Eduard von Keyserling
Fräulein Rosa Herz
Eduard von Keyserling

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Vierzehntes Kapitel

Die Hütte des alten Raute lag hart am Fluß, halb in die steilen Sandmassen des Ufers hineingebaut. Sie bestand aus grauen, moosbewachsenen Brettern, besaß nur ein ganz kleines Fenster und eine morsche Türe, die an einer Angel hing. Auf einigen Handvoll Gartenerde neben der Hütte gediehen Levkojen, Georginen und wohlriechende Erbsen. Oben, auf dem Dach, unter dem Schutz der Sandlehne, machte sich ein Holunderstrauch breit und klopfte mit seinen blau-schwarzen Fruchttroddeln an das Fenster. Vor der Hütte, auf dem Fluß, lag das lange Boot für die Überfahrt, in dem der alte Raute einen jeden, der über das Wasser wollte, an einem von einem Ufer zum anderen gespannten Seil hinüberschob. Außer dem Gewerbe des städtischen Fährmanns besaß Raute als Einnahmsquelle noch zwei kleine Kähne, die er vermietete, und all dieses mußte ihm ein behagliches Leben dort unter seinem Holunderstrauch sichern, denn er zeigte ein zufriedenes braunrotes Gesicht unter den kurzgeschnittenen Haaren, und die grünlichen Augen hatten den klaren Blick der Leute, die gewohnt sind, auf weiter Fläche in einen freien Horizont hinabzugehen. Er lehnte am Türpfosten seiner Hütte und rauchte. Vor ihm, auf einem großen Stein, saß Rosa. Sie hatte sich heute abend schön gemacht und trug ihren neuen Strohhut, einen runden Knabenhut mit schwarzen Bändern. Die Füße in den ausgeschnittenen Schuhen streckte sie von sich, um die schönen blau- und weißgestreiften Strümpfe sehen zu lassen, die sie sich gestern heimlich bei Paltow gekauft hatte.

»Sie dürfen nie von hier fortgehen, Herr Raute?« fragte Rosa höflich. »Sie müssen immer warten, ob nicht jemand über den Fluß will, nicht wahr?«

»Ach was!« erwiderte Raute, ohne die Pfeife aus dem Munde zu nehmen. »Ich dürfte schon! Am Nachmittag will keiner hinüber. In der Früh und um die Mittagszeit, da gibt es zu tun. Aber, mein Gott, ich geh nicht fort. Was hab ich in der Stadt zu suchen? Ich bin froh, wenn ich meine Ruh habe.«

»Hier bei Ihnen sieht man den Himmel gut«, meinte Rosa. »Sind Sie, Herr Raute, dort – weit jenseits gewesen, dort, wo der Mann geht?«

»Dort? ja.«

»Was ist dort?«

»Oh, nichts, Fräulein! Arme Leute wohnen dort. Es geht ihnen schlimm, die Steine und der Sand lassen nichts Rechtes aufkommen.«

»Und der Fluß?« fragte Rosa weiter. »Wohin geht der? Sind Sie den schon ganz hinabgefahren?«

»Freilich! In dem Kahn da. Drei Tage sind wir gefahren, eh wir an die See kamen.«

»An die See?«

»Ja, es geht gut. Nur eine halbe Stunde unterwärts ist eine schlimme Stelle. Vor Gestrüpp und Schilf kommt man nicht weiter. Da muß der Kahn auf dem Lande fortgezogen werden.«

»Wenn man also immer weiter und weiter hinabfährt, dann kommt man ins Meer?«

Raute blinzelte bejahend mit den Augenlidern.

»Dort liegt es also?« Rosa zeigte mit dem Finger den Fluß hinab und zuckte mit den Wimpern. Das Wort »Meer« erweckte in ihr die Vision einer weiten, lichtblauen Fläche, die wogt und rauscht und flimmert. Sie kannte es nicht, aber das Wort allein machte sie froh, erregte ein kitzelndes, unruhiges Wonnegefühl in der Herzgrube. Dann mußte sie wieder über ihren Finger lachen, der klein und kindisch in die Ferne, auf jenes große, unbekannte Wunder – das Meer – hinausdeutete.

