Alexander Kielland
Schiffer Worse
Alexander Kielland

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Fünftes Kapitel.

Wenn die Sonne im Spätherbst hinter diesen gelben Wolken unterging, die Sturm und Regen verkündeten, senkte sich über die kleine Stadt eine Finsternis, der man durchaus keinen Widerstand leistete, es sei denn durch die kleine Laterne, welche an der Mauer beim Eingang zum Rathause brannte. Sonst war es dunkel, pechdunkel in den engen, winkeligen Gassen und unten an der Schiffbrücke, wo man gar leicht geradeswegs ins Wasser hinein spazieren konnte, wenn man etwas im Kopfe hatte oder fremd war.

In den kleinen Laden brannte eine Thranlampe oder ein Talglicht; in den größeren waren in neuerer Zeit Oellampen eingeführt, welche alten Leuten Augenschmerzen verursachten. Ueber die Pfützen auf der Straße fiel ein matter Schimmer, so daß die, welche gut Bescheid wußten, auf den hervorragenden Steinen sich einigermaßen trockenen Fußes bewegen konnten. Die meisten Leute aber trugen hohe Stiefeln und gingen unverzagt durch dick und dünn, daß man es weithin platschen hörte. Hin und wieder sah man eine Laterne schwanken, bald ängstlich zu Boden geneigt, um einen Uebergang über die bösesten Stellen zu suchen, bald ihr Licht einem Vorübergehenden gerade ins Gesicht oder an den Wänden der niedrigen hölzernen Häuser entlang werfend. Das waren Damen, die mit ihren Haubenkörbchen, aus denen die Stricknadeln hervorsteckten, in Gesellschaft gingen, oder ein Dienstmädchen, das vorsichtig einigen kleinen Mädchen vorleuchtete, welche zur Tanzstunde sollten, und mit ihren dünnen weißen Beinchen und großen Ueberschuhen an den Füßen hinterher gehüpft kamen. Nach sieben Uhr aber erloschen die Lichter in den Läden meistens und es war still auf den Straßen; nur hin und wieder fiel ein Lichtstreifen auf die Wasserpfützen, wenn die Thür einer Branntweinschenke, aus welcher wüster Lärm von Matrosen und Arbeitsleuten herausdrang, aufgemacht wurde.

Dann begannen die Nachtwächter vom Rathause aus sich über die Stadt zu verbreiten. Meistens waren dies alte Matrosen und Schiffszimmerleute, die nicht länger arbeiten konnten, Leute mit krummen Rücken, schwachem Gehör und grober Stimme. Sie kamen langsam heran in ihren langen dicken Friesröcken, die Laterne in der linken Hand und mit der rechten den schweren Stab mit der langen eisernen Spitze aufs Pflaster stoßend, so daß man sie schon in weitem Abstande hörte. An den bestimmten Straßenecken riefen sie die Stunden und die Windrichtung ab – ein jeder in seiner ihm eigentümlichen Weise, so daß nur die Leute in dem bestimmten Revier wußten, was gerufen ward, während sonst kein Mensch es verstanden haben würde. Wenn dann die Leute zu guter bürgerlicher Zeit, etwas nach zehn Uhr, aus der Gesellschaft kamen, schwankten wiederum einige Laternen durch die Straßen; man begegnete den Wächtern, tauschte ein »Guten Abend« aus und die jungen Leute fragten nach der Stunde, um die Wächter zu necken, die Alten aber fragten ernsthaft nach dem Winde. Nach dieser Zeit aber war die Stadt ganz finster und wie ausgestorben. Die Nachtwächter hatten sich in ihre wohlverborgenen Schlafwinkel zurückgezogen, die sie nur höchst notgedrungen verließen, um irgend etwas abzurufen, oder wenn sich in der Straße schwere schleppende Schritte von alten steifen Lederstiefeln näherten.

