Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Viertes Kapitel

Endlich kam der Frühling. Laue Winde fuhren über Tiglau hin. Der Schnee war fort. Von den Dächern tropfte es beständig und erfüllte den Ort mit heimlichem Klingen. Die Ebene um Tiglau war blank von Wasserlachen, und auf der Gasse lag der Kot fußhoch. Frau Böhk hatte täglich während der Mahlzeiten neue Geschichten zu erzählen, von schwierigen Passagen und von den Waden der Tiglauer Frauenzimmer. Um die Zeit, da man nur hochgeschürzt über die Straße gehen konnte, erlebte Frau Böhk Wunder.

»Daß des Apothekers Elise spindeldürr ist, wußte ich längst«, sagte sie, »aber solche Beine habe ich ihr doch nicht zugemutet. Und die Schreinerin hat Säbelbeine, das habe ich auch noch nicht gewußt. – Was? Die Gertrud vom ›Roten Hirsch‹ soll hübsch sein? Ich bitte dich, Böhk, sie hat ja keine Waden – sowenig wie ich am kleinen Finger Waden habe!«

Unter dem Rinnen und Tropfen, unter dem Regen, der fein und hastig niederfiel, während die Sonne wie durch ein Glasgitter hindurchschien, begann die Erde langsam zu grünen. Durch die geöffneten Fenster brachte der Wind die angenehmen Düfte feuchter Erdschollen und junger Weidenkätzchen ins Zimmer.

Die Mädchen waren in dieser Zeit rein wie toll. Soviel Frau Böhk auch zankte, sie hielten es auf die Dauer bei keiner Arbeit mehr aus. Kaum kehrte die Tante den Rücken, so waren sie fort; weiß es Gott, wo! Nach langer Abwesenheit erst kehrten sie mit roten Backen, nassen Haaren und ausgelassenen blanken Augen zurück, besonders Martha. Sie konnte nicht mehr leben, ohne den Peter neben sich zu haben. Lief sie nicht zu ihm hinüber, so saß er gewiß in irgendeinem Winkel des Hofes und wartete auf sie.

»Im Frühjahr, wissen Sie, Fräulein, ist es immer so. Warum, weiß ich nicht«, sagte sie mit ihrem hübschen breiten Kinderlachen, »und dann, wer weiß, was dieses Jahr noch geschieht!« fügte sie ernst hinzu und seufzte so tief, daß die blaue Jacke krachte,

Rosa war leidend. Bei jeder Beschäftigung mußte sie bald vor Müdigkeit die Arme sinken lassen, um sich bleich und matt auf ihr Sofa zu legen, die Glieder schwer wie Blei. Dort lag sie den Tag über. Von ihrem Lager aus sah sie durch das Fenster ein Stück des grellgrünen Landes und den Himmel, dessen Blau hell und kräftig geworden war. Wunderlich zerrissene und gezackte Wolken wurden vorübergetrieben; die einen weiß und zerbrechlich, andere massiger und mit grauem Metallglanz. Auf dem Fensterbrett stand ein Teller voller Veilchen, und gelbe Sonnenstrahlen spielten über ihn hin. Im Hause war es still, nur im Hofe krähten die Hähne unablässig.

Heute vor einem Jahr hatte die ganze traurige Geschichte noch nicht begonnen, dachte Rosa, und nun gemahnte sie alles an jene Tage, die ihr rein und glücklich schienen. Alles sah sie wieder vor sich: die Reihe der nassen Galoschen im Flur der Schankschen Schule, die Schulzimmerfenster weit offen, so daß man nach der winterlichen Abgeschlossenheit das Gefühl hatte, als würde der Unterricht auf der Straße erteilt; die Unterhaltungen mit Marianne und Sally auf den Fliesen der Treppe, während es vom Dache beständig herabregnete; Musik im Stadtgarten, wozu man den neuen Hut aufsetzte. Ja, die ganze ausgelassene, erwartungsvolle Frühlingsunruhe, die einem das Herz bis in den Hals hinauf schlagen ließ! –

Ab und zu ging Rosa in den Garten hinunter, der neben dem Speicher lag, und saß dort auf einer Schaukelbank, während Hans vor ihr ein Beet umgrub.

