Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Sechstes Kapitel

Zum zweiten Mal stand Rosa ratlos vor ihrem Leben. Nicht nur das schmerzliche Vermissen, nein, vor allem war es die vollständige Leere, die ihr jede Kraft raubte. Sie konnte in ihrer Kammer oder im Wohnzimmer am Fenster sitzen, auf die Wiese oder auf den Hof hinausschauen, sie konnte Frau Böhks Krankengeschichten oder Herrn Böhks Liebesgeschichten anhören, konnte mit Grethe spazierengehen, um zuzuhören, wie die Burschen und Mädchen unter den Birken am Bach bis spät in die Nacht hinein Liebeslieder sangen; es hatte nur, meinte sie, nicht den geringsten Zweck; sie war dabei ganz unnütz. Sie hätte ihr Leben gewiß ungern fortgegeben, was sie jedoch mit ihm beginnen sollte, wußte sie nicht. Da dachte sie an ihren alten Vater. »Agnes schrieb«, sagte sie zur Hebamme, »Papa sei krank. Seitdem habe ich keine Nachricht von ihm. Ich fürchte, es steht schlecht.«

»So wissen Sie's schon?« rief Frau Böhk. »Agnes schrieb mir über den zweiten Schlaganfall des alten Herrn. Ich durfte es Ihnen nicht sagen, Sie nährten das Kind.«

»Oh, Frau Böhk! Sagen Sie's nur; Papa lebt nicht mehr.«

»Nein, wahrhaftiger Gott, davon weiß ich nichts. Recht schlecht stand es um ihn, aber...«

Rosa schüttelte den Kopf. Es schien ihr ganz natürlich, daß, wohin sich ihre Liebe auch wandte, der Tod ihr entgegentrat. Seltsam jedoch war es, wie mit der Überzeugung, ihr Vater lebe nicht mehr, sofort der Gedanke in ihr auftauchte: »Wenn Papa auch tot ist, dann wird das Kleine dort – nicht mehr allein sein.« Diese dunkle Vorstellung ließ sie ruhiger der Trauer um ihre Toten nachhängen.

Eines Abends langte Agnes in Tiglau an. Das schwarze Kleid, die schwarze Haube, die dem alten Gesicht etwas Fremdes gaben, die tränenfeuchten Augen, mit denen Agnes Rosa anblickte, verkündeten deutlich genug, daß Rosa sich nicht getäuscht hatte. »Ich weiß alles; der arme Papa«, sagte Rosa, als Agnes sie schluchzend umarmte.

Erst als sich beide im Giebelstübchen zu Bett legten, erfuhr Rosa die Einzelheiten über den Tod ihres Vaters.