Endlich kam Ambrosius den Abhang herab. Er jodelte wie ein steyrischer Bua und schwenkte seinen Hut. Rosa blieb sitzen und streckte dem Geliebten kameradschaftlich die Hand entgegen. »Grüß dich Gott!« sagte Ambrosius und drückte die dargereichte Hand. Sie gefielen sich beide in der geschmackvollen Zurückhaltung dieses Händedruckes. Er gab ihrer Liebe das Ansehen einer ausgemachten Sache.

»Bleiben wir hier?« fragte Ambrosius.

»Wie du willst«, erwiderte Rosa. »Aber hier ist's gut.« Die gefühlvolle Schlaffheit, in der sie auf dem Stein saß, behagte ihr. Die Hände auf den Knien, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Blicke in den Glanz des Abendhimmels verloren.

»Nein – nein«, sagte Ambrosius, schüttelte den Kopf und dachte nach. Da, jetzt hatte er's! »Wir fahren mit dem Kahn den Fluß hinaus.«

»Ja Amby, wenn du willst?«

Raute richtete den Kahn her, und als alles bereit war, führte Ambrosius Rosa zum Ufer hinab, stieg zuerst in den Kahn und wollte Rosa hineinhelfen; Raute aber schob ihn ruhig beiseite, nahm Rosa in seine Arme, hob sie in den Kahn und setzte sie auf die Bank vor dem Steuer nieder. Ambrosius lachte gezwungen. Er wußte nicht, ärgerte es ihn, daß er Rosa nicht selbst trug, oder daß er selbst nicht wie Rosa getragen ward.

»Halten Sie sich hübsch in der Mitte«, mahnte Raute, »dabei haben Sie nicht viel Arbeit. Hinab geht es ohnehin von selbst.«

»Mir brauchen Sie das nicht zu sagen«, antwortete Ambrosius gereizt. »Stoßen Sie nur den Kahn ab.«

Mit leisem Geplätscher schoß das Boot in den Fluß hinaus, und Ambrosius begann eifrig und sehr regelrecht zu rudern. Er gab viel darauf, die Ruder genau zu gleicher Zeit in das Wasser zu tauchen und sie flach und geräuschlos wieder herauszuziehen. Bei jedem Ruck stemmte er seinen kräftigen, strammen Oberkörper gegen die Ruder, wölbte die Brust, ließ seine Muskeln spielen, freute sich seiner jungen Glieder. Die Anstrengung rötete seine Wangen und gab seinen Augen einen gesunden, fröhlichen Glanz. »Eins, zwei – eins, zwei« zählte er und schaute stolz zu Rosa hinüber. »Das geht gut, nicht? Oh, das Rudern versteh ich. Ich war immer der Erste in unserem Ruderklub. Die Hauptsache ist: das Ruder flach hinein – ein Ruck – flach heraus. Kein Geplätscher und Spritzen. So: eins – zwei, eins – zwei. Komm, willst du's lernen?«