»So geht es nicht!« erklärte Frau Böhk eines Tages, »noch sind wir nicht so weit, daß wir zu Hause hocken müssen. Heute haben wir erst den 10. Mai. Frische Luft – Zerstreuung! – Sie bekommen ja weiße Wangen. Morgen gehen wir alle an den Bach, Krebse fangen. Die Leb kommt auch mit. Sie müssen dabeisein. Ich sehe schon darauf, daß es Ihnen nichts schadet. Nur nicht die Courage verloren, das taugt nichts.«

Von diesem Krebsfang sprach Herr Böhk schon viele Wochen. Er und Hans beschäftigten sich mehrere Tage damit, die runden Netze an die Stecken zu binden, und überwachten eifersüchtig die Fleischabfälle der Küche, um sie als Köder für die Krebse zu verwenden.

Spät am Nachmittage brach man zum Birkenwäldchen auf. Die Mädchen, Herr Böhk und Hans trugen die Geräte voraus. Frau Böhk führte Rosa. Frau Leb ging nebenher und trug den Eßkorb. Sie war eine kleine, sehr dürre Frau mit einem bleichen, verkümmerten Gesicht, rotgeränderten Augenlidern und einer verschnupften Nase. Sie trug ein schwarzes Kleid, und auf dem spärlichen rotbraunen Haar saß eine verstaubte Haube aus schwarzen Baumwollspitzen. Sie sprach ununterbrochen. Frau Böhk hatte ihr soviel von dem Fräulein erzählt, aber so hübsch hatte sie es sich doch nicht vorgestellt. Wann war der Termin? Ende Juni – so – so –, da wird die Leb wohl auch helfen müssen. Die Leb half immer bei solchen Gelegenheiten, denn Frau Böhk war so beschäftigt, daß sie ihre Kranken oft verlassen mußte.

Über die Ebene fuhren eilige Wolkenschatten hin. Rechts von Tiglau lag die Landstraße, von Pappeln eingefaßt, die schmal und dunkel in all dem Lichte standen. Mitten auf der Wiese stand das Birkenwäldchen, ein luftiger grüner Nebel.

Die andern waren weit voraus. Martha und Grethe in ihren weiten blauen Röcken wiegten sich sachte in den Hüften und trugen die Stangen und Netze auf den Schultern. Herr Böhk hob sich unendlich dünn gegen das Himmelsblau ab.

Als Rosa, Frau Böhk und die Leb im Wäldchen anlangten, waren die Netze bereits ins Wasser gesteckt worden. Dort, wo das Erlengebüsch den Bach beschattete, wo das Wasser still und schwarz war, dort sollte, wie Herr Böhk versicherte, die geeignetste Stelle sein.

»Nur nicht dort, wo die Sonne hinscheint! Da merken ja die Krebse, daß wir sie betrügen wollen. So klug sind sie auch. Später, wenn's finster ist, dann ist es gleich. Die großen Krebse kommen ohnehin erst mit der Dunkelheit. Jetzt steigen nur die kleinen, dummen.«

»Gut, gut!« meinte Frau Böhk. »Sorgt ihr für die Krebse, wir setzen uns hierher. Bis Sonnenuntergang kann das Fräulein einige Netze herausziehen, das wird ihr nicht schaden.«

Rosa errötete vor Freude. In letzter Zeit daran gewöhnt, von jeder Fröhlichkeit der Jugend ausgeschlossen zu werden, erschien es ihr jetzt wie ein großes Glück, mittun zu dürfen. Herr Böhk leitete sie sehr liebenswürdig an. Behutsam mußte sie an den Bachrand treten, die Netzstange erfassen und geschwind herausziehen, dann fielen die Krebse, die sich um den Köder versammelt hatten, zappelnd in das runde Netz. Prächtig war es, die glänzenden schwarzen Tiere vorsichtig zu fassen und in den Korb zu tun, wo sie ihre Schalen aneinander rieben und ein Geräusch machten, als flüstere jemand. Martha und Grethe hatten sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen, stampften lustig im nassen Moose umher und kreischten auf, wenn das Wasser ihnen kalt an die Beine schlug.