Das war die Brandwache, welche die Runde machte. Sie bestand aus den ältesten Wächtern, die stocktaub geworden waren. Es waren ihrer vier oder fünf, die zusammen gingen; sie hatten den Rockkragen hoch hinaufgeschlagen und die Pelzmütze tief heruntergezogen, so daß sie von einem Feuer kaum etwas gemerkt hätten, bis es ihnen unter der Nase gebrannt. Aber dennoch schlief die Stadt ruhig, ganz ruhig. Und erwachte jemand aus dem Schlaf und mußte er an all das Korn denken, das auf dem Speicher lag; oder kam Reihe auf Reihe von Bildern, deutlich, unerbittlich, wie sie im Dunkel der Nacht kommen, von einem Funken, der irgendwie glimmte und um sich griff und die Wand entzündete und sich mächtig ausbreitete und das Haus überspannte und Korn, Salz, Tonnen, Laden und Warenlager, alles, alles verzehrte – da ertönte der schleppende, schwere Schritt auf der Straße von alten steifen Wasserstiefeln, Stöcke wurden aufs Pflaster gestoßen, sie näherten sich und zogen vorbei. –

Ach, die Brandwache! Gott sei Dank, so ist alles in Ordnung! So konnte man ruhig weiter schlafen. Oder es erwachte ein Kind aus einem bösen Traum und lauschte gespannt, geängstigt von scheußlichen Gestalten – Dieben und Schornsteinfegern, welche durchs Küchenfenster kamen und den Vater und die Mutter mit langen Messern ermorden wollten – da erscholl von der Straßenecke her: »Hör' die Wächter, hör'! Die Glocke hat Zwei geschlagen; der Wind ist still!«

Ach! der Nachtwächter! Ach ja, der Nachtwächter war da! Dann konnten keine Diebe oder Schornsteinfeger durchs Küchenfenster kommen; alle bösen Menschen mußten zu Hause bleiben, sonst würde der Wächter kommen und sie aufs Rathaus bringen. Ach, es gab wohl auch keine bösen Menschen, sondern nur gute, liebe Leute – und Nachtwächter. So schlief das Kind wieder ein, völlig beruhigt und dankbar, und es hatte weiter keinen Traum mehr.

Aber, aber – wenn so die drei schrecklichen Brandschüsse donnerten, daß die Scheiben klirrten und viele von ihnen sprangen, dann gab es auch einen entsetzlichen Schrecken. Ueber den dunklen Straßen glühte es rot in der dicken Regenluft wie von einem flammenden Feuermeer, und wenn es auch nur in einem Schornstein brannte; der lange Tambour Jürgen schlug wie toll auf der Trommel mit dem dicken Ende der Trommelstöcke, und vielstimmig vom tiefsten Baß bis zum höchsten Diskant erklang es durch die Straßen hin: »Feuer, Feuer, Feuer!« Beim Spritzenhause sammelten sich Leute mit Laternen und schrieen durcheinander nach den Schlüsseln. Die Schlüssel? Die hingen in guter Ruh, hinter dem Bett des Brandinspektors. Rasch hin zum Brandinspektor! In der pechschwarzen Finsternis rannte jemand ihm gerade auf den Leib, so daß das Schlüsselbund weit weg in eine Straßenpfütze fiel. Während man mit Laternen danach suchte, sprengten einige Schiffer die Thür und die Spritzen rumpelten mit unheimlichem dumpfen Laut von dannen. Alte Frauenzimmer in Nachtjacken liefen auf die Straße mit einer Waschkanne oder einem Plätteisen in der Hand und drinnen im Hause sammelten sich alle im Schlafzimmer der Eltern. Die kleinen Kinder saßen im Bette und weinten; die erwachsenen Töchter – halb angezogen, das Haar über den Rücken herabhängend, bleich und vor Schreck zitternd – sollten sie trösten. Die Mutter aber ließ Kaffee kochen – warmer Kaffee ist gut für alles und zu jeder Zeit, und der Vater kam hin und wieder nach Hause und berichtete, wie es mit dem Feuer stände.

