Alexander Kielland
Schiffer Worse
Alexander Kielland

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Drittes Kapitel

Hans Nielsen Fennefos stammte aus einer Familie, welche durch persönliche Berührung mit Hauge zeitig zu religiöser Erweckung gelangt war. Von seiner frühesten Kindheit an hatte er von dem geliebten Lehrer gehört, die Mutter hatte ihm seine Lieder vorgesungen, und er selbst war nach Hauge benannt worden. Deshalb schien es natürlich, daß der Knabe in die Fußstapfen des Lehrers träte. Jener war aber starken, leidenschaftlichen Sinnes und bis zu seinem zwanzigsten Jahre bereitete er der Mutter durch sein wildes, leichtsinniges Leben vielen Kummer.

Da geschah es eines Nachts, als er von einem Gelage heimkehrte, und sich an der Mutter Stube vorbei zu seiner Kammer schleichen wollte, daß er die Mutter, die nicht hatte schlafen können, singen hörte:

»Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt,
Der allertreusten Pflege
Des, der die Himmel lenkt!

Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuß gehen kann.«Paul Gerhard.

Es war dies ein Gesang, der vor kurzem nach jener Gegend gekommen war, und auf den die Mutter, wie er wußte, großen Wert legte, er hatte sich aber bisher nicht besonders darum gekümmert.

»Dem Herrn mußt du vertrauen,
Wenn dir's soll wohlergehn;
Auf sein Werk mußt du schauen,
Wenn dein Werk soll bestehn.

Mit Sorgen und mit Grämen
Und mit selbsteigner Pein
Läßt Gott ihm gar nichts nehmen;
Es muß erbeten sein.«

Die Dünste vom wilden Gelage schwanden aus seinem Haupt; und als die Mutter mit ihrer feinen klaren Stimme wiederholte: »Gott läßt ihm gar nichts nehmen, es muß erbeten sein«, da ergriff es ihn so wunderbar, daß er in lautes Schluchzen ausbrach und hinauseilte, um es die Mutter nicht hören zu lassen. Und die ganze Nacht wanderte er umher auf dem Felde beim Hofe seines Vaters in Angst und heißen Thränen und im Kampf mit dem Herrn. Erst als die Sonne emporstieg, ward ihm die Gnade zu teil, beten und danken zu können.

Es war aber das erste Mal, daß er eine ganze Nacht außer dem Hause zugebracht hatte; und als er nun in die Stube trat, erhob sich die Mutter von der Bank und trat ihm mit Strenge entgegen. Aber als sie ihre Augen erhob und den veränderten Ausdruck in seinem Gesicht und seinem Wesen sah, da sagte sie: »Mein Sohn, sicherlich hat dich der Herr besucht diese Nacht.« Und mit froher voller Stimme sang sie:

»O freue dich, du liebe Seel',
Dein Retter und Immanuel
Hat dein Gebet erhöret;
Der Herr hat dich zu Gast gehabt,
Wie herrlich hat er dich gelabt,
Wie viel hat er bescheret!

Ich lob' und preise dich dafür,
O Gott, du meines Lebens Zier,
Wie fühl' ich mich entzücket.
Ich danke dir aus Herzens Grund
Für diese gnadenreiche Stund',
Die mich so sehr erquicket!«

Von diesem Tage an gab Hans Nielsen sein wüstes Leben auf und nachdem er mehrere Jahre hindurch die auf ihn einstürmenden Anfechtungen und Seelenkämpfe siegreich bestanden, gelangte er endlich zur Freimütigkeit des Geistes, so daß er mit seinen Angehörigen und anderen, mit denen er zusammentraf, über das eine sprach, was not thue. Auch in der Versammlung ward er zum Sprechen zugelassen, und bald waren alle darüber einig, daß man seit langer Zeit keine so anregenden Vorträge dort gehört habe, wie diejenigen Hans Nielsens. Indessen wollten die Aeltesten ihn nicht ausziehen lassen, um mit den Freunden ringsumher im Lande zusammenzukommen, ehe er, wie Hauge es bestimmt hatte, in der reinen Lehre völlig befestigt war und durch seinen Wandel gezeigt hatte, daß seine Bekehrung würdige Früchte getragen.