»Jetzt nicht«, erwiderte Rosa. Sie sah lieber zu und fühlte sich gar so wohl dort an ihrem Steuer. Der Kahn wiegte sie sachte hin und her, ein kühles, feuchtes Wehen schüttelte an ihren Haaren. Vor ihr die Wasserbahn mit ihrem metalligen Glanz, in den die Abendwolken eine welke Rosenfarbe mischten, wie das Spiegelbild einer Hand auf einer Stahlklinge. Die Häuser am Ufer, mit ihren geöffneten Fenstern, glichen großen durchlöcherten Kästen, in deren schwarzen Öffnungen sich fleischfarbige Punkte regten, grelle Farbenflocken aufleuchteten. Dazu kam ein beständiges Klingen über das Wasser, Stimmen, Hundegebell, Glockengeläute, und es schien Rosa, als empfingen die Töne vom Wasser eine hellere, sanftere Note, etwas von dem leisen Rauschen am Kiel des Bootes. Endlich war ihr, auf dem Hintergrunde des bunten Abendhimmels, der rege, kräftige Junge mit seinem geröteten Gesicht, der feuchten Stirn, den regelmäßigen, elastischen Bewegungen der geraden Schultern – ja, so war es recht! Rosas Augen wurden feucht und blickten vor sich hin in der verträumten Geistesabwesenheit der Frauen, die sich wohlfühlen und nur ihrer Empfindung lauschen.

Ambrosius war des Ruderns müde. »Wir kommen auch so fort«, meinte er, ordnete seine Krawatte, warf Rosa eine korrekte Kußhand zu, kreuzte die Arme über den Rudern und sagte ernst: »Ja, ich wollte von unseren Angelegenheiten sprechen. Es ist wirklich zu dumm...«

»Jetzt nicht«, unterbrach ihn Rosa.

Verwundert blickte Ambrosius auf. Zum zweiten Mal schon kam dieses bittende, weiche: »Jetzt nicht.« Was war's? Rosa saß ja da, als ginge sie die ganze Welt nichts an. Aber die Unannehmlichkeiten, die Lanin ihm bereitete, waren doch gewiß wichtig genug.

»Wie du meinst«, versetzte er, zuckte die Achseln, schwieg und dachte nach. Was war es nur? Machte die Kahnfahrt wirklich solch einen Eindruck auf Rosa? Poetisch war es, gewiß; er hatte aber den Kopf so voll von Lanin, daß er das ganz vergessen hatte. Und Rosa? Teufel, war das Kind heute schön! Er begann das ernste Gesichtchen sorgsam und gründlich zu studieren und freute sich darüber, daß es seine Blicke zu fühlen schien. Sah er auf die Lippen, dann lächelten sie, als striche jemand sachte mit einer Feder über sie hin, schaute er auf die Augen, dann zuckten die Wimpern.

Diese gefühlvolle Versunkenheit imponierte Ambrosius; er wollte auch zeigen, daß er poetisch gestimmt sei. »Sieh doch, Schatz«, rief er, »die rosa Wolke dort, wie blaß sie geworden ist. Ich beobachte sie schon lange, sie wird immer blasser, sie stirbt. Wirklich, sie kommt mir vor wie eine junge Dame, die langsam stirbt. Nicht wahr?« Rosa nickte; sie fand es auch, daß die Wolke einem sterbenden jungen Mädchen zu vergleichen war. »Die Wolken beobachten«, fuhr Ambrosius fort, »war von jeher meine Passion, da konnte ich stundenlang träumen. Und dann – hast du bemerkt, wie die Stadt sich im Wasser spiegelt? Schau, da sieht man's noch. Allerliebst! Das dort ist das Kollhardtsche Haus; man sollte meinen, es stehe hart am Fluß, und doch ist es ein gutes Stück davon. Eine reizende optische Täuschung! Ach ja, überhaupt die Natur, sie ist meine einzige Erquickung.«

Der Fluß machte eine scharfe Biegung. Die Ufer wurden flach, und dichtes Erlengesträuch trat hart bis an das Wasser heran. Unter den Bäumen dämmerte es bereits, und die Tagesschwüle hielt hier länger stand. Zuweilen langte ein Zweig in den Kahn hinab und streifte Rosas Wange; die krausen, graugrünen Blätter fühlten sich trocken und noch warm von der Sonne an. Der Strom verlor hier seine Kraft, kaum merklich bewegte sich der Kahn fort, und das Wasser ringsum war, wie ein Teich, ruhig und schwarz. Wasserspinnen und Mücken zeichneten ihre Arabesken auf den dunklen Grund, die Ufer atmeten einen warmen Heugeruch aus, und die Luft war voll des durchdringenden Geklingels der sommerlichen Insekten.