Die Knaben hatten sich sogleich angezogen und waren verschwunden. Für sie war das Feuer ein Fest, wenn auch ein Fest des Schreckens. Der rote Himmel über der schwarzen Nacht, die Flamme, die bisweilen aus dem dicken Rauch emporwirbelte, die Männer, welche umhersprangen und laut riefen – dies alles erfüllte sie mit einer Spannung wie von zehn Romanen; in dem Drange, etwas Ungeheures zu sein, sich durch etwas unerhört Mannhaftes auszuzeichnen, stürzten sie in Häuser hinein, wo weder Feuer noch Gefahr war, und rüttelten mit Riesenkräften an den festesten, unbeweglichsten Gegenständen, um zu retten. Der Brandinspektor stand bei den Spritzen und kommandierte. Zwei Reihen von Männern und halberwachsenen Knaben reichten die vollen Wassereimer heran und die leeren wieder zurück. An der See oder unten in einem Brunnen wechselten junge Seeleute miteinander ab, die Brandeimer zu füllen, bis sie selbst durchnäßt waren, oder die Kräfte ihnen ausgingen. Offiziere der Bürgergarde im blauen Leibrock mit weißen Schnüren liefen umher und waren überall sich selber und anderen mit ihren langen Säbeln im Wege. Mitten im Feuer aber standen wiederum Seeleute. Sie waren in den Häusern und retteten, bis das Dach fiel, oder oben auf den Nachbarhäusern, wo sie nasse Segel ausbreiteten, oder sie hieben Ställe und Plankenwerk nieder.

Thomas Randulf und Jakob Worse waren von Jugend auf bekannt als die mutigsten Helfer bei Feuersbrünsten. Stets waren sie die ersten auf dem Platz, trugen die alten und kranken Leute aus den brennenden Häusern und stellten sich beim Löschen auf die dem Feuer nächsten und gefährlichsten Punkte. Sie waren es im Grunde, die das Ganze leiteten, obgleich der Brandinspektor sowohl gelbe als feuerrote Federn auf seinem dreieckigen Hut hatte.

War Feuer in der Stadt ausgebrochen, so schwebten namentlich die Kaufleute in großer Angst; denn nur sehr selten hatten sie ihre Habe versichert. Viele Haugianer waren sogar der Meinung, das dies sündhaftes Mißtrauen gegen die Vorsehung sei, und einige sagten, sie hätten mit Gott versichert. Wenn aber der Wind in die Straßen hineinfegte und das eine von den kleinen hölzernen Häusern nach dem anderen in Flammen aufging, da verloren auch die Klügsten und Frömmsten die Besinnung und liefen in den Speichern umher, schleuderten Mehlsäcke und Korn in die See hinaus, sich im Schweiße ihres Angesichts unnötig abarbeitend, während sie das Geld im Comptoir zu retten vergaßen. Durch Feuer und Rauch aber, hoch über dem Lärmen und Rufen ertönten die Schläge der großen Glocke an der Domkirche – zwei oder drei langsame Schläge, dann eine lange Pause, darauf wieder einzelne Töne mit Pausen dazwischen. Das klang so schwer und hoffnungslos! Es war nicht der Schall der Sturmglocke, welche die Menschen zur Hilfe und Rettung herbeirufen sollte; es war das Gebet der Kirche um Erbarmen, der wiederholte verzweifelte Ruf zu Gott, er möge das verzehrende Feuer löschen. –

Die kleine stockfinstere Stadt konnte aber in Winternächten auch durch ein anderes Ereignis in die lebhafteste Spannung geraten. Das war um die Weihnachtszeit oder etwas nach Neujahr, wenn bei Nordwestwind Schneegestöber und sternheller Himmel rasch miteinander abwechselten.

Plötzlich tauchte ein Boot am Hafeneingang auf, dann ein zweites und ein drittes, darauf ein größeres Fahrzeug und wiederum ein paar Bote. Sie wendeten sich nach verschiedenen Richtungen im Hafen und suchten im Finstern die Anlegeringe bei den Speichern oder an der Schiffbrücke aufzufinden. Ein Mann sprang ans Land und lief so schnell er konnte, zur Stadt hinein; die großen Wasserstiefeln drückten Elefantenspuren in die dünne Schneeschicht, welche das Pflaster deckte. Der Wächter hob seine Laterne empor, um sich den Mann anzusehen. Seine Stiefeln, seine Kleider, bis ganz hinauf zum gelben Südwester, schimmerten wie Silber von unzähligen blanken Sternchen. Der Wächter schmunzelte; er wußte, was das zu bedeuten hatte, und da er gerade an der Ecke des Markts vor Schiffer Worses Hause war, rief er: »Nordwestwind! Die Heringe sind da!«

Immer mehr Bote, immer mehr kleine Fahrzeuge liefen ein und hie und da klirrte ein fallender Anker. An die Bretterwand der Speicher wurde heftig angeklopft und alsbald sah man drinnen Lichter sich eilig hin und her bewegen. Die Thür im untersten Stock ward aufgeschlagen und das Licht fiel mit hellem Schein über die Leute in den Boten und die silberglänzende Masse großer dickbäuchiger Frühjahrsheringe.