Erst nach seinem fünfundzwanzigsten Jahre ward er ausgesandt, und als er dann fünf bis sechs Jahre hindurch fast ununterbrochen von Ort zu Ort umhergewandert war, teils nach geschehener Aufforderung, teils nach eigener Eingebung, war er an der ganzen Westküste entlang und in dem Norden weit über Drontheim hinaus als Laienprediger wohl bekannt und hoch verehrt.

Allerdings war es vorbei mit jenen Zeiten,Am Schlusse des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts waren die Prediger in Norwegen trockene Rationalisten, welche nicht den religiösen Drang eines Volkes zu befriedigen vermochten, das sie nicht verstanden und dessen niedrige Kultur sie verachteten. Da begann ein ungelehrter Bauernsohn, Hans Nielsen Hauge, 1771 geboren, im Lande umherzuwandern, und durch Unterredungen und religiöse Versammlungen erweckte er in kurzer Zeit ein blühendes christliches Leben unter dem gemeinen Volke. Die Bauern ließen vom Trunk und von den Schlägereien ab, wandten sich der Arbeit zu und bald hatte die Bewegung zahlreiche Brennpunkte in dem weitausgedehnten Lande erhalten, wo Fabriken und industrielle Anlagen unter fleißigen Händen emporwuchsen, während Arbeiter und Arbeitsherren in brüderlicher Liebe sich um Gottes Wort sammelten.

Daß das Volk sich in dieser Weise selber half, sowohl in religiösen, wie in weltlichen Dingen, kam den Beamten höchst ungelegen. Die Prediger fanden willige Unterstützung bei den Juristen, und mit Hilfe einer alten Verordnung von 1741 gegen religiöse Versammlungen brachte man es dahin, daß Hauge ins Gefängnis geworfen ward.

Zehn Jahre hindurch ward er hier festgehalten. Da aber alles, was in unzähligen Verhören zu Tage gefördert ward, nur dazu diente, stets neue Zeugnisse von dem fleckenlosen Wandel, der großen Begabung und dem edlen Charakter Hauges darzubringen, mußten seine Feinde ihn zuletzt freigeben und sich damit begnügen, ihn der letzten Reste seines Vermögens zu berauben.

Wohl war Hauge von dem langen, ungesunden Gefängnisleben körperlich gebrochen; er lebte nur wenige Jahre noch, kränklich und voller Leiden, aber mutig und unverzagt bis zum letzten Atemzug. Er starb 1824. Aber erst im Jahre 1842 setzten die Vertreter des Volkes die Aufhebung jener alten Verordnung durch – trotz des königlichen Veto und trotz der Einsprache der Regierung, der Amtmänner, der Universität und der gesamten Geistlichkeit.

wo der Prediger in Begleitung des Landpolizeibeamten oder eines trunkfälligen Offiziers die religiösen Versammlungen auseinander trieb, den Prädikanten ausschalt oder ihn anspie und aus dem Kirchspiel zum nächsten Polizeibeamten transportieren ließ.

Waren nun gleich die Laienprediger jetzt weniger äußeren Gewaltthätigkeiten ausgesetzt, als in den früheren Tagen der Verfolgung, so gab es doch Gefahren anderer Art, welche ihre Stellung vielfach erschwerten.

Die Geistlichen nämlich waren keineswegs anderen Sinnes geworden. Da sie nun aber »diese Schwärmer, diese Schelme, diese Betrüger, scheinheiligen Schurken und Volksverführer« nicht mehr ins Gefängnis werfen und öffentlich ausschelten durften, griffen sie zu dem Mittel, sie heimlich zu belauern und sie zu verleumden. Dies aber ward für Hauges Anhänger und namentlich für die Führer und Prädikanten eine neue Heimsuchung. Denn da die Zahl der Anhänger beständig zunahm, war es unvermeidlich, daß Fälle vorkamen, wo einer von ihnen sich offenbarer Sünde hingab oder in Heuchelei und falscher Gottesfurcht ertappt wurde.

Sofort legten dann die Geistlichen den größten Eifer an den Tag. Von den Kanzeln herab und in den Häusern erzählten sie und wiederholten immer wieder die schrecklichsten Geschichten von diesen Haugianern, diesen scheinheiligen Menschen, die Gottes Haus verachteten und in ihren eigenen finsteren Versammlungshäusern allerlei abscheuliche Dinge trieben.