»Hier ist's gut.« Ambrosius knöpfte sich die Weste auf, streckte sich im Boot aus, den Kopf auf die Bank gestützt, schaute empor und lachte. »Wie das seltsam ist, wenn man so emporschaut. Oh, oh, schwindlig wird man. Es ist, als flögen viele kleine blanke Punkte durcheinander, immer schneller, immer schneller.«

»So?« Rosa mußte das auch sehen. Eilig erhob sie sich und streckte sich neben Ambrosius hin. So lagen sie beide auf dem Rücken, den Blick in das sanfte Blau des Himmels verloren, und bei dem starren Emporschauen zu dem lichten Raume wurden sie von einem angenehmen Gefühl des Schwindels geschüttelt und gewiegt.

»Es ist, als hinge man frei in der Luft – ganz frei – – ganz – ganz«; Rosa wiederholte dieses Wort, dehnte es, ließ es klingen, »ganz... ganz«, als wollte sie mit der Eintönigkeit ihrer Stimme der Unermeßlichkeit dort oben erwidern,

»Willst du jetzt die Geschichte hören?« sagte Ambrosius plötzlich.

»Welche?« versetzte Rosa zerstreut.

»Welche? Wie kannst du so fragen? Ich meine, ob du hören willst, was Lanins gesagt haben?«

»Ja – erzähle deine Geschichte.«

»Meine Geschichte?«

Wirklich, sagte Rosa das nicht, als ginge sie die ganze Angelegenheit nichts an? Wo hatte sie nur plötzlich diesen hochmütigen Protektionston her? Er richtete sich auf und wollte etwas sagen – schwieg aber und starrte Rosa verwundert an. Wie verzückt lag sie da – die Augen weit aufgerissen, die Lippen halb geöffnet, die Wangen heißrot und rings um sie auf der Bank das Flimmern der blonden Haare.

In Ambrosius' Augen regten sich blanke gelbe Punkte, er kniete auf den Boden des Kahnes nieder, beugte sich über Rosa und bedeckte sie mit stürmischen Liebkosungen, die ihr wehetaten; anfangs lachte sie, noch halb bewußtlos vom Emporstarren, sie wehrte sich nur matt und stieß kurze ausgelassene Rufe aus, wie ein Schulmädchen, das sich mit seiner Kameradin hetzt; plötzlich aber ward sie ernst, stellte sich gerade auf die Füße, strich sich das Haar aus dem heißen Gesicht und sagte leise: »O nein!«

»Nein – nein«, wiederholte Ambrosius. Er kniete noch auf dem Boden des Kahnes, ließ die Arme schlaff niederhängen und hob zu Rosa ein böses und dennoch klägliches Gesicht auf, wie ein Kind, dem man sein Spielzeug fortgenommen hat. »Warum nicht?« fragte er. Rosa blickte zur Seite und streifte nachdenklich die Blätter von den Erlenzweigen, endlich lächelte sie wieder, strich die Falten ihres Kleides glatt und setzte sich auf die Bank. »Komm! Sei vernünftig! Erzähle, was haben Lanins gesagt?« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, nahm seine Hände in die ihren und streichelte sie: »Komm« – sie versuchte es, ihn an den Rockaufschlägen emporzuziehn. Er aber fand in ihr wieder jene überlegene Protektionsmiene, die ihn verdroß und der er sich – er fühlte es wohl – dennoch beugen mußte. Seufzend ließ er sich emporziehen, ließ sich den Hut aufsetzen und die Krawatte zurechtrücken und nahm die ruhige, einschmeichelnde Zärtlichkeit, die Rosa über ihn breitete, mit der Würde eines Pascha entgegen.