Die Sonne ging unter. Ihre letzten Strahlen gaben den Birkenstämmen rosige Fleischtöne, daß es aussah, als hielten viele knorrige Arme das zarte Laub empor. Eine Schafherde, die fern auf der Wiese weidete, ward rot angeleuchtet, und über den ganzen Himmel war ein roter Farbentopf ausgegossen.

»Wie gesottene Krebse sieht alles aus«, bemerkte Herr Böhk. Niemand lachte darüber. Alle hielten sich in dem Lichtbade still, das über sie hinfloß.

»Die Sonne geht unter«, mahnte Frau Böhk. »Kommen Sie zu uns, liebes Fräulein.«

Rosa setzte sich zu den Frauen, ließ sich von der Hebamme warm zudecken, lehnte den Kopf an einen Baumstamm und schaute zu. Ihr war wohl. Alles Trübe und Schwere muß vorübergehen – und dann bleibt noch immer das schöne Ding – Leben – übrig – noch Raum für manches Glück.

Schnell zog die Dunkelheit heran. Der Himmel wurde bleich und gläsern. In den Birkenzweigen hing hie und da ein Stern. Der Bach dampfte; über die Wiese ergoß sich der Nebel weiß wie Milch. Weiter unten am Bach ward ein Feuer angesteckt, Stimmen schallten herüber. »Dort krebsen die vom ›Roten Hirsch‹«, sagte die Leb. Auf der anderen Seite ward Pferdegetrappel laut. Die Pferde des Orts wurden auf die Weide getrieben. Sie zerstreuten sich über die Wiese; man vernahm ihr Schnaufen, und zuweilen klatschte es, wenn ein Pferd auf eine sumpfige Stelle geraten war. In der Ferne spielte eine Harmonika einen Tanz; der Ton kam näher – jetzt war er ganz nah, und zwei dunkle Gestalten tauchten am Bache auf.

»Der Schmied- und der Schreinergesell«, erklärte Frau Böhk. Sie war heute milde gestimmt und ließ alles geschehen.

Am Bache wurde es jetzt lebhaft; sie lachten dort, schrien auf, die Netze plätscherten im Wasser, die Harmonika sang mit ihrer durchdringenden Stimme dazwischen, dann plötzlich wurde es still.

Die Frauen hatten sich über den Eßkorb hergemacht, aßen und sprachen halblaut miteinander. »Die Wurst ist gut. Von vorigem Herbst, nicht wahr?« fragte die Leb. »Ich nehme auf solche Partien nichts mit, des Schleppens wegen, wissen Sie. Nur meine Flasche.«

»Was haben Sie denn Gutes in der Flasche?«

»Sehen Sie hier. Kirschgeist ist das – für den Magen. So etwas muß ich immer bei mir haben, das frischt das Herz auf.«

»Ja – ja«, erwiderte Frau Böhk; dann tranken sie beide.