Und vom Beamtenstande breitete sich über die ganze sogenannte gebildete Klasse Mißtrauen, Abscheu, ja Haß gegen diese friedlichen und durchweg achtungswerten Menschen aus.

Danach bildete auch die Litteratur ihre häßlichen Gestalten niederträchtiger Laienprädikanten und ihre apostolischen Gestalten von Pröpsten und Predigern, den Männern des Lichts und des Friedens.

Die Schriftsteller jener Zeit wußten meistens wenig von den Laienprädikanten; sie glaubten aber an die Schilderungen, welche die Prediger von ihnen machten, denn die Prediger, die Männer des Friedens, waren ihnen gut bekannt. Sie kannten sie von ihren Besuchen auf den Predigerhöfen in den Ferien, die stets Glanzpunkte der Erinnerung aus der Jugend bilden, entweder in Mondscheinbeleuchtung in einer Sommernacht im Walde oder mit glänzend weißem Schnee und dem Klange ferner Schlittenglocken, die näher herankommen.

In diesem Rahmen stand der Prediger – hell, freundlich und doch so wohlthuend ernst. Welch muntere Tischreden konnte er nicht halten, wie konnte er nicht auf einen unschuldigen Scherz eingehen, und wie herrlich war nicht der Aufenthalt in dem geräumigen, mit allem reichlich versehenen Hause, das von der Fröhlichkeit der Jugend erfüllt und von des Vaters mildem Ernst überwacht war! Er war der Mittelpunkt von allem. Nicht bloß der Mutter und der Töchter Fürsorge drehte sich um ihn, sondern an allen Freuden und Spielen der Jugend mußte der Vater teilnehmen, wenn es die rechte Bedeutung haben sollte; man stopfte ihm gern seine große Meerschaumpfeife, man lief nach Fidibussen, wenn sie ausging, und alles sammelte sich teilnehmend im Kreise um ihn, während die Mutter ihn mit geübter Hand in die Ueberröcke, Shawls und Pelze einhüllte, wenn er am zweiten Weihnachtstage zur Filialkirche fahren sollte, um dort zu predigen.

Wer mochte sich nicht der stillen Sonnabendnachmittage erinnern, wo man eigentlich am liebsten außerhalb des Hauses war, um den Pastor nicht zu stören, der seine Predigt im Studierstübchen ausarbeitete, so daß der Tabaksrauch gleich einer blauen Schlange aus dem Schlüsselloch wirbelte; oder der Sonntagmorgen, ehe man zur Kirche ging, wenn man auf den Vater wartete, der sein Ei mit Rum verzehrte, um seine Stimme klar zu machen.

Und doch konnte ebenderselbe Prediger ein ganz anderer Mann sein, wenn er sich allein unter seinen Bauern in der Armen- und Schulkommission befand, und von dem Studierstübchen her hörte man bisweilen eine Stimme, welche man dem Manne des Lichts und des Friedens schwerlich zugetraut hätte.

Und wenn die jungen Leute sich in dem Hausflur versammelten, um sich zu irgend einem Ausflug zu rüsten, so konnte es sich wohl ereignen, daß ein Bauer in Frieskleidern aus dem Studierstübchen herausgetaumelt kam, während man in der Thür ein zorngerötetes Antlitz und einen heftig bewegten Schlafrock rasch verschwinden sah. Dann sagte die Mutter oder eine der Töchter: »Ach, der arme Vater! das war gewiß wieder einer von den bösen Haugianern, welche ihm so vielen Verdruß im Kirchspiel bereiten!«

Und diese Anschauungen erhielten sich selbst, nachdem der Pietismus bei der Universität zu Ehren und Würden gekommen war. Die neuen Lehrer und Prediger, die Hauge und seiner Bewegung nicht nur die größere Innigkeit in der Lehre und ihrer Ausübung verdankten, sondern die sich sogar das sanftmütige Aeußere, den süßlich-weichen Ton und die langgezogenen Zischlaute aus der Verfallperiode des Haugianismus angeeignet hatten, schienen schnell vergessen zu haben, daß das ganze christliche Leben, auf dessen morschen Trümmern sie ihr Dasein fristeten, vom Volke selbst von unten auf erkämpft worden war. Und gleich ihren gewaltthätigen Vorgängern versuchten sie die Fabel weiter zu verbreiten, daß sie die Hirten und Väter des Volkes seien; daß jeder, der ein Haar auf ihrem Haupte krümmte, der von ihrer Macht und ihrem Ansehen ein Tüpfelchen wegnehmen wollte, die Achtung des Volkes vor dem Heiligen untergrabe und mit vermessener Hand das uralte schöne patriarchalische Verhältnis zwischen der Gemeinde und dem geliebten Seelenhirten antaste! –