In der Stadt wurde bei den Kaufleuten angeklopft; es dröhnte im ganzen Hause, wenn der Mann in den Wasserstiefeln einen von der Straße aufgerafften Stein gegen die Holzwand schleuderte; er brauchte aber nicht zu befürchten, ausgezankt zu werden, er wußte, daß er willkommen sei. Alles erwachte und dachte im ersten Augenblick, daß es im Hause brenne. Der Vater aber riß das Fenster auf.

»Ich soll von Ivar Oestebö grüßen, er habe vierhundert Tonnen für Sie gekauft.«

»Kennst du den Preis?«

»Drei Mark achtzehn Schilling. Wir liegen beim Vorderspeicher mit achtzig Tonnen, die anderen sind dicht hinter uns.«

»Welchen Wind haben wir?«

»Nordwest mit Schneegestöber.«

»Lauf schnell hinauf zum alten Hans, sage ihm, er solle die Frauenzimmer versammeln, er weiß Bescheid.«

Das Fenster ward zugeschlagen, der Mann in den Wasserstiefeln lief weiter und rannte in der Finsternis gegen andere Männer, die es auch eilig hatten. Der Kaufmann aber warf sich hastig in den Speicheranzug, der auf seinem bestimmten Platz hing. Seine Gattin ermahnte ihn eifrigst, doch zwei der dicksten wollenen Jacken anzuziehen, was er auch nicht unterließ, denn er wußte, was eine Nacht auf dem Speicher bei Nordwest und Schneegestöber sagen will.

Jedesmal, wenn sich der Himmel überzog, ward der Wind stärker, so daß die Schneeflocken umherwirbelten; sonst aber wehte nur eine frische Nordwestbrise, bei der fortwährend neue Fahrzeuge einliefen, so daß zuletzt der ganze Hafen von Rufen und Lärm und vom Plätschern der Wellen und dem Klatschen der herabgelassenen Segel und dem hellen wohlklingenden Laut der herabrollenden schlanken Ankerketten erfüllt war. In allen Speichern ward es hell bis ins vierte Stockwerk hinauf, hie und da wurden Thranlampen angebracht, Leute strömten herbei, Männer, Frauen und junge Mädchen; die Salzkammer ward geöffnet, der Böttcher wälzte die Tonnen heran; draußen in den Böten wurden die Leute ungeduldig und riefen zum Speicher hinauf, daß sie jetzt nicht länger warten wollten, und die ersten vier blanken Heringe wurden hereingeschleudert.

Nun war die ganze Stadt bis zum fernsten Winkel benachrichtigt; hinter den kleinsten Fenstern ward es hell und unzählige Kaffeekessel wurden ans Feuer gesetzt. Ueberall herrschte reges Leben und Munterkeit; die Heringsflotte war mit ihrem Fang zurückgekehrt, auf den alle gewartet hatten und von dem alle etwas erwarteten. Die Frauen und Mädchen, welche die Heringe ausweiden sollten, zogen unter Lachen und Scherzen die dazu bestimmten Kleider an, obgleich es so kalt war, daß ihnen die Zähne im Munde klapperten. Vor allen Dingen sorgten sie dafür, ein dickes Tuch sorgfältig über den Kopf zu binden, so daß nur die Augen und die Nase frei blieben; denn wenn Heringslake ins Haar kam, so gab es wunde Stellen. Dann liefen sie eiligst fort, um zu dem Speicher zu kommen, wo sie sich zur Arbeit verdungen hatten. Im Nu fanden sie den für sie bestimmten Platz mitten in der hohen Schicht von Fischen, die ihnen bis über die Holzschuhe reichte, neben Tonnen und Salzkübeln und dem unseligen Talglicht, das auf einem Pflock befestigt und zwischen den Heringen niedergesteckt war, und durch Umfallen, Schneuzen mit nassen Fingern und anderen Widerwärtigkeiten viel Unheil anrichtete. Dann ward das kleine blanke Messer hervorgezogen und ein Fisch nach dem anderen blitzschnell aufgeschlitzt. Nun war der Schnee voll von Elefantenspuren, und vergebens legten sich neue Schichten darüber; denn sie wurden sofort wieder zerstampft.