»Erzähle also.«

Ambrosius ließ sein weltmännisches Räuspern hören, um sich wieder die vornehme Haltung eines ernsten Kommis zu geben, und lächelte verächtlich: »Gott, Lanins! Ich kümmere mich verdammt wenig darum, was die sagen!«

»Was ist denn geschehen?«

»Nun, ihre Gesichter waren sauer genug. Ich sah sie erst beim Nachtmahl. Der Onkel, die Tante und Sally saßen um den Tisch mit Gesichtern – so traurig, als läge ein Toter statt des Kalbsbratens auf der Schüssel. Ich wurde natürlich sehr kühl empfangen, und während des Essens sprach keiner; nur die Tante flüsterte zwei, drei Mal: ›Nimm doch, Ambrosius! Hier ist Butter, Ambrosius! Ich will, daß jeder Hausgenosse genug hat – unter allen Umständen.‹ Gott, und wie sie das herausbrachte! Scheußlich!«

»Und Sally?« fragte Rosa.

»Sally war noch immer in ihrer Nachtjacke und mit den Knollen. Sie war sehr erhitzt; ich glaube, sie hatte geweint. Appetit hatte sie keinen, das weiß ich! Allerhand kleine Speisen standen für sie ganz allein auf dem Tisch, und die Tante jammerte: ›Kind iß, nimm davon; es wird dir guttun.‹

Sally aber schüttelte nur den Kopf und seufzte. Nicht um eine Million, glaube ich, hätte sie vor mir einen Bissen über die Lippen gebracht. Das sollte rührend sein. Auf mich hat es gar keinen Eindruck gemacht. Gemütlich war die Lebenslage nicht, das kannst du dir denken. Gleich nach dem Nachtmahl wollte ich verschwinden, da flötete die Tante: ›Lieber Ambrosius, der Onkel hat mit dir zu sprechen‹, dabei schaute sie den Onkel an, als wollte sie sagen: ›Nun – marsch – vorwärts.‹ Die dumme Sally nickte dazu. Im Zimmer des Onkels ging die Predigt an. Dreiviertel Stunden hat er gesprochen, ganz glatt. Ich glaube, er hatte es aufgeschrieben und auswendig gelernt. Was er da sagte, habe ich natürlich nicht behalten. Von der Würde des Hauses war die Rede, dann lobte er sich selbst, endlich die Sally.«

»Von mir war nicht die Rede?«

»Warte nur, dann kam deine Reihe. ›Eine junge Person‹, sagte er, ›die ihrer eigenen Würde uneingedenk, meiner Seel'!‹ Er sagte uneingedenk, wo der das nur her hat? ›Eine Person, die wir aus dunklen Verhältnissen in unsere Kreise gezogen haben, und zwar aus Mitleid, hat dich zu einem unbedachten Schritt verleitet. Ich hoffe, du wirst einsehen, daß diese junge Person, nach den letzten Ereignissen, zu tief steht, um der geeignete Umgang für den Neffen des Hauses Lanin zu sein. Ich hoffe, du wirst einsehen, daß das Unmoralische eines solchen Verhältnisses dich kompromittiert, mich kompromittiert, uns kompromittiert.‹«

Ambrosius ahmte seinen Onkel ganz treffend nach, dabei erließ er Rosa jedoch nichts von all den Beleidigungen, die Herr Lanin gegen sie ausgestoßen hatte. Vielleicht war das eine Art Rache für die Protektionsmiene und für die Macht, die das Mädchen sich über ihn angeeignet hatte. Aber als er bemerkte, daß Rosas Augen voller Tränen standen, ward er bestürzt. »Du wirst doch nicht über solchen Unsinn weinen?« rief er hastig.