In der ersten Zeit seines Wanderlebens traf Hans Fennefos meistens Prediger aus der alten Schule an, die jedes seiner Worte und jeden seiner Schritte belauerten und ihm und seinen Freunden so viel Schaden und Verdruß wie nur möglich zufügten. Da galt es denn, genau auf sich und seine Freunde zu achten, und hier hatte der junge Laienprediger manchen Kampf mit sich selber zu bestehen. Denn er war von ungewöhnlicher Körperkraft und von rücksichtslosem Mut. Alte Leute sagten, daß er sehr an Hauge in der ersten Zeit seines Auftretens erinnere, ehe die Verfolgungen ihn gebrochen hatten.

In den Briefen, welche die Aeltesten in Hans Nielsens Heimat an die Freunde, die er besuchen sollte, vorausschickten, hieß es deshalb immer, daß man den jungen Mann unablässig zum Gehorsam gegen die anhalten müsse, die als Obrigkeit eingesetzt seien, damit kein Streit oder Aergernis sich erhöbe.

Auf diese Weise lernte er nach und nach seinen Sinn dämpfen, und es gelang ihm sogar bisweilen, Streitigkeiten zwischen der Gemeinde und dem Prediger zu schlichten. So war es Hauges Wille gewesen und vor dem beugte er sich wie alle die anderen Freunde.

Nur zu Zeiten flammte es noch auf in Hans Nielsens Gemüt. Durch die Erzählungen der älteren Leute war er von allen Begebenheiten in Hauges Leben genau unterrichtet. Er kannte die Namen aller Polizeibeamten und Richter, und namentlich aller Prediger, die den geliebten Lehrer verhöhnt und verfolgt und zu Grunde gerichtet hatten.

Und wohin er jetzt kam, da traf er ebendieselben Namen; denn die Gerichtshöfe und die Kanzeln hatten sich auf die Nachkommen jener alten verhaßten Verfolger vererbt.

Dann konnte die Bitterkeit ihn wohl übermannen, seine Worte fielen scharf und schneidend in die Versammlung und er sah, wie auch bei anderen dasselbe Gefühl aufstieg. Sie bezwangen sich aber und züchtigten sich gegenseitig, um stets zu gedenken, daß alle Obrigkeit von Gott eingesetzt ist.

Wenn Fennefos durch das Westland reiste, verweilte er stets einige Zeit bei Madame Torvestad. Die Stadt war der Mittelpunkt der weitverzweigten Bewegung und allmählich fühlte er sich hier mehr zu Hause, als in seiner eigentlichen Heimat. Der wirkliche Grund aber, weshalb es ihn so stark nach der Stadt zog und hier so lange fesselte, waren weder die Brüder noch Madame Torvestad. Denn sein hauptsächlichster Wirkungskreis waren die Landgemeinden. Gegen Madame Torvestad aber hatte er viel einzuwenden. Sie war ihm in manchen Dingen zu schlaff und die pietistische Schwärmerei, die sie zur Schau trug, war ihm zuwider, am meisten aber mißfiel ihm ihre Herrschsucht und ihr gebieterisches Auftreten in der Gemeinde und ihrem eigenen Hause.

Was ihm den Aufenthalt in der Stadt so lieb machte, war Sarah.

Jedoch liebte er sie nicht mit einem Verlangen, das ihm selbst bewußt gewesen wäre. Sie war so von religiösem Gefühl durchdrungen und in der Schrift und anderen guten Büchern so wohl bewandert, daß es für ihn ein beseligendes Gefühl war, mit ihr über geistliche Dinge zu reden.