Nur im oberen Teil der Stadt, in den breiteren Straßen und bei der Schule lag noch so viel Schnee, daß die Schuljugend, als es endlich Morgen ward, eine kleine Schlacht auskämpfen konnte. Wenn die bleichen, ungesund aussehenden Zöglinge der obersten Klasse ihre tote Last griechischer und lateinischer Bücher zur Schule schleppten, mit ihren Gedanken fern in längst verschwundenen Kulturen, die eine Hälfte des Gehirns voll von grammatischen Regeln und die andere Hälfte voll von den Ausnahmen, und sie auf ihrem Wege einem Haufen von den Mädchen begegneten, die nach Hause gingen, nachdem sie die halbe Nacht wacker gearbeitet hatten, so konnte es wohl geschehen, daß die munteren Mädchen lachend die Köpfe zusammensteckten. Sie hatten die Tücher herabgezogen, um den Mund freizumachen, laut plaudernd und einander lustig zurufend, nahmen sie die Mitte der Straße ein, warm und rotwangig von der Arbeit, voll blanker Fischschuppen an den Kleidern, ja bis zur Nase hinauf. Viele von ihnen waren von demselben Alter wie die gelehrten jungen Herren, oder wohl noch jünger; dennoch fühlten sie sich ihnen weit überlegen und lachten überlaut über die halb verwunderten, halb verächtlichen Blicke, die ihnen zugesandt wurden. Vielleicht fühlten sich die jüngeren gelehrten Herren einen Augenblick getroffen. Sie suchten sich aber durch ein »plebs plebis« oder ein »semper varie et mutabile«, oder einen anderen klassischen Witz zu trösten. Sie wußten, daß die Fischer in der Nacht heimgekehrt seien; sie sahen, wie der Hafen von Fahrzeugen wimmelte und die Geschäftigkeit, die in der ganzen Stadt herrschte.

Was ging dies aber sie an? War Geldverdienst etwas, mit dem ihre Gedanken sich zu beschäftigen hatten? Ihre Welt lag über der der rohen Masse; sie wanderten zum Parnaß und verachteten tief die niedrigen Seelen, den Pöbel, der sich sein ganzes Leben hindurch abarbeitete, vornübergebeugt wie das Tier, ohne den göttlichen Funken von dem heiligen Altar der Wissenschaft. Diese tiefe Verachtung des Volkes, welches arbeitet, die bewahrten sie treulich, bis sie wieder herabkamen vom Parnaß und Beamte wurden. Dann lernten sie wohl treffliche Reden halten über das Aufblühen der Erwerbszweige; aber ein wirkliches Verständnis dafür hatten sie nicht.

Von den Beamten waren es eigentlich nur die Prediger, die sich über ein gutes Ergebnis des Fischfangs freuten; denn es pflegten dann die ihnen von der Gemeinde dargebrachten Opfer reichlicher zu fließen.