»Daß es mit der Bäckerin so schnell zu Ende gehen würde, habe ich nicht gedacht,« hub die Leb wieder an. »Eine hübsche, leichte Geburt, und dann kommt so ein Fieber, und aus ist's.«

»Ja, da kann niemand helfen«, bestätigte die Hebamme. »Und in letzter Zeit hab ich Unglück mit dem Kindbettfieber. Der dritte Fall in diesem Jahr. Alles geht gut, und eh man sich's versieht, ist die Person tot! Wahrhaftiger Gott, dieses Jahr hab ich Unglück.«

»Wann wird die Bäckerin bestattet?«

»In zwei Tagen; aber der Bäcker wird keine großen Umstände machen.«

»Hören Sie, die Beerdigung beim Krämer war nicht schlecht.«

»Es ging an.«

»Oh, nicht schlecht! Die Schweinssulz war sogar recht gut; und für's Herrichten der Leiche hat er mir auch ziemlich nobel gezahlt.«

Rosa hörte zu. Die Bäckerin war also tot. Diese Nachricht ging anfangs an ihr vorüber, wie so viele der Krankengeschichten, die Frau Böhk zu erzählen pflegte. Plötzlich jedoch kam ihr der Gedanke: Wie? Daran stirbt man? Es ist ein unglückliches Jahr, sagt die Frau Böhk. Und ich? Ein wunderliches, nie empfundenes Gefühl der Todesfurcht ergriff Rosa. Das Wort »Tod«, dieses alte Wort, das sie unzählige Mal ausgesprochen hatte, klang heute bedeutungsvoll und fremd, nun, da es zu ihr gehörte.

Die Dunkelheit, die feuchte Kälte, die von den Zweigen niederfiel, bedrückten Rosa. Der starke Duft der Birken erinnerte sie an die Kirche, die man für einen Toten mit Maien schmückt. Und doch – sie mußte hier bleiben. Eine unverstandene Schamhaftigkeit ließ sie fürchten, die anderen könnten ihre Angst bemerken.

Schräg durch die Birkenzweige drang ein Licht wie der Schein einer Lampe, der durch Vorhänge auf die Straße fällt. Das Licht stieg und wuchs. Der Mond war hinter den Wolken des Horizonts hervorgekommen, und als er hoch am Himmel stand, verbreitete er eine große, milde Klarheit. Die Pappeln standen ganz in silber. Auf der Landstraße unterschied man deutlich einen Wagen, mit zwei Pferden bespannt. Er rollte dahin wie ein zierliches schwarzes Spielzeug, an dem eine Glocke unablässig läutete.

»Der Mond ist schon da«, meinte Frau Böhk, »da muß es spät sein. Gott, mein Fräulein hat ganz kalte Hände! Geschwind nach Hause! Wo sind nur die andern?«

Frau Leb hielt nachdenklich ein Stück Wurst in der Hand, sagte: »Der Mond ist schön rund«, und blickte empor, den Kopf leicht zur Seite neigend, wie ein Hund, der ins Kaminfeuer schaut.

»Hu – hu – nach Hause!« rief Frau Böhk in die Nacht hinaus.

»Wir kommen«, antwortete es hinter den Erlen.

»Gut, gut!« sagte Frau Böhk, »sie mögen die Netze nehmen. Wir gehen voraus.«

Auf dem Heimweg waren die Frauen sehr angeregt und sprachen eifrig miteinander. Rosa ging still neben ihnen her. Die schwarzen Gedanken waren fort, und große Müdigkeit lastete auf ihr.

Die anderen kamen nach. Man hörte sie singen. Als Rosa sich umschaute, sah sie im hellen Mondschein ein jedes der Mädchen eng an einen Burschen geschmiegt einhergehen. Herr Böhk spielte die Harmonika; Hans trottelte nach.

 

In der Nacht hatte Rosa einen peinvollen Traum. Sie lag in ihrer Kammer, träumte ihr, die Leb stand vor ihr und sagte: »Die vierte, die uns stirbt.« Und mit der Unfehlbarkeit, mit der im Traum das Erwartete eintrifft, begann das Sterben schon: Eine kalte Schwere bedrückte die Glieder, und sie fühlte eine große Leere in sich. Das war das Sterben. Noch als Rosa erwachte, spürte sie die Traumempfindung im ganzen Körper.