»Das könnte mir einfallen!« erwiderte Rosa und lächelte; die Tränen aber hörten nicht auf zu fließen. Ambrosius' Erzählung betrübte sie, es schien ihr, als erniedrigten Lanins Worte sie vor Ambrosius, als könnten sie diese von ihm trennen, und ohne ihn – was dann? Traten die großen, schönen Ereignisse nicht ein, die sie erwartete, an die sie fest glaubte; ging Ambrosius und ließ sie allein, oh, dann fielen Lanins, Klappekahls – alle über sie her, hetzten und beschimpften und quälten sie; dann wurde sie eine niedrigstehende Person. Nein! Ambrosius durfte sie nicht verlassen, auf ihn war ihr Leben gestellt – das verstand sie plötzlich und umklammerte ihn fest. Ambrosius war tief gerührt, es schmeichelte ihm, daß Rosa so leidenschaftlich von ihm Besitz ergriff, und dennoch mischte sich in dieses Gefühl ein gewisses Bangen, wie es ein schwaches Gemüt einem kraftvollen Willen gegenüber empfindet, dem es unterliegen wird. »Weine nicht, Geliebte«, sagte er mit dem weichsten Baritonklang seiner Stimme. »Wir halten zusammen. Ich beschütze dich, ich bin – hm – sozusagen – dein ein und alles.«

»Ja, Amby«, erwiderte Rosa und küßte ihn fest auf die Lippen. »Zeig, wie machte Sally, als sie ihre kleinen Speisen nicht essen mochte?«

Unter den Erlenstämmen war es finster geworden. Ein kühler Luftzug flüsterte in den Blättern, und hinter den Bäumen erschollen langgezogene Töne, ein rauhes, melancholisches Gejohle der heimziehenden Arbeiter. »Jetzt fahren wir weiter«, schlug Rosa vor, und Ambrosius machte sich munter ans Rudern.

Jenseits der Erlenbüsche ward der Fluß breiter, zu beiden Seiten dehnte sich flaches Land aus, abgemähte Wiesen, hie und da ein Kornfeld, wie ein Stück gelber Seide, in der Ferne ein Dorf, in dem rote Lichtpünktchen erwachten. Immer mehr weitete der Fluß sich aus. Die Blätter der Wasserrosen bildeten blanke Inseln auf dem Wasser, oder eine Gesellschaft von Schachtelhalmen stand beieinander – viele dünne grüne Linien. Das Gewirre der Pflanzen nahm zu. Wasseriris, Kalmusstauden, Kolbenrohr gesellten sich zu den Schachtelhalmen und Wasserrosen, der ganze Fluß war nur noch ein weites Feld für diese wunderlichen Halme, allerort spitze, zitternde Blätter und Stengel, weit – weit – bis dort an die Wiese, die voller Vergißmeinnicht und Ried stand.

In dem Röhricht festgefahren, fast ganz von ihm überdeckt, hielt der Kahn; er konnte nicht weiter. Rosa jubelte. Hier war es schön! Nichts als nickende grüne Spitzen und ein heimliches Flüstern. Hinter dem schwarzen Streif des fernen Waldes stieg der Mond auf – übergroß, und dichte Wolkenstriche legten sich horizontal über den Himmel, schmal und rot, wie Messerstiche. Vor diesem gewaltsamen Aufleuchten wurden die Sterne matt und flimmerten ängstlich.

»Ganz prächtig!« bemerkte Ambrosius. »Hier kann man in des Wortes verwegenster Bedeutung sagen: großartig.«

Schön war es, und dennoch machte es das Herz schwer. Rosa lehnte ihren Kopf an Ambrosius' Schulter und blickte stumm den fortflatternden Enten nach. Als Ambrosius sich räusperte, um eine Rede zu halten, legte sie ihm die Hand auf den Mund. Schweigen wollte sie; dasitzen und zusehen, wie der Mond langsam den Himmel hinaufstieg, wie die Nacht sich über das Land breitete, wie die Spitzen des Rohrs dunkel und regungslos wurden; lauschen wollte sie den Tönen ringsum, dem Gurgeln des Wassers, dem schläfrigen Singsang des Erdkrebses, lauschen und nichts denken. Jenseits dieser stillen, verträumten Welt lag etwas Hartes, Schmerzhaftes, an das Rosa nicht denken mochte. Immer hätte sie so dasitzen mögen, zugedeckt von grünen Halmen, eingeschläfert vom halblauten Sprechen der Sommernacht.