Wenn der Fang gut ausgefallen war, wenn sich das Geld haufenweise unter das Volk verbreitete, so daß jeder das Nötige bestreiten und etwas vorwärts kommen konnte, so pflegten die Juristen laut über schlechte Zeiten zu klagen. Wenn aber das Volk Not litt, wenn der Fang fehlgeschlagen war, wenn die knappen Zeiten die Einnahmequellen versiegen ließen, so daß Fallimente und Auspfändungen und Zwangsversteigerungen mit hohen Prozenten und Sporteln an der Tagesordnung waren, dann hatten die Juristen ihre besten Tage. Abgesehen aber von den Beamten und den wenigen Familien, die von Pensionen oder Zinsen lebten, war über die ganze Stadt eine fröhliche, festliche Stimmung ausgebreitet, wenn der Fischfang gut ausgefallen war. Alle hatten ein Interesse daran. Eine reiche Ausbeute brachte den allermeisten die Erfüllung einer Hoffnung oder die Errettung aus einer Bekümmernis. Namentlich waren alle, die ihren Erwerb von der See hatten – und zu denen gehörte fast die ganze Stadt – von den Fischern bis zu den Besitzern der Salzereien und den Spekulanten, in der angestrengtesten Thätigkeit, und alle gingen wie im Rausche, bis das ganze Geschäft erledigt war.

Nicht allein den Schiffern, sondern auch ganz jungen Steuerleuten wurden Fahrzeuge zum Fischfang anvertraut, und es wurden von diesen die wagehalsigsten Fahrten unternommen, um zuerst auf dem Platze zu sein und volle Ladung zu bekommen. Man suchte sich durch falsche Nachrichten zu überlisten, geriet auch wohl darüber in Streit, der zu Thätlichkeiten führte, oder man hielt tüchtige Gelage ab, wenn Zeit und Gelegenheit vorhanden war.

Daheim im Klub herrschte ein äußerst bewegtes Leben; alle Zimmer waren voll von Gästen und man mußte zuletzt mit einem Platz auf dem Billard vorlieb nehmen, wo in gewöhnlichen Zeiten niemand sitzen durfte. Jeder neue Ankömmling mußte erzählen, wie es mit dem Fange stände, wie sich der Preis stelle, wie viele Heringsschwärme eingeschlossen seien und was es sonst Neues droben im Norden gäbe. Dies war der einzige Weg, um von dort Nachrichten zu erhalten, und danach mußte man seine Maßregeln treffen. Bisweilen waren die Berichte wahrheitsgetreu und man erzielte durch sie reichen Gewinn; manchmal ward man aber auch arg getäuscht und hatte nichts von den teuern Vorbereitungen.

War jemand besonders glücklich gewesen, so bat er sich wohl in der Freude seines Herzens von der Gesellschaft die Erlaubnis aus, sie mit einem Glase Punsch bewirten zu dürfen. Wenn dann die Bowle vor den beiden ältesten Mitgliedern, dem Hafenvogt Snell und dem Lotsen-Aeltermann Prahl stand, stimmte man wohl den neuen Gesang zum Preise der norwegischen Fischerei an:

»Von Norwegens Felsen und schönem Land
Wir hören so manches Lied wohl erklingen,
Doch wir, die wir wohnen am norwegschen Strand,
Wir wollen zum Preise des Nordmeers jetzt singen!

Die See soll leben!
Die Fischer daneben,
Die jährlich aus ihrem Schoße heben
Den reichsten Fang!«

So leerte man die Becher nach der Väter Weise, sang Lied auf Lied zum Preise Alt-Norwegens und der Schiffahrt und der Konstitution, und zuletzt ward des Lotsen-Aeltermanns Lieblingslied angestimmt:

»Den Alten jetzt auch wir ein Glas wollen weihen,
Sie waren einst das, dessen wir uns erfreuen,
Sie waren jung, frei und frisch für und für.
Und daß sie auch liebten, beweisen ja wir.«

Es gab aber in der Stadt auch Leute, die niemals an diesen Gelagen teilnahmen und sich niemals im Klub sehen ließen, während sie doch das größte Interesse am Fischfang hatten und ihr ganzes Wohl und Wehe darauf beruhte. Das waren die Haugianer oder die Heiligen, wie sie von den Spöttern genannt wurden. Außer Sivert Jespersen und den Brüdern Egeland, welche neben ihrem Handel mit den Landleuten große Geschäfte beim Heringsfang machten, trieben auch viele andere Haugianer diesen Erwerbszweig. Das waren meistens Leute, die als ganz junge Menschen vom Lande zur Stadt gekommen waren, um sich bei den ältesten zu verdingen, und hier die Sparsamkeit, die Pünktlichkeit und den unermüdlichen Fleiß derselben kennen gelernt hatten. Wenn sie dann selbst ein kleines Geschäft anfingen, wußten sie es bald in Schwung zu bringen. Sie gingen auch mit auf den Fischfang, aber niemals beteiligten sie sich an den Roheiten, die hier vorfallen konnten, und sie kümmerten sich nicht darum, daß die anderen sie deshalb verspotteten.