Seit jener Nacht kehrten die Todesgedanken immer wieder. Es wurde bei Rosa zur ausgemachten Sache, daß sie sterben würde. Dieser arme Mädchenkopf, dem es nie eingefallen war, das Wesen der Dinge ergründen zu wollen, der nur ruhig die Torheiten des Lebens in sich hatte herumsummen lassen, er mühte sich jetzt ab, das Unbegreifliche zu fassen: »Ich werde krank sein. Alle Menschen werden mich verstoßen. Auf der Straße werde ich betteln müssen. Bei Sally werde ich Dienstmagd werden, wenn sie Toddels geheiratet hat.« Das ließ sich doch alles wenigstens denken, so unmöglich und schrecklich es auch war. Aber »ich werde nicht mehr sein«, wie ist das? –

Oft, wenn die Todesahnungen zu einem empfindsamen Mitleid um das eigene Ich wurden, konnte Rosa wohl in ihrer alten, kindischen Weise sich alles ausmalen, an sich wie an die Heldin eines Buches denken: der letzte Brief an den Vater, die Abschiedsworte an Frau Böhk, an die Mädchen: »Martha, werden Sie glücklich!« –, der Sarg ganz von weißen Rosen überdeckt – und dann? Dann erhob sich wieder die schwarze Mauer, an der sich alle Phantasien die Flügel knickten; dann – nichts mehr.

Diese dumpfe Todesangst verließ Rosa nicht mehr; wenn sie dieselbe auch auf Augenblicke vergaß, sie spürte sie dennoch, wie einen Schmerz, der sich unverstanden durch unsere Träume zieht und sie verbittert.

Ihre Jugend sträubte sich gegen diesen Gedanken: »Es kann nicht sein! Wer stirbt denn mit achtzehn Jahren?« Dieser Kampf, den Rosa sorgfältig in sich verschloß, gab ihrem Wesen etwas rührend Mildes. Einen jeden, der mit ihr sprach, sahen ihre Augen hilfesuchend an. Nach Menschen sehnte sie sich. Gleichviel wer, wenn es nur ein Mensch war, wenn sie sich, nur fest an das Menschliche, an die Erde anklammern durfte. Brachte Herr Böhk ihr eine Decke, um ihr auf der Schaukelbank damit die Füße zu bedecken, tätschelte Frau Böhk ihr den Arm und nannte sie »liebes Kind«, so war Rosa tief bewegt. Dieses junge Wesen, das sich gegen seine Vernichtung auflehnte, griff nach allem, was es mit den Menschen und dem Leben verbinden konnte.

Zuweilen dachte Rosa an die Religion. Wenn man stirbt, kommt man entweder in den Himmel oder in die Hölle; das war eine alte Geschichte, die jedes Kind kannte, schon bevor es in die Schule ging. Später, im Konfirmationsunterricht, lernte man mehr darüber: Um in den Himmel zu kommen, muß man berufen – erleuchtet – geheiligt werden. Auch die Stufen der Buße konnte Rosa noch an den Fingern herzählen. Sie wiederholte sich das alles jetzt. Es sagte ihr jedoch nichts. Ihre sinnliche, auf das Unmittelbare gerichtete Natur vermochte nicht, sich vor der Hölle zu fürchten oder sich nach dem Himmel zu sehnen. Das Aufhören des Irdischen war die Tatsache, bei der ihr Herz aufschrie. Trotz aller Bitternisse, die sie erfahren hatte, war der Tod doch für Rosa das Verlassen eines Festes, während die anderen weitertanzen durften. Nicht mehr zu sein, das ging ihr gegen die Natur.