Auch unter den Freunden stand Sarah in hohem Ansehen, und es war für die Alten eine wahre Herzensfreude, das junge Mädchen in der Versammlung sprechen zu hören. Wohl geschah dies nur selten und sie hatte auch nicht viele eigene Worte; aber sie wußte so viele Gesänge und Stellen aus religiösen Schriften auswendig und namentlich war sie in der Bibel so zu Hause, daß sich selbst von den Männern kaum einer darin mit ihr messen konnte.

Auf einem Tisch in Madame Torvestads Stube war ein Pult angebracht und hier lag die Bibel stets aufgeschlagen.

Dies war Sarahs Platz und daneben setzte Madame Torvestad heut einen bequemen Stuhl für den Schiffer Worse.

Es waren bei der Madame einige ernste ältere Frauen zum Besuch gekommen, sie setzten sich still nieder, legten die Hände in den Schoß und seufzten. Ein paar junge Mädchen drängten sich neben Henriette auf einer gar zu kurzen Bank zusammen und ein halberwachsener Junge mit bleichgelbem Gesicht voller Finnen und Sommersprossen und völlig stupidem Ausdruck, den seine Eltern von einer Versammlung in die andere schleppten, kauerte auf der äußersten Kante eines Stuhles dicht an der Thür.

Bald darauf kamen die Männer miteinander. Es waren die Gebrüder Endre und Nicolai Egeland, die den größten Landhandel in der Stadt hatten, ferner Sivert Jespersen, der in einigen Jahren als Fischhändler ein Vermögen erworben hatte, und vier bis fünf andere der angesehensten Haugianer, teils Handwerker, teils Kaufleute.

Madame Torvestad reichte einem jeden die Hand und suchte ihnen Platz zu schaffen, was zuletzt seine Schwierigkeiten hatte, obgleich die Stube geräumig war und es an Stühlen nicht fehlte.

Hans Fennefos trat zu Sarah heran, begrüßte sie und fragte, für wen der Lehnstuhl hingestellt sei.

»Schiffer Worse wird heut abend hierher kommen,« erwiderte Sarah ohne aufzusehen. Hans Nielsen ward überrascht und unangenehm berührt, ohne es sich recht klar machen zu können, weshalb. Madame Torvestad begrüßte ihn freundlich, sie setzte sich aber noch nicht auf ihren Platz, sondern ging etwas unruhig im Zimmer umher, bis Jakob Worse endlich kam.

Als er die Thür öffnete, ergriff ihn eine unwillkürliche Lust, wieder umzukehren. Er kam aus seinen luftigen Zimmern, wo der Abendhimmel noch etwas Helle verbreitete. Hier aber war es dunkel und dumpfig; zwei Talglichter in messingenen Leuchtern standen auf dem Tisch und beschienen das Bibelpult; sonst war in der Stube nichts zu sehen, als eine Reihe von Gesichtern längs den Wänden. An Flucht war jedoch nicht zu denken, Madame Torvestad reichte ihm freundlich die Hand und zog ihn ins Zimmer hinein.

Ueberdies kannten ihn hier alle; die Männer erhoben sich, schüttelten ihm die Hand und hießen ihn willkommen.

Es herrschte allgemeine Freude in der Versammlung über seine Anwesenheit, denn Jakob Worse stand in der Stadt in großem Ansehen und bisher war er eher ein Widersacher und Verspötter als ein Freund der Haugianer gewesen. Man nickte und lächelte der Madame Torvestad zu und sie erfreute sich ihres Triumphes.

Keiner war aber so froh über das Ereignis, als Sivert Jespersen. Er und Worse waren oft beim Fischfang an den nördlicher gelegenen Küsten zusammengetroffen und Sivert Geschwind – wie man ihn nannte – war außerhalb der Versammlung ein lebhafter, unternehmender Mann. Sein Mund strömte immer von Gottes Wort und geistlichen Gesängen über; das hinderte ihn aber nicht daran, bei der Arbeit selbst tüchtig mit anzufassen oder mutig Sturm und Wogen zu trotzen, wenn es galt, zuerst zum Fischplatz zu kommen.