Nach und nach kamen auch die anderen Fischer zur Erkenntnis, daß die »Heiligen« nicht zu verachten seien. Trotz ihrer frommen, sanftmütigen Weise gehörten sie zu den tüchtigsten und mutigsten und sie erzwangen sich dadurch die Achtung ihrer früheren Widersacher. Sivert Jespersen hatte sich auch so von unten heraufgearbeitet und er war jetzt einer der wohlhabendsten Leute in der Stadt. Er selbst nahm nicht mehr an den Zügen teil; er war schon in den Fünfzigen, und harte Arbeit und die Gicht, das Erbteil der meisten, die von Jugend auf im Winter der Fischerei obliegen, hatten ihn gebeugt. Wenn aber die Heringszeit kam, so eilte er zum Speicher in dem uralten Friesrock und der Pelzmütze, und dann war er in der muntersten Stimmung.

Wenn das ganze Packhaus von oben bis unten mit Menschen, Fischen, Salz und Tonnen gefüllt war, wenn überall Lärm und Rufen und das Hämmern der Böttcher ertönte, wenn die Windetaue auf und nieder schnurrten, wenn Dielen und Treppen von Blut und Galle, die überall herabsickerten, naß und glitschig waren, wenn man die Spuren der Arbeit bis an die Wände hinauf sehen konnte und überall ein Geruch verbreitet war, wie im Bauch eines Walfisches: dann ging Sivert Jespersen treppauf, treppab, im ganzen Hause umher mit seinem Talglicht in der Hand, und summte halblaut sein Lieblingslied:

»O du mein Immanuel!
Welche Himmelsfreuden
Brachtest du der armen Seel'
Durch dein schweres Leiden.
Schlingen legt der Feind so klug,
Doch mir kennen seinen Trug!«

»Auf, mein Herz! Zu Sang und Lust – nein, nein, nein!« rief er plötzlich mit scharfer Stimme. Es mußte etwas bei den Mädchen vorgefallen sein; entweder zankten sie sich, oder sie waren gar zu lustig, denn ein paar vollgepackte Tonnen wurden umgestürzt, so daß sich der Inhalt auf den Fußboden und in die Salzkübel ergoß.

»Nein – nein – nein,« wiederholte Sivert Jespersen, als er herangekommen war, und seine Stimme tönte wieder so milde und sanft wie gewöhnlich: »Ihr müßt mit Gottes Gaben vorsichtig umgehen, auf daß sie nicht umhergeworfen werden und verderben. Nicht wahr, lieben Kinder?«

Er sah von dem einen Mädchen zum anderen mit seinen scharfen hellblauen Augen und dem unveränderlichen Lächeln, und es ward ganz still unter ihnen, während sie eifrigst beschäftigt waren, alles wieder in Ordnung zu bringen. Es machte einen viel größeren Eindruck, wenn Sivert Jespersen sagte: »lieben Kinder«, als wenn ein anderer die ärgsten Verwünschungen ausgestoßen hatte.