Während Rosa mit ihren neuen düsteren Empfindungen rang, sah es im Böhkschen Familienkreise auch nicht lustig aus. Martha und Frau Böhk hatten einen sehr heftigen Auftritt miteinander gehabt. Das Mädchen erklärte der Tante eines Morgens: »Der Peter geht nach Amerika zu seinem Onkel. Ich gehe mit – und bitte die Tante, mir das Geld von meinem Vater, das sie mir aufhebt, zu geben.«

Frau Böhk war anfangs sprachlos vor Entrüstung, dann fuhr sie auf das Mädchen los: »Nicht einen Schritt gehst du diesem Menschen nach – solch einem Lumpen, solch einem Habenichts. Gut, daß er nach Amerika geht, das tun alle Lumpen. Aber du ihm nachlaufen!«

Martha ward sehr bleich, rang krampfhaft ihre Schürze und sagte: »Ja, Tante, ich werde den Peter doch nicht allein fortgehen lassen, und – da wollte ich mein Geld.«

»Ihr Geld!« Frau Böhk lachte: »Frag in zwei Jahren nach. Solange der Onkel dein Vormund ist, bekommst du keinen Heller. Ja, das Geld will der Lump haben, nach dir fragt er verteufelt wenig. Geh du mit ihm zum Kuckuck, das Geld bekommst du nicht. Hast du gehört? Nach Amerika will das liederliche Ding mit dem ersten besten – mir nichts, dir nichts durchgehen!«

Von der Sache war nicht mehr die Rede. Martha ging ernst im Hause umher und sprach kein Wort mit der Tante. Am Abend, an dem Peter den Ort verlassen sollte, sah Rosa vom Fenster aus Martha über die Wiese heimkommen. Die Arme ließ sie müde am Körper niederhängen und hielt den Kopf gesenkt. Sie hatte Peter das Geleite gegeben. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, schirmte mit der Hand die Augen und blickte zu den Pappeln der Landstraße hinüber. Heimgekommen, stieg sie still zu ihrer Kammer hinauf.

Rosa ward von Mitleid tief ergriffen. Jetzt, da sie selbst litt, konnte sie keinen leiden sehen. Sie verstand fremdes Leid zu gut, und es quälte sie wie eigenes. Sie wollte Martha trösten, wollte ihr sagen, daß es vielleicht so besser sei, wie es gekommen. Sie war ja weise geworden und konnte andere warnen.

Am folgenden Morgen saßen Rosa und Martha im Garten auf der Schaukelbank. Der Tag war schwül. Die Sonne brannte auf die wenigen Beete des Gartens nieder, und die Luft war voll warmer Narzissen- und Holunderdüfte. Martha, bleich, dunkle Ringe unter den Augen, biß an einem Grashalm und hörte zu, während Rosa sehr eindringlich sprach: »Sehen Sie, Martha, wir glauben zuweilen: Jetzt ist die Liebe da, weil wir so ungeduldig auf sie warten, immer von ihr sprechen. Nachher ist es dann doch keine Liebe gewesen, und wir sind unglücklich und können es nicht mehr ändern.« Rosa hielt inne. Sie staunte über ihre eigenen Worte. Erst im Sprechen war ihr das, was sie sagte, klargeworden. Martha aber schüttelte sachte den Kopf: »Manchen mag es so gehen«, meinte sie, »aber bei mir, Fräulein, glaube ich nicht, daß es besser kommen wird. Wie es ist, so wird es bleiben. Für mich ist das gut genug. Ich habe mich an den Peter gewöhnt, bin drei Jahre mit ihm gegangen; nun wäre es für mich zu hart, ohne ihn auszukommen, drum geh ich ihm nach. Nach zwei Jahren kann die Tante uns das Geld schicken, bis dahin werden wir zusehen, wie wir auskommen.«

Rosa errötete. Es war ihr, als hätte sie vorhin dem Mädchen ihre eigene elende Liebesgeschichte verraten, und Martha antwortete ihr mit dem festen, überlegenen Ausdruck ihrer einfachen Liebe: »Es wäre zu hart für mich, ohne ihn auszukommen. Drum geh ich ihm nach.« – Oh, sie hatte tausendfach recht! Rosa beugte demütig das Haupt vor dieser ruhigen Liebe – die sich ihrer selbst bewußt war.