»Nach dem ersten Schlaganfall«, berichtete Agnes mit klagender Stimme, »stand es schon sehr übel um deinen Papa. Er konnte seine Füße nicht gebrauchen, und sein Kopf, weißt du, war ganz schwach. Er vergaß immer wieder, daß du nicht mehr bei uns bist. ›Wo ist die Rosa?‹ sagte er ganz ärgerlich. ›Es ist schon spät. Agnes, geh und hol sie.‹ Wenn ich's nicht tat, zankte er, wie er's in gesunden Tagen, weiß es Gott, nie tat. ›Wirst du nicht gehen?‹ sagte er, ›wer ist hier der Herr? Wofür wirst du bezahlt?‹ Endlich weinte er und klagte: ›Weil ich ein Krüppel bin, glaubt ihr mich quälen zu können.‹ Gott, Gott! Schwer genug war die Zeit. Ich bin um zehn Jahre älter geworden. Nun – und eines Morgens, wie ich ihn angekleidet habe und zu seinem Sessel führen will, verdreht er die Augen und fällt rücklings – der Schreck! Der Doktor kam, ließ ihm zur Ader – was weiß ich! Genug haben sie den alten Mann gequält. Aus dem Bett ist er nicht mehr gekommen, aber das Warten auf dich hörte auf, denn er glaubte, du seist da. Sehen konnte er nicht mehr recht; so sprach er denn immer mit dir. Was hat er dir in den letzten Tagen nicht alles erzählt! Er wollte dich unterhalten: ›Rosa – Kind‹, sagte er, ›du langweilst dich. Hör, wie ich noch beim Theater war‹, dann kamen seine gottlosen Theatergeschichten. Dabei wurde ihm das Sprechen schwer. In seiner Brust kochte es nur so. Heute vor acht Tagen lag er den Tag über wie in einer Ohnmacht. Der Doktor sagte, es geht zu Ende. Um zehn Uhr regte er sich, verlangte zu trinken, fragte: ›Wo ist Rosa?‹ – ›Das ist sie ja‹, sagte ich; was sollte ich denn sagen? – ›So – so‹, antwortete er und erzählte wieder etwas; ich hab es nicht verstanden, seine Stimme war so schwach. Wie er mit der Geschichte zu Ende ist, sagte er: ›Kind, warum lachst du nicht?‹ – ›Sie lacht ja‹, sagte ich. ›Nein – nein!‹ jammerte er. ›Sie lacht nicht; sie kennt die Geschichte schon!‹ Das waren seine letzten Worte. Nachher lag er still da und seufzte, bis der Tod kam. Recht anständig haben wir ihn bestattet, die Leute aus der Stadt waren alle dabei. Dir schrieb ich von alldem nichts. Ich dachte mir, du hältst soviel Not auf einmal nicht aus. Ach Gott! So jung und soviel Bitteres erleben zu müssen.«

Rosa, die ihr Gesicht in die Kissen gedrückt hatte, richtete sich auf und sagte: »Ja, sehr viel Bitteres. Du hast das Kind nicht gekannt. Du weißt nicht, wie es mich liebte, mich kannte, wie es nur bei mir sein wollte.«

Während Rosa von ihrem Kinde erzählte, nahm Agnes eine strenge Miene an. Sie hielt den Tod dieses Kindes für kein Unglück. »Schlaf, Kind«, unterbrach sie Rosas Bericht. «Wir werden alle unsere Kräfte nötig haben.«

Am Vormittage des folgenden Tages saß Rosa, wie sie es liebte, im Garten auf der Schaukelbank und betrachtete die sonnenbeschienenen Narzissenbeete. Am geöffneten Fenster des Wohnzimmers saßen Frau Böhk und Agnes, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Ab und zu drang ein lauter gesprochenes Wort bis zu Rosa – eine Zahl oder Frau Böhks mit süßer Stimme abgegebener Protest. »Nein, Schwester, nein. Ich hab's so wohlfeil wie möglich eingerichtet.« – »Sie berechnen sich«, dachte Rosa.

Jetzt erzählte Agnes etwas, nickte mit dem Kopfe, wischte sich die Augen. »Wenn wir die Sachen auch verkaufen«, hörte Rosa sie sagen, »wieviel kann denn doch dabei herauskommen? Bei all diesen Krankheiten können wir Gott danken, daß wir nicht in Schulden hineingeraten sind. Nun – und wenn ich auch mit ihr hierherziehe – dort kann sie natürlich nicht bleiben –, auch dann reicht das Geld nicht. Ich habe nicht viel, sie hat wenig. Gott – Gott, wie soll das werden!«

«Wie ist das?« sagte sich Rosa, bog den Kopf zurück, blinzelte in die Sonne und überlegte: »Ich habe kein Geld, und Agnes will mich erhalten, so meint sie es doch? Ja, das darf aber nicht sein; natürlich nicht!... Was dann?« Die Bonne der Schank war die einzige Aushilfe, das war klar. »Morgen fahren wir heim«, beschloß Rosa. Ein Bedürfnis zu handeln ergriff sie. Sie ging in das Wohnzimmer und sagte: »Morgen, Agnes, fahren wir heim.«

»Morgen?« riefen die beiden Schwestern erstaunt aus.

»Ja, Agnes – es muß etwas geschehen.«

Da blickten sich die beiden Frauen verständnisinnig an und meinten: »Recht hat das Kind.«


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