Obgleich Hauges Freunde bei ihrer Thätigkeit wenig Geräusch machten und ihre Geschäfte scheinbar mit großer Klugheit und Vorsicht trieben, ruhten dieselben doch keineswegs auf sicherem, solidem Boden. Wäre der Fischfang wenige Jahre hindurch fehlgeschlagen, oder hätte eine Feuersbrunst die unversicherten Besitztümer verzehrt, so wäre manches, dem Anscheine nach große Vermögen bis auf ein geringes oder ganz zusammengeschmolzen. Dies fühlten sie auch selber, wenn es länger als gewöhnlich dauerte, bis sich die Heringszüge dem Lande näherten, oder wenn die Speicher voll waren von unabgesetzter Ware und alles von dem Steigen oder Fallen der Preise in Rußland und Preußen abhing. Da zitterte ihnen wohl die Hand, wenn – einmal in der Woche – die Post kam, und ihr Schlaf war unruhig; das war die Zeit, wo sie die meisten religiösen Lieder sangen. Sie kamen jeden Tag zur Versammlung, wo vorgelesen und gebetet und gesungen wurde. Und wenn sie nun so bei einander saßen und sich ansahen, und der eine vom anderen wußte, wieviel für ihn auf dem Spiele stände, und sie sich sagten, wie friedlichen, frommen Sinnes sie seien und wie Gott bisher seine Hand über sie gehalten und sie auch diesmal sicherlich nicht im Stich lassen werde, so fanden sie Kraft im Gebet, sie lächelten einander zu und gingen getröstet nach Hause. Und ihre Hoffnung ward nicht getäuscht. Jahraus, jahrein hatten sie reichen Verdienst und ihr Vermögen wuchs; aber sie setzten wiederum alles ins Geschäft, erspähten jede günstige Chance und waren trotz ihres stillen Wesens in der That dreiste, ja verwegene Spekulanten. Damit konnte sich aber Hans Nielsen Fennefos durchaus nicht befreunden. Nicht als ob es gegen Hauges Willen und Gebot gewesen wäre, daß die Brüder Handel trieben – im Gegenteil. Aber ihr jetziges Gebaren war nicht die alte Thätigkeit, die mühsame Arbeit um bescheidenen Gewinn. Das Geld kam jetzt zu leicht und in zu großer Menge. Fennefos war auch mißmutig darüber, daß sich Luxus im Zusammenleben der Brüder einzuschleichen beginne; es wurden Mittagsgesellschaften gegeben, wo man verschwenderisch mit Speise und Trank umging. Für diese Leute, die bisher in äußerster Mäßigkeit gelebt hatten, war schon der Genuß von Braten und Kuchen etwas ganz Ungewöhnliches und sie fanden eine halb kindische Freude darin, sich das Essen von den Kochfrauen der Stadt bereiten zu lassen, wie in den Häusern der Vornehmen. Fennefos machte ihnen Vorwürfe darüber, welche sie ruhig und lächelnd anhörten; sie bedankten sich sogar dafür, aber an der Sache selbst ward nichts geändert. Auch im öffentlichen Leben der Stadt verstanden diese Männer, die reich geworden waren, ohne daß jemand es gemerkt, sich allmählich geltend zu machen. Man wurde bald genötigt, sie in mancher Weise zu berücksichtigen, und ihr frommes Gebaren und die religiöse Sprachweise war bald kein Gegenstand des Spottes mehr. Wie Hauges Freunde so an äußerem Ansehen gewannen, während der Wert ihres inneren Lebens abnahm, begann sich aus ihrer Mitte eine gewisse oberflächliche Religiosität über die ganze Bevölkerung sowohl in der Stadt, als auch auf dem Lande zu verbreiten, eine offizielle Scheinheiligkeit, die bald zu hoher Blüte gelangte.

So war die Stadt ums Jahr 1840 beschaffen – eine alte Stadt, voll neuer Lebenskeime – eng und winkelig, finster und pietistisch, aber frisch und lächelnd an der blauen See liegend, mit stolzen Schiffen und braven Seeleuten.

An einem Sommertag hätte man sie sehen müssen, bei Sonnenschein und Nordwind, wenn die Möwen über die Bucht und längs den weißen Speichern im Hafen auf und nieder flogen; wenn draußen die Fahrzeuge Salz löschten und der Wind den fröhlichen Gesang: »Amalia Maria! Die kam aus Lissabon!« über die Stadt hintrug und das Salz über die breite Holzrinne ins Lichterfahrzeug mit dem unvergeßlich melodischen Geräusch hinabrutschte und die ganze Stadt von dem frischen Nordseegeruch erfüllt war. Die Leute, die lange Zeit von der Heimat entfernt gewesen waren und die Erde umsegelt hatten, sagten, daß solche Luft nirgends wieder auf der Welt zu finden sei; und sie reisten wieder fort und sie kamen wieder; und in der Heimat gab es einige wenige, die sich in die Welt hinaussehnten, aber alle – alle, die da draußen waren, sehnten sich nach der Heimat. –


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