Worse brummte ein wenig und strich sich über sein Otterfell, als Sivert Geschwind ihm die Hand drückte und ihn herzlich willkommen hieß. Sie hatten früher nämlich einmal einen Streit über eine Ladung Salz gehabt, von der Worse glaubte, daß Sivert ihn darum beschwindelt habe. Worse hatte dies dem anderen oft gerade ins Gesicht gesagt, wenn sie beim Fischfang zusammentrafen, aber Sivert pflegte dann nur freundlich zu lächeln und ihm auf die Schulter zu klopfen. Die Madame führte nun Worse zu seinem Lehnstuhl; er fühlte sich höchst ungemütlich und verwünschte im stillen sowohl Lauritz wie die Madame. Lauritz aber saß glückselig auf einem Schemel hinter zwei dicken Frauen, zwischen denen hindurch er Henriette sehen konnte.

Sarah begrüßte verschämt den Schiffer Worse; er strich mit der Hand ihr Haar, er hatte sie schon als kleines Mädchen gekannt.

Als sich alle wieder gesetzt hatten und es ganz still geworden war, sagte Madame Torvestad: »Nun, Erich Pontoppidan, mein Junge, kannst du mir erzählen, wovon in der Versammlung geredet wurde?«

»Von der Heiligung,« stieß der bleiche Junge an der Thür hervor, so rasch und tonlos, als ob man auf einen Knopf gedrückt hätte.

»Welches Lied habt ihr denn gesungen, du erinnerst dich doch, Henriette?«

Henriette war in der Versammlung gewesen; aber, ganz von der traurigen Nachricht hingenommen, daß Lauritz nicht bei ihnen wohnen solle, hatte sie keine große Ausbeute von der Andacht gehabt. Und als sie dann nach Hause gekommen war und gehört hatte, daß die Mutter es doch erlaubt, hatte die Freude sie so überwältigt, daß die Frage der Mutter ihr wie ein Eimer Wasser über den Kopf schlug. Sie ward feuerrot und konnte kein Wort hervorbringen.

Madame Torvestad warf ihr einen strengen Blick zu und sah dann zu Erich Pontoppidan hinüber; sobald ihr Auge den Knopf berührt hatte, antwortete er, ohne eine Miene zu verziehen.

Mehrere aus der Versammlung nickten und lächelten dem Jungen zu. Seine Mutter, eine dicke Frau mit gelblichem Gesicht und sein Vater waren sehr stolz auf ihn. Auf Erich schien dies alles aber gar keinen Eindruck zu machen.

Nach Henriette blickte keiner, als Lauritz, sie aber suchte sich beschämt hinter den Freundinnen zu verstecken.

Hierauf stimmte Madame Torvestad jenen Gesang an und die anderen fielen ein:

»Nun sollen keine Sünden
Sich mehr mit Allgewalt,
In meinem Fleische finden.
Ich treib' sie aus alsbald!«

Alle sechs Strophen des Liedes wurden gesungen. Für Worse hatte der ganze Gesang, alle diese Stimmen, die hohen, scharfen Töne der Frauen und der Männer tiefes Brummen etwas Unheimliches und Widriges. Es ging langsam, unendlich langsam und die Pausen zwischen den Strophen füllte Sivert Jespersen durch ein seltsames Tremolieren aus.

In der Versammlung hatte einer der Aeltesten geredet, der hier nicht anwesend war. Madame Torvestad warf daher die Frage auf, ob nicht jemand ihr etwas von jener Rede mitteilen wolle. Sie sah dabei Fennefos an und unwillkürlich richteten sich auch die Blicke der anderen auf ihn; er aber saß da mit zusammengekniffenen Lippen und sah nicht danach aus, als wolle er heut abend etwas sagen.

»Ich meinesteils,« hub daher endlich Sivert Jespersen an, »bin der Meinung, daß der Alte gut und mit inniger Einfalt sprach. Er redete von dem Worte des heiligen Geistes – wie der Erich dies ganz richtig bemerkte – und zum Ausgangspunkt wählte der Alte das Lutherwort: ›Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Kraft und Vernunft an Christum glauben oder zu Christo kommen kann,‹ und er bewies mit rechter Klarheit – so schien mir es wenigstens – sowohl aus der Schrift, wie auch aus der täglichen Erfahrung, daß wir im Geistigen und Zeitlichen zu kurz kommen, wenn wir das Fleisch für unsere Kraft halten und uns auf unsere eigene schwache Vernunft verlassen.«

Nicolai Egeland, der geistig nicht sehr begabt war, sagte jetzt: »Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben.«

Er wußte in der That nur vier oder fünf Schriftstellen auswendig, welche er stets anwandte, so gut es gehen wollte, und manchmal waren sie durchaus nicht angebracht. Die Leute aber kannten sein treues Gemüt und hatten Nachsicht mit ihm. Er hatte nun einmal kein größeres Pfund anvertraut erhalten.