Ambrosius hatte den Arm um die Schultern seiner Geliebten gelegt. Der Mond, die schöne Nacht begeisterten ihn und machten ihn zärtlich; der starke Duft der Wasserpflanzen, die grüne Dämmerung, in die das Schilf den Kahn hüllte wie grüne Vorhänge ein Ehebett, das heimliche Rauschen, das wie heimliches Küssen, wie abgerissene Laute eines lüsternen Geheimnisses klang. All dieses stieg ihm zu Kopf, erhitzte sein Blut. Mit heißen Lippen und zitternden Händen tastete er an dem Mädchen hin. Rosa wehrte ihn ruhig ab. »Still!« sagte sie. »Sieh, Amby, du mußt das nicht tun. Sie sollen nicht recht behalten. Wenn du wüßtest, wie traurig ich bin, wie sehr ich mich vor morgen, vor Lanins, vor allem fürchte, du würdest nicht solche Dummheiten machen. Weißt du, wir müssen fort, ganz fortgehen, dann tue ich alles, was du willst. Aber zuerst fort; wir beide ganz allein. Du heiratest mich schnell, und wir gehen in eine große Stadt, wo du Dichter werden kannst. Nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Ambrosius ein wenig betroffen.

»Morgen schon kommst du zu uns und sprichst mit Papa«, fuhr Rosa eifrig fort. Dieses Mädchenhirn, mit seiner Virtuosität im Träumen und Pläneschmieden, hatte sich bereits alles zurechtgelegt. Lanins sollten sehen, daß sie nicht tief unter Ambrosius stand; geachtet, reich und glücklich wollte sie sein.

Ambrosius nahm diese Eröffnungen mit Unbehagen entgegen. Es ging ihm durch den Sinn, daß er diese Sache anders aufgefaßt habe, als Rosa sie zu nehmen schien. Er sah Schwierigkeiten, Streit, allerhand Widerwärtigkeiten daraus entstehen. Aber das schöne Mädchen an seiner Seite erregte zu sehr seine Sinne, er fühlte sich wie im Rausch, und wie im Rausch erschien ihm jedes Hindernis klein und jedes Unternehmen ausführbar. Um Rosa zu besitzen, konnte er alles tun, das war sein einziger klarer Gedanke. »Ja – wenn du denkst«, sagte er leise. Er hätte zu allem ja gesagt.

»Wir wollen uns sehr – sehr liebhaben«, versetzte Rosa feierlich. Ambrosius tat ihr leid; wie betrübt er dasaß, mit seinen roten Wangen und heißen Händen.

»Du darfst nicht traurig sein«, tröstete sie ihn und küßte mütterlich seine Stirne, dann mahnte sie zur Heimfahrt.

Mühsam mußte der Kahn sich aus dem Gestrüpp hinausarbeiten. Wie harte, kalte Finger schlug das Schilf an Rosas Gesicht und badete es in Tau. Im Fahren pflückte sie Wasserrosen, die schwer von Tropfen waren, und wenn Rosa ihre Hand in das Wasser tauchte, mitten in die Pflanzendecke hinein, erschrak sie, denn die schlüpfrigen Wurzeln waren weich und lau wie Menschenhände.

Mit großem Kraftaufwand mußte Ambrosius gegen den Strom rudern, und er verrichtete seine Arbeit schweigend und ingrimmig. Plötzlich schaute er auf und sagte: »Du meinst also, wir sollen fort?«

»O ja, weit fort!«

»Gut.«

Rosa lächelte; gewiß, sie wollte noch sehr glücklich werden.


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