»Anfangs wollte er nichts davon hören«, fuhr Martha fort. »Nun ja, die Männer, wissen Sie, Fräulein, die gewöhnen sich leichter an eine andere. ›Was wirst so weit fortgehen?‹ sagte er. Er glaubt vielleicht, ich werde ihm dort zur Last sein. Aber als er ging, hat er doch geweint: ›Es tut mir leid, von dir zu gehen‹, sagte er. Gott! Der wird Augen machen, wenn ich übermorgen früh bei ihm bin! Morgen abend geh ich aus, übermorgen früh geht das Schiff ab, so bin ich noch zur rechten Zeit in der Stadt. – Ja, was soll man machen«, schloß Martha, seufzte und ging ins Haus.

Am Abend der Trennung gaben Rosa, Grethe und Georg, der Schreinergesell, Martha das Geleite. Martha trug ihr gewöhnliches blaues Kleid; um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch geschlungen; ihre geringe Habe war in ein Bündel geschnürt. Grethe weinte und fragte ihre Schwester immer wieder, ob sie auch genug zum essen mit auf den Weg genommen habe. »Ach, da war auch der Käse, den der Georg mir gestern brachte, daß ich dir den nicht mitgegeben habe! Georg, lauf nach Hause...«

»Nein, laß es nur!« sagte Martha. »Ich habe selbst einen Käse mitgenommen.«

»Solche Birken gibt es wohl drüben nicht«, bemerkte Georg, wies auf das Birkenwäldchen und lachte verlegen.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Martha.

Die Wiese hatten sie quer durchschritten und näherten sich den Pappeln. »Weiter darf das Fräulein nicht gehen«, meinte Martha.

Sie nahmen Abschied. Martha küßte alle, auch Georg. Niemand weinte. Die Feierlichkeit des Augenblickes bedrückte diese einfachen Menschen und machte sie befangen. So wurde denn der Abschied kurz und wortarm.

Als Martha fortging, wandte sie sich noch einmal um, lächelte und sagte: »Grüßt mir den Onkel, und den Hans auch. Behüte euch Gott.« Die anderen schauten ihr eine Weile nach, dann gingen auch sie heim. Grethe drückte ihr Gesicht fest an den grauen Rockärmel ihres Schreinergesellen und schluchzte. Sterne standen schon am Himmel, ganz blaß und silbern in der Dämmerung der Frühlingsnacht. Drüben in den Birken schlugen zwei Nachtigallen, und in der Ferne hörte man abgerissene Töne eines Liedes. Rosa blieb stehen und horchte. War es nicht Martha, die sang? Dort ging sie ja. Hinter den Pappeln stand am Himmel noch ein Streifen milden Goldes; von diesem lichten Streifen hob sich Marthas Gestalt scharf ab; ihr Bündel in der Hand, das flatternde weiße Tuch auf dem Kopf, schwankte sie ein wenig beim Gehen – und von dort kamen die Töne. Rosa mußte ihr nachschauen, bis sie in der Dämmerung verschwand. »Martha«, sagte sich Rosa, »geht mutig ihrer Liebe nach. Mir ist nie der Gedanke gekommen, meiner Liebe nachzugehen; ich habe ja auch nur jenes dumme Ding gekannt, das wir in der Schule ›verliebt sein‹ nannten. Nur, daß ich diese alberne Schulliebe ernster nahm als die anderen. Aber bei Martha – da ist's schön!«

Frau Böhk erfuhr erst am nächsten Morgen Marthas Flucht. Anfangs sagte sie nur: »Hol sie der Kuckuck!« Plötzlich aber stieg ihr die Aufregung zu Kopf. Sie tobte gegen jeden, von dem sie annahm, er habe um Marthas Geheimnis gewußt; sie wollte sich sogar an die Gerichte wenden. Aber auch dieser Zorn verrauchte bald, und Marthas Name wurde von Frau Böhk nie mehr genannt.


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