Eine von den Frauen seufzte und meinte: »Ja, Sivert Jespersen, das ist gewißlich wahr, mit unserer eigenen Vernunft werden wir in den geistlichen Dingen nicht weit kommen.«

Madame Torvestad pflegte bei den Versammlungen in ihrem Hause in einer Menge von kleinen Büchern zu blättern, die vor ihr auf dem Tisch, Sarah gegenüber, lagen. Es waren dies teils Traktate, teils Gebetsammlungen und religiöse Gesänge. Wenn sie dann etwas fand, was zu dem angeregten Thema paßte, so flocht sie es mit ihren eigenen Worten zusammen, so daß es halb zum Vortrag, halb zur Vorlesung wurde.

»Ein Christ muß stets dessen eingedenk sein,« hub sie an, »daß es viele hohe und geheimnisvolle Wunderwerke im Haushalt der Gnade gibt, welche niemals während des Zeitlichen von dem armen Menschenverstand erfaßt und begriffen werden können. Deshalb brauchen wir uns niemals damit zu beschweren, daß wir den Versuch machen sie zu verstehen, sondern müssen auf Gottes Allmacht und Aufrichtigkeit, welche uns dieselben offenbart hat, vertrauen. Ja, sobald die Vernunft sich daran machen will zu überlegen, wie das möglich sein kann, was Christus sagt, so wissen wir sogleich, daß es die Stunde der Versuchung und daß der Teufel nahe ist, die alte vernünftige Schlange, welche Eva durch ihre Hinterlist verführte, und dann müssen wir augenblicklich Gottes Namen anrufen zum Schutz gegen den Tod, ja gegen die Hölle selber. Möge uns allen dazu die Gnade vergönnt werden.«

»Amen,« sagte Nicolai Egeland.

»Aber, ihr Lieben,« fragte Sivert Jespersen sich zu den Jüngeren in der Versammlung wendend, »wie sollen wir dieser Gnade teilhaftig werden?«

»Das ist das Werk des heiligen Geistes,« hieß es von der Thüre her.

»Richtig geantwortet, lieber Erich! Und wie nennst du denn das Werk des heiligen Geistes?«

»Die Heiligung.«

»Und aus welchen Stücken besteht die Heiligung? Kannst du auch das beantworten?«

»Die Wiedergeburt, die Rechtfertigung und die Erneuerung.«

Wieder sahen alle mit Wohlgefallen den gescheiten Jungen an. Er aber saß da, ohne eine Miene zu verziehen, mit halboffenem Munde, stets bereit, wenn jemand auf den Knopf drücken sollte.

Nun konnte Nicolai Egeland nicht länger an sich halten und er begann die längste Bibelstelle, die er wußte: »Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen . . .« aber Madame Torvestad unterbrach ihn sanft: »Es ist ein wunderbares Ding mit dem wiedergeborenen Menschen, er ist nicht der Sklave einer einzigen Sünde oder weltlichen Lust, ja nicht einmal unschuldiger Dinge. Wenn ich sage, er ist nicht Sklave, so will ich damit nicht in Abrede stellen, daß er nicht in einer schwachen Stunde von der Sünde überfallen und überwunden werden könnte, aber er verbleibt nur nicht in derselben. Wird er vom Teufel oder vom Fleisch überrumpelt, so daß er in eine Sünde verfällt, so steht er wieder auf, klagt Gott seine Not und sucht Vergebung. Und solange er sich wieder erhebt im Glauben und zum Frieden mit Gott kommt, wird er stets wieder der Sünde überlegen, so daß er nicht aufhört im Geiste zu wandeln.«

Sarah blickte zu Fennefos hinüber, denn sie wußte, daß er das Buch, aus dem die Mutter vorgelesen hatte, nicht billigte. Er saß aber ganz unbeweglich. In der spärlichen Beleuchtung konnte sie nur das kräftige reine Profil schwach erkennen, das etwas nach oben gekehrt war, als ob er zur Decke hinaufsähe.

