, die nach und nach durch so viele Einflüsse abgeschwächt worden waren.

Hans Nielsens Haltung war eine andere, als die man bei denen zu sehen pflegte, die sonst die Versammlungen leiteten; seine Stimme war nicht kläglich, sein Haupt nicht gebeugt und er lächelte nie. Hoch aufgerichtet und geraden Hauptes stand er unter ihnen da, seine Bewegungen waren einfach und gemäßigt, aber sein helles Auge drang überallhin und erleuchtete gleichsam selbst den entferntesten Winkel. Zuerst ermahnte er die Versammlung voll Ernst und Nachdruck, dann dankte er allen herzlich für gute und treue Brüderschaft, ja er wandte sich sogar auf eine Weise, daß alle es merken mußten, an Sivert Jespersen, als er insbesondere denen seinen Dank aussprach, die ihm die Hand gereicht hatten, als er nahe daran war, zu straucheln und sich zu verirren. Er schloß mit einem Gebet, das sich lange bei den Freunden in der Erinnerung erhielt. Es war dies einer von den Augenblicken, wo die Worte wie ein Sturmwind über ihn kamen und sein ganzes Wesen gleichsam von Innigkeit und Begeisterung erglühte.

Als er geendet hatte, drängte sich alles um ihn her, um seine Hand zu drücken und noch ein Wörtchen von ihm zu erhalten, denn es war ungewiß, wann man ihn wiedersehen werde. War ein so beliebter Prediger erst auf der Reise, so war es vorauszusehen, daß man ihn überall gern haben und gern hören wollte und daß er so von Ort zu Ort weiter ziehen müsse.

Fennefos war in der That auch eine der festesten Stützen der Gemeinde. An vielen von den anderen, namentlich Endre Egeland und Sivert Jespersen, haftete etwas wie ein kleiner Makel; wenigstens sprachen die Leute übel von ihnen, denn man war von allen Seiten umringt von Spöttern und Verleumdern.

Auf Hans Nielsen aber hatte niemals der geringste Schatten geruht. Ja es sprach sogar der neue Prediger in der Stadt, der sich den Haugianern nähern zu wollen schien, mit großer Anerkennung von ihm. Das erfüllte die Brüder mit großem Stolz, denn es war in der That eine höchst seltene Ausnahme, daß einem Laienprediger von einem wirklichen Geistlichen Lob gezollt wurde.

Hans Nielsens Abreise ward auf einen der nächsten Tage festgesetzt, sobald die Aeltesten die Briefschaften, die man ihm mitgeben wollte, angefertigt hätten, und die Bücher und Schriften, die er auf seiner Wanderung austeilen sollte, geordnet wären.

Es war am Schluß des Oktober und Hans Nielsens Absicht war, längs der Küste bis Christiansund hinauf zu gehen, und an jedem Ort, wo sich Freunde fanden, sie um sich zur Erbauung zu versammeln. Vom Christiansund wollte er durch das Sätersthal ziehen, um womöglich um die Weihnachtszeit in seinem Heimatsort einzutreffen.


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