Da er durchaus keine Miene machte, sich heute abend hören zu lassen, ward das Gespräch nur noch kurze Zeit ohne große Lebhaftigkeit fortgesetzt. Sarah saß unablässig bei der Bibel und je nach dem Lauf des Gespräches schlug sie hier und dort eine Stelle auf, teils zur eigenen Belehrung, teils um einem der anderen zu Hilfe zu kommen. Sie fand leicht alles, was sie suchte, und die wichtigsten Stellen wußte sie auswendig.

Der Schiffer Worse hatte kein großes Verständnis von der Heiligung und er fühlte sich im höchsten Grade abgespannt. Das einzige, das ihn noch wach erhielt, waren Sarahs kleine Finger, die er so fleißig zwischen den Blättern des heiligen Buches sich bewegen sah.

Endlich aber war er doch nahe daran, von der Müdigkeit übermannt zu werden; zum Glück schlug Madame Torvestad jedoch vor, daß man zum Beschluß einen Gesang anstimmen solle.

Sarah nahm ein Gesangbuch, hielt es dem Kapitän hin und nun begann das Lied, Worse sah halb im Schlaf nach ihren Fingern. Da richtete sie plötzlich die großen dunklen Augen auf ihn und sprach: »Sie müssen mitsingen.«

Der Schiffer Worse ward mit einem Male völlig wach und er brummte die Worte mit, jedesmal, wenn sie den Finger weiterschob. Kirchengesang war niemals seine Sache gewesen, und wenn Worte vorkamen wie Gott und Jesus, wagte er es kaum, sie in seinen sündhaften Mund zu nehmen.

Nach und nach fing er an sich wohler zu fühlen. Von Zeit zu Zeit sah er von ihren Fingern hinauf nach ihrem Arm und der kräftigen Schulter, der matten weißen Haut hinter den Ohren und unter dem Kinn, wo es sich so weich bewegte, wenn sie sang.

Sie saßen so vertraulich und nahe bei einander, indem sie sich mit dem Gesangbuch zu ihm hinüberbeugte, so daß sich ihm die Empfindung von etwas Warmem, Weiblichem mitteilte, das erste trauliche Gefühl, das ihn seit seiner Heimkehr angekommen war.

Auch noch ein anderer von den Anwesenden befand sich ungemein wohl, obgleich auch er der Erbauung keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte; das war Lauritz Seehus in seiner Ecke.

Er fühlte sich so glückselig nach den ausgestandenen Leiden, daß er durchaus keine Langeweile empfand, wie ihm dies sonst wohl bei den Versammlungen geschah; er wandte kein Auge von Henriette. Aber es verfehlten auch die heiligen Worte und der Gesang, die er so lange nicht gehört, ihre Wirkung nicht auf ihn; er fühlte sich bewegt, und dankte Gott dafür, daß er ihm die kurze aber harte Prüfung gesandt, so daß er jetzt um so besser einsehen könne, wie gut er daran sei. Nachdem das Lied beendet war, boten die Töchter des Hauses den Gästen Thee und Butterbrot an, Endre Egeland sprach ein Tischgebet und dann ließen sich alle das frugale Abendmahl gut schmecken, worauf die Gesellschaft sich kurz nach neun Uhr trennte.

Als Worse wieder in seiner Stube stand und die Gäste aus dem schmalen Gäßchen über den Markt hingehen sah, wußte er nicht recht, ob er lachen oder sein Geschick verwünschen sollte, wenn er daran dachte, daß er mit diesen Leuten den ersten Abend nach seiner Rückkehr zugebracht.

Da unten ging Endre Egeland, von dem man erzählte, daß er die Bauernmädchen in sein Packhaus lockte, und dieser Sivert Geschwind, der ihn um das Salz betrogen hatte. Wenn Randulf das wüßte!

Dennoch wollte es ihm gar nicht aus dem Sinn, wie traulich es gewesen, mit Sarah zu singen, und es kam ihm vor, daß es in seinen großen luftigen Stuben einsam und ungemütlich sei.


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